Von Oktober 1992 bis
März 1993 war ich nach meiner Frühverrentung als Lehrstuhlvertreter an der Universität
Rostock tätig. Im Folgenden fasse ich Eindrücke zusammen, die ich während
dieser Zeit über diese ostdeutsche Stadt und ihre Umgebung gewann. Die
Bemerkungen über die Universität Rostock werden ergänzt durch Hinweise auf das
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der Stadt Rostock. Ich hatte
diesen Artikel im Jahre 1993 geschrieben, um ihn in einer süddeutschen
Tageszeitung zu veröffentlichen. Es kam jedoch nicht dazu. Der Beitrag
verfolgte das Ziel, Verständnis zu wecken für die derzeitige Situation dieser
Region und ihrer Menschen und damit das Zusammenwachsen zwischen alten und
neuen Bundesländern zu fördern. In einem Nachtrag ergänze ich den Bericht mit
einigen Details aus heutiger Sicht.
Universität im Übergang
Die Rostocker
Universität wurde im Jahre 1419 gemeinsam von dem Herzog von Mecklenburg und
dem Bischof von Schwerin gegründet. Sie gehört damit zu den ältesten Universitäten
Deutschlands. Die stark mit dem Schicksal der Hansestadt Rostock verbundene und
von ihr finanziell gestützte Universität gilt außerdem als die älteste
Universität Nordeuropas. Ihr aus dem Jahre 1867 stammendes Hauptgebäude liegt
mitten in der Innenstadt, am schönsten Platz der Stadt. Ihr fachlicher
Schwerpunkt lag traditionell auf den Gebieten der Geisteswissenschaften
(Philosophie, Theologie, Jura, Wirtschaftswissenschaft), der Naturwissenschaft
(Mathematik, Physik) und vor allem der Medizin. Erst während der DDR-Zeit kamen
die Fächer Schiffstechnik und Agrarwissenschaft dazu.
Wie alle ostdeutschen
Universitäten durchlief auch Rostock nach der Wende, also nach der Auflösung
der DDR, eine turbulente Phase der Umwandlung. Für gewisse Fachbereiche, wie
Jura und Wirtschaftswissenschaft, wurde der gesamte Lehrkörper entlassen und
durch Wissenschaftler aus Westdeutschland ersetzt. Für die anderen Fachbereiche
erfolgte die personelle Erneuerung im Rahmen eines mehrstufigen Verfahrens. In
der ersten Stufe beurteilte eine aus örtlichen Vertretern zusammengesetzte
Ehrenkommission das politische Verhalten in der DDR-Zeit. Wer hierbei als
unbescholten eingestuft wurde, musste sich anschließend einem
berufungsähnlichen Verfahren unterziehen, in dem von einem stark von
westdeutschen Professoren beeinflussten Gremium die wissenschaftliche
Qualifikation festgestellt wurde. Abhängig von dem Ergebnis dieser Bewertung
konnte man sich dann auf die übrig gebliebenen Planstellen bewerben.
Inzwischen ist dieser
über drei Jahre dauernde schmerzhafte Prozess weitgehend abgeschlossen und eine
neue Personalstruktur geschaffen, die nur noch durch einzelne Berufungen
ergänzt wird. Dieser Weg war unvermeidbar, da nur so das Vertrauensverhältnis zwischen
den Kollegen und der wissenschaftliche Ruf als Universität wiederhergestellt
werden konnte. Nach der Maxime des Rostocker Rektors gelten fortan wieder
fachliche Kompetenz und persönliche Integrität als allein ausschlaggebende
Kriterien für eine Laufbahn an seiner Universität.
Die Universität
Rostock ist die größte Universität innerhalb des Bundeslandes
Mecklenburg-Vorpommern und hat nach der Wende einige andere Einrichtungen wie
etwa die bekannte Hochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow integriert. Die
Universität hat ganz deutlich unter den wirtschaftlichen Beschränkungen dieser
Region zu leiden. Dies drückt sich einmal darin aus, dass Mittel aus dem
Landeshaushalt sehr spärlich fließen, wenn es darum geht die einzelnen
Studiengänge und Fachbereiche mit den nötigen Planstellen zu versehen, es zeigt
sich aber auch bei der Bereitstellung von Mitteln für Reisen (einschl. Tagungen
und Fachveranstaltungen) und Anschaffungen. Gerade das Problem der Reisemittel
wird als sehr belastend angesehen. Die meisten der übernommenen Hochschullehrer
sind solche, die zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen nicht reisen durften
(nur systemtreue Wissenschaftler gehörten zum sogenannten Reisekader). Jetzt
dürfen sie zwar, können aber nicht wegen finanzieller Beschränkungen. Dies
fördert natürlich nicht den Gedankenaustausch mit den Kollegen in
Westdeutschland und dem westlichen Ausland und die fachliche Gleichstellung
innerhalb Deutschlands.
Eine gewisse Unsicherheit
ergibt sich für die Universität auch daraus, dass sich das Studierverhalten der
Studenten wandelt. Zu DDR-Zeiten wurden Gymnasiasten von staatlicher Seite sehr
stark dahingehend beeinflusst, genau die Studienrichtungen und Studienorte
auszuwählen, die von der wirtschaftlichen Planung eingerichtet waren. Diese Art
der Regelung fällt heute weg. Als Beispiel sei auf die Schiffstechnik
verwiesen. Dieser Studiengang spielte zur DDR-Zeit eine große Rolle für die
Region, da Rostock das Zentrum der ostdeutschen Werften war. In dieser Branche
waren über 100.000 Beschäftigte tätig. Heute ist die schlechte
Beschäftigungslage in diesem Industriezweig eines der Hauptprobleme der Region.
Die verminderten Berufsaussichten wirken sich auf die Nachfrage nach dem Studiengang
Schiffsbau aus. Da hilft auch nicht, dass die Universität Rostock über die
bestausgestatteten Schiffsbau-Versuchsbassins ganz Europas verfügt.
Abb. 2: Am
Warnow-Ufer
Im Falle der Universität
Rostock kommt erschwerend hinzu, dass die meisten ihrer Gebäude sich zwar in
guter stadtnaher Lage befinden, dass die bauliche Substanz aber sehr herunter
gekommen ist. Hier sind Investitionen größeren Ausmaßes erforderlich. Der
Rektor, die Gründungsdekane der einzelnen Fakultäten und viele der übernommenen
oder neuberufenen Professoren und Mitarbeiter, betreiben den schwierigen
Umwandlungsprozess von einer sozialistischen Kaderschule zu einer Stätte freier
Lehre und Forschung mit teilweise aufopferndem Einsatz. Ihnen ist zu wünschen,
dass ihre Arbeit Erfolg hat und nicht noch durch von außen hereingetragene
Probleme erschwert wird. Die Verwaltungsorgane der Universität sind sehr bemüht
sich mit den für sie neuen Regelungen und Vorschriften vertraut zu machen, die
im Wesentlichen aus Westdeutschland übernommen wurden.
Die Studenten stehen
ihren westdeutschen Kommilitonen nicht nach, wenn es um fachliche
Aufgeschlossenheit, Leistungen in den Lehrveranstaltungen oder Mitarbeit in der
studentischen Selbstverwaltung geht. Was in den Diskussionen mit mir natürlich
besonders interessierte, waren Fragen nach der Situation der westdeutschen
Studenten und den beruflichen Möglichkeiten nach Abschluss des Studiums. Ich
stellte auch ein überdurchschnittliches Interesse für Industriepraktika im
Westen oder für Auslandsstudien fest, etwas was mich nicht wunderte. Ist es
doch eine natürliche Reaktion auf die lange Zeit der Isolierung.
Gesellschaft im Wandel
Das vorrangigste
Problem des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist die hohe Arbeitslosenrate. Sie
liegt im Landesdurchschnitt bei 17%, in einigen Orten geht sie sogar hoch bis
zu 24%. Dieses Problem wird am häufigsten genannt, wenn über die sozialen
Folgen der Wende gesprochen wird. Zur DDR-Zeit gab es dieses Problem angeblich
nicht. Alle Leute wurden beschäftigt, auch wenn der Betrieb eigentlich weitere
Stellen nicht benötigte. Rentabilität spielte ja keine Rolle. Obwohl im
jetzigen Sozialsystem die Sorge um die
materielle Existenz entfällt, stellt Arbeitslosigkeit für den einzelnen dennoch
eine große psychologische Belastung dar,
an der manche zerbrechen können. Wegen der eindeutigen Ausrichtung auf den
Schiffsbau gibt es in Rostock ganze Stadtteile, für die Arbeitslosigkeit das
vorherrschende Thema darstellt.
Dass versucht wird,
den Übergang nicht zu krass werden zu lassen, zeigte das Universitätsinstitut,
an dem ich arbeitete. Hier wurden ein halbes Dutzend nicht-wissenschaftlicher
Mitarbeiter weiterbeschäftigt, die zu DDR-Zeiten für die Selbstversorgung des
Instituts unentbehrlich waren, deren Dienstleistungen man aber heute eher von
externen Firmen beziehen würde, nämlich Pförtner, Schlosser, Gärtner, und dgl.
Fast im gleichen
Atemzug mit der Arbeitslosenrate wird von besorgten Bürgern auf das Problem der
wachsenden Kriminalität verwiesen. Sie mag zum Teil ihren Grund in der großen
Arbeitslosigkeit haben, hat ihn aber sicher auch in einer gewissen Orientierungslosigkeit
und falschverstandenen Freiheit. Besonders Jugendliche waren früher durch
Schule, staatliche Jugendorganisationen, Sport und Wehrdienst sehr stark in ein
Netz gesellschaftlicher Beziehungen eingebunden. Vieles davon fiel auf einen
Schlag weg. Unterlagen früher alle, die nicht selbst Teil des
DDR-Machtapparates waren, denselben Einschränkungen und Entbehrungen, so tritt
jetzt der Wunsch auf sich abzusetzen und zu profilieren.
Mit einem Anflug von
Verzweiflung erzählte mir die Leiterin einer Realschule, welche Probleme sie
mit Jugendlichen hat. Nach jedem Wochenende darf sie Fensterscheiben und Türen
an ihrer Schule reparieren lassen, die von ihren eigenen Schülern mutwillig
zerstört wurden. Stolz zeigen Schüler im Unterricht die aus einem naheliegenden
Einkaufszentrum entwendeten Artikel. Im Gegensatz zu früher hätten die Lehrer heute keinerlei
Macht. Im DDR-System waren Schüler auf ihre Lehrer angewiesen, wenn sie eine
Lehrstelle oder einen Studienplatz haben wollten. Andererseits wurden Lehrer zur
Verantwortung gezogen, wenn Schüler aus der Reihe tanzten. Jetzt ist alles
Sache der Eltern und diese sind selbst verunsichert und haben ihre eigenen
Probleme. Dabei ist unser westdeutsches Elternrecht für sie ein aufgestülpter
Begriff, mit dem sie keine Erfahrung haben, und nicht alle Lehrer wissen, wie
sie mit ihrer neuen Rolle fertig werden sollen.
Mein Rat, die
marodierenden Schüler anzuzeigen und ihnen „die Zähne des Rechtsstaats“ zu
zeigen, stieß auf wenig Gegenliebe. Der Einwand, die fallen doch unter das
Jugendrecht und kommen ungeschoren davon, verriet eine gewisse Hilflosigkeit.
Wie schnell man sein Rechtsempfinden ändert, bewiesen ja auch Besucher aus dem
Westen. „Bei uns parken sie auf Rasenstreifen, etwas was sie zuhause nicht tun
würden“ hieß es. Nicht selten hört man auch die schon fast nostalgisch
klingende Bemerkung: „Früher zur DDR-Zeit herrschte Ordnung, da gab es genug
kontrollierende Volkspolizisten, an die man sich wenden konnte“. Dass diese
Ordnung die Ordnung eines Polizeistaates war, wird oft vergessen.
Lichtenhagener Krawalle
Man kann heute kaum
noch über Rostock reden, ohne nicht auf die Ereignisse des August 1992
einzugehen. Seither wird Rostock von vielen Außenstehenden gleichgesetzt mit
Fremdenhass und Rechtsradikalismus, ein Image, gegen das sich jeder Rostocker,
den ich kennen lernte, vehement wehrt. Lichtenhagen ist eine der großen
Trabantenstädte im Norden von Rostock, die während der DDR-Zeit aus dem Boden
gestampft wurden, um für die vielen Arbeiter und Angestellten, die in der
Schiffsbauindustrie eingesetzt wurden, Wohnraum zu schaffen. Wegen der
Bedeutung des Schiffsbaus für die DDR gehörten Werftarbeiter zu einer
privilegierten Berufsgruppe. Heute ist der größte Teil von ihnen arbeitslos und
manche leiden unter einem Gefühl des Selbstwertverlusts. Der ganze Stadtteil
besteht aus einheitlichen, in der berühmten DDR-Plattenbauweise errichteten
Wohnblöcken. Ein Dorf Lichtenhagen liegt außerhalb der Siedlung und besteht aus
einer kleinen Kirche und einigen Bauernhäusern.
Mitten in dieser
Siedlung befand sich in einem der Wohnblocks die Zentrale Aufnahmestelle des
Landes für Asylbewerber. Ihre Kapazität reichte vielleicht für 500 Menschen,
das Gebäude war aber bereits mit über 1000 Personen belegt, und ein Abreißen
des Zuwandererstroms war nicht abzusehen. Die meist aus Vietnam stammenden
Einwanderer begannen nach und nach im Freien zu kampieren und den Siedlungskern in Beschlag zu legen. „Sie
bettelten und lärmten, liebten sich und belästigten Frauen und Kinder, die Grünflächen
versanken in Unrat und Kot“, berichtet ein Anlieger. Eingaben der Nachbarn an
die Stadtverwaltung und das Land blieben unbeantwortet. Mit Zeitungsanzeigen
kündigten Bürgerinitiativen an, dass sie, wenn die Behörden nicht reagieren
werden, das Problem auf ihre Art lösen würden.
Abb. 3: Ansteckplakette
der Gegendemonstration
An den
Demonstrationen und Krawallen der ersten Abende, so sagten mir Augenzeugen,
waren primär Rostocker Jugendliche beteiligt. Ihr Protest sei eher gegen das
Versagen der Behörden, also des Staates, als gegen die Ausländer gerichtet
gewesen. Einige der Anwohner, davon wurde dank des Fernsehens die ganze Welt
Zeuge, spendeten dabei offensichtlich Beifall. An den folgenden Tagen hätten
dann Rechtsradikale aus Berlin und Hamburg das Geschehen bestimmt. Die
Ungeschicklichkeit der Polizei und des verantwortlichen Innenministers, der
inzwischen seinen Hut nehmen musste, hat die Situation noch verschlimmert.
Inzwischen steht ein
leerer Wohnblock mit ausgebrannten Fenstern als Menetekel mitten in
Lichtenhagen. Die Aufnahmestelle für Asylbewerber wurde in eine frühere Kaserne
der Volksarmee 10 km außerhalb von Rostock im Wald von Hinrichshagen verlegt.
Sie ist mit einem Maschenzaun umgeben und wird von Grenzschützern bewacht. Eine
Lösung des Asyl-Problems ist damit zwar nicht erreicht, die unmittelbare
Auswirkung auf die Stimmung in der Bevölkerung (die „soziale Brandgefahr“) ist
jedoch abgewendet. Leider sind schlimmere Exzesse als die von Rostock
inzwischen auch anderswo zu beklagen. Zu Beginn des Wintersemesters 1992 fand
eine Gegendemonstration in der Stadt Rostock statt, an der ich mit einigen
Kollegen zusammen teilnahm. [Eine ausführliche Beschreibung der Lichtenhagener Krawalle gibt es bei Wikipedia]
Aufschwung der Wirtschaft
Trotz aller Klagen sind die Zeichen des
wirtschaftlichen Aufschwungs nicht zu übersehen. Bei einem ersten Besuch in
Rostock vor zwei Jahren fielen mir außer den Tiefbauarbeiten der Telekom vor
allem die Provisorien der Banken auf. Inzwischen gibt es fast in jeder Straße
einige Häuser, die renoviert sind.
Abb. 4:
Renoviertes Lagerhaus
Zum größten Teil
handelt es sich dabei um Geschäftshäuser, besonders Banken, Reisebüros und
Versicherungs-Agenturen, ab und zu ist aber auch schon ein Wohnhaus dabei.
Immer noch scheint ein gewisser Nachholbedarf an Konsumgütern zu bestehen. Das
erklärt, warum sich alle Angebote von Haushaltsartikeln, Kleidung und Schuhen
großer Aufmerksamkeit erfreuen. Die Preise erschienen mir niedriger als bei uns
in Süddeutschland. Sie scheinen dem Lohnniveau angepasst zu sein, das im
öffentlichen Bereich zur Zeit 65% des westdeutschen Tarifs ausmacht. In der Vorweihnachtszeit
glich die gesamte Innenstadt Rostocks einem riesigen Weihnachtsbazar.
Die Jahrmarktaussteller
aus der ganzen Bundesrepublik schienen sich dort zu treffen. Die Anzahl der
Restaurants für eine Stadt der Größe Rostocks ist immer noch gering. Es kommen
aber fast wöchentlich neue dazu. Sie bieten eine Vielzahl lokaler Gerichte, wobei
Fischgerichte wegen der Küstenlage eine besondere Rolle spielen. Besonders groß
ist der Mangel an Hotelzimmern. Die wenigen dem westlichen Niveau angepassten
ehemaligen Interhotels (Neptun, Warnow) verlangen Preise, die sich nicht
einmal alle Geschäftsreisenden aus dem Westen leisten können. Eine Besonderheit
Rostocks ist ein im Hafen fest verankertes russisches Hotelschiff, das einige
Hundert Betten anbietet. Einige erschwingliche Hotels gibt es auch, sowie eine
große Anzahl guter Privatzimmer.
Nichts drückt den
wirtschaftlichen Wandel auffallender aus als die Explosion des Autoverkehrs,
der über die Stadt hereinbrach. Jeden Morgen und Abend staut sich der
Berufsverkehr an den Einfallstraßen zur Stadt und auf den wichtigsten innerstädtischen
Verkehrsadern. Der ruhende Verkehr belegt jede mögliche und unmögliche freie
Stelle in der Stadt. Die Grünflächen um die Wohnsiedlungen fielen ihm
größtenteils zum Opfer. Gleichzeitig Folge oder Grund der Motorisierung sind
die Supermärkte auf der grünen Wiese.
Dass die Stimmung bei
den Ostdeutschen dennoch sehr negativ ist, ist sicherlich auf zum Teil
überzogene Erwartungen zurückzuführen. Man kannte die Bundesrepublik primär aus
dem Fernsehen und leitete daraus seine Vorstellungen ab, was die Gleichheit der
Lebensbedingungen anbetraf.
Abb. 5: Supermarkt Aldi
Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass
die Erwartungen an die Möglichkeiten des Staates in die Wirtschaft
einzugreifen, überbewertet wurden. Ich hatte Gelegenheit den Oberbürgermeister
der Stadt zu fragen, was seiner Ansicht nach den Aufschwung am meisten
behinderte. Seine Antwort: „Die 50.000 Verfahren, die allein in Rostock
anhängig sind, um die Eigentumsfrage am Grundbesitz zu klären“. Es ist nicht
anzunehmen, daß dieses Problem sich mit einem Federstrich lösen lässt.
Kultur und Landschaft
Für eine Stadt ihrer
Größenordung (200.000 Einwohner) bietet Rostock eine erstaunliche Vielfalt an
kulturellen Einrichtungen. Einen hohen Stellenwert im Bewusstsein der Rostocker
haben seine Theater. Bereits an meinem ersten Tag hatte ich Gelegenheit mich an
einer Unterschriftensammlung zur Erhaltung der Oper zu beteiligen. Sowohl im
Großen wie im Kleinen Haus des Theaters konnte ich je eine hervorragend
gelungene Vorstellung besuchen.
Dass eine dieser
Aufführungen dem angeblichen Verständigungsproblem zwischen West- und
Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung gewidmet war, hatte seinen besonderen
Reiz. Es handelte sich um das Stück „Doppeldeutsch“ von Harald Mueller, das in
Rostock uraufgeführt und bisher noch von keiner anderen deutschen Bühne
übernommen wurde. Die Vereinigung einer westdeutschen mit einer ostdeutschen
Firma, gefeiert im Klubhaus eines Golfplatzes in Mecklenburg-Vorpommern, ist
der Anlass, bei dem der Autor die Empfindlichkeiten von westdeutschen
Erfolgstypen und ostdeutschen Verlierern aufeinandertreffen lässt. Obwohl die
Dialoge nur so von hintergründigen Bemerkungen sprudelten, ging man allerdings
etwas subtiler miteinander um als bei Wolfgang Menges „Motzki“ [einer
Fortsetzungsserie in der ARD].
Ein Erlebnis besonderer
Art war ein Konzert von Studenten des Instituts für Musikwissenschaft der
Universität, die für die Darbietung ihrer Fertigkeiten und Talente den
Barocksaal des herzoglichen Palais benutzten konnten. Auch von den
Orgelkonzerten in der größten Kirche der Stadt, der gotischen Marienkirche,
scheinen viele Rostocker begeistert zu sein. Beeindruckt hat mich auch das
kulturhistorische Museum im ehemaligen Kloster zum Hl. Geist, das neben vielen
historischen Bildern und Relikten gerade eine Ausstellung über einen berühmten
Sohn der Stadt, nämlich den Napoleon-Bezwinger Gebhard Leberecht von Blücher
zeigte. Dem maritimen Erbe der Stadt ist das Schifffahrtsmuseum gewidmet, das
die Entwicklung der Seeschifffahrt von ihren historischen Anfängen bis in die
Tage der DDR-Kriegsflotte illustriert. Es hat mich nicht verwundert, dass ich
immer wieder Rostocker traf, die mit Begeisterung und Stolz von ihrer Stadt
sprachen. Zwar fühlte sich Rostock übergangen, als es darum ging, wer Landeshauptstadt
wird, Rostock oder Schwerin. Ich kann mich des Eindrucks jedoch nicht erwehren,
dass man dies wettmacht durch eine „Jetzt erst recht“-Einstellung, die keinen
Zweifel lässt, wo das intellektuelle und kulturelle Zentrum dieses Landes
liegt.
Bezüglich der
Geographie Mecklenburg-Vorpommerns denkt man zuerst an die Insel Rügen und an
die mecklenburgische Seenplatte. Beides sind Juwele in der deutschen
Landschaft. Rügens Kreidefelsen bei Stubbenkammer hat der Maler Caspar David
Friedrich bereits vor über 150 Jahren verewigt. Sie sehen heute noch haargenau
so aus wie damals. Die Seen von Plau, Müritz und Krakow sind Oasen der Ruhe,
ähnlich den Seen Finnlands.
Abb. 6:
Alleenstraße
Einmalig sind auch
die langen Baumalleen, wie sie sich an vielen Stellen des Landes finden, oder
die Türme und Fassaden in norddeutscher Backstein-Gotik, etwa in Grimmen,
Demmin und Stralsund. In unmittelbarer Nähe zu Rostock bestechen mehrere
bekannte Badeorte mit herrlich weiten Stränden, allen voran Warnemünde (das zu
Rostock eingemeindet wurde). Aber auch
Graal-Müritz, Heiligendamm und Kühlungsborn besitzen einen unverwechselbaren
Charme. Selbst im Winter sind Strandwanderungen hier eine willkommene Erholung.
Die herrlichen Pinienwälder würzen mit ihrem Duft die Brise, die vom Meer
kommt. Heiligendamm gilt übrigens als das älteste aller deutschen Ostseebäder
und feiert in diesem Sommer den 200. Jahrestag seiner Gründung durch den
mecklenburgischen Herzog.
Da zur DDR-Zeit ein
großer Teil der Halbinsel Darß für die Parteiprominenz als Feriengebiet
reserviert oder als Hafenanlage für Patrouillenboote angelegt war, sind wir
heute in der glücklichen Lage, dass es dort kilometerlange Küstenzonen gibt,
die sich als wahre Naturlandschaften mit seltener Pflanzen- und Vogelwelt darbieten.
Abb. 7: Darßer Ort
Ein Teil dieses
Gebiets (Darßer Ort bei Prerow) wurde inzwischen zu einem Nationalpark erklärt,
wodurch der Zersiedlung ein Riegel vorgeschoben wurde. Dennoch steht reichlich
Fläche zur Verfügung, die Erholungssuchenden eine weitgehend unberührte
Küsten- oder Boddenlandschaft bietet. Ein Abstecher zum Dom von Bad Doberan
oder zum Bernstein-Museum in Ribnitz-Damgarten ist dann geboten, wenn das
Wetter mal nicht ganz mitspielt.
Bleibender Gesamteindruck
Rostock ist mehr als
nur eine Reise wert. Die alte Hansestadt hat viel zu bieten. Sie ist ein
attraktives Zentrum im deutschen Norden, das Hamburg, Bremen und Lübeck kaum
nachsteht. Es ist eine Stadt mit alter Tradition, mit einem starken
Lebenswillen und umgeben von einer Landschaft, die ihresgleichen sucht. War
diese Umgebung schon im Winter ein Genuss, wie viel reizvoller wird sie erst im
Sommer sein. Dann kommen auch die Segler, die Campingfreunde und alle andern
Freizeit- und Badegäste voll auf ihre Kosten. Wirtschaftlich und sozial gesehen
geht die Stadt durch eine schwierige Phase. Zu allem Unglück hat sie auch noch
ein Image-Problem dazu bekommen, was vielleicht dazu führt, dass einige meinen,
diese Stadt meiden zu müssen. Damit aber geschieht Rostock Unrecht. Deshalb ist
jeder Besucher eine Ermutigung und eine Hilfe.
Nachtrag
Februar 2016
Der
obige Bericht fasst Eindrücke zusammen, wie sie 1993 bei mir bestanden. Sie sind durch das unmittelbare Erleben gefärbt. Zwei Jahrzehnte später fallen
mir noch einige andere Dinge ein, wenn ich an Rostock zurückdenke. Ich will sie
stichwortartig beschreiben.
- Meinen Aufenthalt in Rostock verdankte ich Karl Hantzschmann, dem langjährigen Dekan der Rostocker Informatik. Wir sind heute, auch nach seiner Emeritierung, noch im freundschaftlichen Kontakt. Zu den übrigen Professoren des Fachbereichs, entstand ein teils herzliches, teils kühles Verhältnis. Mit allen neuberufenen Kollegen und den 4-5 übernommenen Professoren, die die Evaluierung ohne Probleme überstanden hatten, hatte ich sofort einen kollegialen Umgang. Mir war das Büro und das Sekretariat eines der früheren Koryphäen der Fakultät zugewiesen worden, der nicht übernommen worden war. Als Computer-Grafiker war er an strategisch wichtigen Projekten des DDR-Schiffbaus beteiligt gewesen. Tauchte er im Institut auf, war er höflich und verbindlich. Nach seinem Besuch brach seine frühere Sekretärin schon mal in Tränen aus. Bei 2-3 Kollegen musste ich mich zurückhalten. Sie neigten dazu, die jetzigen Verhältnisse eher kritisch zu sehen. Einer, mit dem ich öfters zusammentraf, konnte partout nicht verstehen, dass jetzt ein Theologe das Kultusministerium leitete.
- Der Rektor der Universität und die Verwaltung gaben sich echt Mühe, mir entgegenzukommen und mir zu zeigen, dass ich willkommen war. Dass alle gehaltlichen Fragen und alle Spesenabrechnungen über eine Stelle im fernen Neubrandenburg liefen, wunderte mich zwar, aber es funktionierte.
- Die Studierenden beeindruckten – wie im Bericht ausgeführt – durch Interesse am Stoff und durch Aufgeschlossenheit gegenüber Fragen des Arbeitsmarkts und der Karriere. Eine einzige Klausur machte mir Ärger. Ein Student und eine Studentin, die ich immer zusammen gesehen hatte, hatten exakt dieselben Fehler in der Klausur. Ich schloss daraus, dass sie voneinander abgeschrieben hatten. Ich fragte den Vorsitzenden der Prüfungskommission, was ich machen sollte. Der schlug vor, beiden die Note ‚Ungenügend‘ zu geben. Als ich dies den beiden Prüflingen mitteilte, schauten sie mich groß an. Sie seien dazu erzogen worden, alles im Kollektiv zu machen, hielten sie mir entgegen. Der Wessi-Professor war jedoch nicht bereit, dies als Entschuldigung gelten zu lassen
- Bei den Angestellten des Rechenzentrums, der technischen Dienste und der Bibliothek hatte ich einen Stein im Brett. Ich konnte sehr leicht dringend benötigte Programme oder Bücher besorgen. Der Institutsbibliothek stiftete ich rund 100 Bücher. Es waren dies Freiexemplare von Verlagen oder Dupletten aus der Firmenbibliothek. Als ich wegging, lud mich die Leiterin der Institutsbibliothek zu einem Kerzenfrühstück in der Bibliothek ein. Der Tisch war nur für zwei Personen gedeckt. Das übrige Personal der Bibliothek war nicht eingeladen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte die Bibliothekarin, dass ihr Gatte als Kapitän zu See fahre und sie daher viel allein sei. Bei meiner Frau und einigen Kollegen, denen ich dies erzählte, kam der Verdacht auf, dass meine häufigen Bibliotheksbesuche mehr als nur fachliche Gründe hatten.
Sehr amüsant dieser Bericht. Sie hatten auch mir einen Lehrauftrag vermittelt und ich erinnere mich gerne an die Diskussion mit den Studierenden. Sie erschienen mir wesentlich fitter als z.B. ihre überwiegend frustrierten Kollegen an der BA in Stuttgart. Als sehr unangenehm aber habe ich den Kontakt mit der Polizei in Warnemünde in Erinnerung, wo ich einmal gewohnt habe. Leider treffe ich ähnliche Typen auch heute immer noch bei der Deutschen Bahn.
AntwortenLöschenSehr interessanter, persönlicher Bericht!
AntwortenLöschenKlaus Küspert aus Jena schrieb:
AntwortenLöschenich hätte das eine oder andere vielleicht etwas mehr "weichgespült" formuliert, aber es stellt sicher die damalige Situation insgesamt recht gut dar.
Klaus Küspert aus Jena schrieb:
AntwortenLöschendie interessiertesten, konzentriertesten, wissbegierigsten Studenten, die ich je hatte, waren jene in meiner Lehrveranstaltung (Lehrauftrag, damals noch als IBMer) im Februar 1991 an der TU Chemnitz: "Implementierung von Datenbanksystemen" - inhaltlich angelehnt an das entsprechende Buch (1. Auflage) von Theo Härder. Die Veranstaltung - nun vor exakt 25 Jahren - wurde ermöglicht noch durch das Programm "Hochschulförderung DDR" aus dem Wiedervereinigungsjahr 1990. Ihr tatsächliches Zustandekommen war ja nur knapp danach.
Karl Hantzschmann aus Dresden schrieb:
AntwortenLöschenJa so war das damals! Schade, dass Sie Ihren Text damals nicht in die Öffentlichkeit gebracht haben. Da ich zwar nicht mehr in Rostock lebe, aber immer noch jedes Jahr wenigstens einmal dort aufkreuze, ist man natürlich sehr erfreut, was sich in der historisch kurzen Zeit so alles getan hat. Vieles würden sie heute gar nicht mehr wiedererkennen. Aber es bleibt natürlich auch immer noch viel zu tun. Mecklenburg-Vorpommern gehört ja nun mal nicht zu den stärksten Ländern im Osten.