Über die Entstehung der Welt zu
spekulieren, reizte Menschen immer. Zuerst versuchten Theologen überzeugende
Antworten zu geben. Nach ihrem Rückzug übernahmen theoretische Physiker diese
Aufgabe. Die spezielle Branche heißt Kosmologie. Der englische
Wissenschaftsjournalist Brian
Clegg (*1955) hat sich auch dieses
Themas angenommen, Sein Buch Vor dem Urknall, das 2013 erschien, geht im lockeren Stil allen erklärenden Theorien
nach, die Menschen bisher in die Welt setzten. Der Untertitel heißt: Eine Reise hinter den Anfang der Zeit. Das
Buch selbst zu lesen, würde ich nur empfehlen, wenn Sie Unterhaltung durch
Bücher suchen, Sie aber für Kriminal- oder Liebesgeschichten wenig übrig haben.
Fremde Heranführungen
Auf dem Buchrückdeckel äußerte sich der
Verlag wie folgt:
Wenn das Universum aus dem Urknall
hervorging – woher kam er dann, und was war davor? Die Idee des «Big Bang» hat
mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, aber noch ist sie die favorisierte
Theorie über den Beginn des Universums – möglicherweise nicht mehr lange. In
«Vor dem Urknall» setzt sich der gefeierte Autor Brian Clegg mit dieser
bemerkenswerten Theorie auseinander und gibt einen einzigartigen Überblick über
die Ursprünge des Universums: von den frühesten Schöpfungsmythen über die
Erkenntnis, dass die Milchstraße nur eine von vielen Galaxien ist, bis hin zu
den anhaltenden Diskussionen über Schwarze Löcher und Dunkle Materie. Dabei
gelingt es dem Autor, den Leser unterhaltsam und verständlich durch einen
ganzen Parcours verblüffender kosmologischer Phänomene zu führen. Aber dann
stellt Clegg das Konzept des Urknalls selbst auf den Prüfstand und wirft auch
die philosophische Frage auf, warum wir nicht aufhören können, den Ursprung des
Universums immer wieder neu zu überdenken. Populärwissenschaft vom Feinsten,
informativ, kontrovers, ungeheuer fesselnd – und eine Reise hinter den Anfang
der Zeit.
‚Gottes letzter Schlupfwinkel‘ so war
2012 eine Rezension im Bild der
Wissenschaft von Wolfgang Steinicke überschrieben. Als Physiker hob er die
Schwächen und diverse Fehler des Buches hervor. Am Schluss schrieb er:
Keine Frage, es muss erlaubt sein, über
den Tellerrand hinaus zu denken, so wie es einst die Bewohner der
"Erdscheibe" vorgemacht haben. Die Sache endet für mich aber da, wo
nur noch mit mathematischen Tricks gearbeitet wird. Diesen unseligen Pfad beschreitet
seit geraumer Zeit die Stringtheorie, und jüngst hat sogar der angesehene Roger
Penrose in seinem Buch "Zyklen der Zeit" ein Beispiel geliefert. … Dann
kann man gleich mit Max Tegmark darüber spekulieren, ob nicht ein
"mathematisches Multiversum" die oberste Stufe der Schöpfung sei. In
dessen Parallelwelten sind alle möglichen Formeln Realität – also auch
"Kraft = Masse mal Beschleunigung hoch Zehn". Was würde wohl der alte
Newton dazu sagen? Was dagegen wirklich gefragt wäre, sind substanzielle Gedanken
über das Wesen von Raum, Zeit und Materie im Hier und Jetzt. Theoretiker, für
die das Wort "Experiment" ein Fremdwort ist, sollten aus den
theoretischen Sackgassen lernen und sich lieber auf die vielen physikalischen
Baustellen unseres Heimatuniversums konzentrieren. Brian Clegg gibt schmerzfrei
zu, dass die Theorie des "Big Bang" mehr Fragen aufgeworfen, als
beantwortet hat. Also bitte: Wo sind die Antworten?
Einige Leseüberbleibsel
Beim Lesen von Cleggs Buch vor einigen
Wochen fielen mir einige Aussagen und Zitate besonders auf. Ich gebe sie zunächst
unkommentiert wieder:
- Schöpfungsmythen gibt es in allen
Weltreligionen.
- Um zu verstehen, was vor dem Urknall
war, helfen uns die Theorien über das, was nach dem Urknall geschah.
- Jede Wissenschaft ist entweder Physik
oder Briefmarkensammeln (Ernest Rutherford).
- Eine Theorie ist nur so gut wie die
Daten, die sie aufrechthalten. Nur ein schlechter Wissenschaftler stellt Daten
in Frage.
- Galaxien überschreiten nie die
Lichtgeschwindigkeit hinsichtlich ihres Raums. Sie können sich aber anderen
Galaxien gegenüber schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen.
- Alles ist aus einem Elektron-Positron-Paar
entstanden, das sich total in Energie verwandelte. Diese hat sich später in
Teilchenpaare umgewandelt (Ernest Sternglass)
- Die Inflation des Universums entstand,
da die Gravitation sich nach 10 hoch -35 Sekunden umdrehte. Das Universum wurde
10 hoch 35 Mal größer. Das Ganze wurde durch Quanteneffekte bzw. Fluktuationen verursacht
(Alan Guth).
- Das Hintergrundrauschen gilt als
Relikt des Urknalls. Es ist eine Temperaturstrahlung von 3 Grad Kelvin.
- Die COBE-Sonde macht Messungen von der
Erde, die mit 600.000 Stundenkilometern durch das Weltall saust.
- Wir haben zu viel Lithium. Außerdem werden
dunkle Materie und Energie benötigt für das Urknall-Modell.
- Die String-Theorie muss richtig sein,
weil viel Geld und Karrieren investiert werden. Sie ist nicht falsifizierbar.
- Die Fluchtgeschwindigkeit von der Erde
ist 11,2 km/s. Sie kann geringer sein, wenn nach dem Abschuss weiter beschleunigt
wird.
- Anstatt des Urknalls können es auch zusammenstoßende
Branen gewesen sein (Neil Turog, Paul Steinhardt). Oder aber das Universum
wurde auf einem Strudel zurückgespült (Christiano Germani).
- Möglich ist auch eine Große Quetsche
(Big Crunch) vor dem Urknall. Sie verformte das Universum aber nur teilweise.
- Die Informationsspeicherungskapazität des
Universums ist unzerstörbar (!!!). Das folgt aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik.
Die Entropie ist ein Maß für Unordnung. Sie kann in einem geschlossenen System
nur zunehmen oder gleich bleiben, nicht abnehmen. Die Erde ist kein geschlossenes
System, da sie von der Sonne mit Energie versorgt wird. [Ist das Universum wirklich ein geschlossenes System?]
- Man kann Buchstaben
durcheinanderbringen, aber nicht die Klötze verlieren, auf denen sie
gespeichert sind (!!!). Fällt Materie in ein Schwarzes Loch, muss die Information
darüber im Schwarzschild-Horizont gespeichert werden.
- Wenn zwischen verschränkten Teilchen
keine Entfernung besteht, dann gibt es auch keine Probleme.
- Im Quantenpotenzial ist Entfernung ein
verzichtbares Konzept (David Bohm).
- Es gibt keine definitive Antwort zu der
Frage, was vor dem Urknall war.
Zusammenfassung
Wie gesagt, dieses Buch wirft viele
Fragen auf, die es unbeantwortet lässt. Ob es zu einigen dieser Fragen inzwischen
konkrete Antworten gibt, weiß ich nicht. Vielleicht reizt dies die Physiker
unter den Lesern, meine Wissenslücken zu füllen. Für zusätzliche Theorien habe
ich derzeit keinerlei Bedarf, auch wenn sie noch so ausgefallen sind.
Hans Diel aus Sindelfingen schrieb:
AntwortenLöschenIn den letzten Wochen habe ich auch zwei Bücher über Kosmologie und Urknall gelesen. Im Wesentlichen gehen die beiden Bücher, die ich gelesen habe, in die gleiche Richtung wie das von Ihnen gelesene Buch von Brian Clegg, nämlich (1) Beschreibung der Urknalltheorie inklusive neuerer Theorie-Ergänzungen und neuerer Beobachtungen aus der Astronomie und (2) Beschreibung, wo es noch Widersprüche und offene Fragen gibt. Die zwei Bücher sind:
[1] Hans Jörg Fahr: Mit oder ohne Urknall, das ist hier die Frage. 2016
[2] Helmut Satz: Kosmische Dämmerung – Die Welt vor dem Urknall. 2016
Fahr ist emeritierter Professor für Astrophysik. Entsprechend ist sein Buch voll von Beschreibungen der vielen neueren Beobachtungen und Entdeckungen, die es in den letzten Jahrzehnten in der Astronomie gab. Der Titel seines Buches zeigt schon, dass Fahr große Zweifel hat an der Richtigkeit der Urknalltheorie. Der genauere Inhalt des Buches gibt mir eher das Gefühl, dass Fahr prinzipiell an einen Urknall glaubt (oder sogar an weitere „Mini-Urknalle“), dass er jedoch zu viele offene Fragen bei der traditionellen Urknalltheorie sieht. In seinem letzten Kapitel „Lässt sich das Ganze überhaupt denken?“ wird Fahr philosophisch und äußert ̶ für mich überzeugend ̶ Zweifel, ob der Mensch jemals in der Lage sein wird, aus den wenigen historischen Daten eine überzeugende Theorie des Urknalls oder von etwas Ähnlichem zu entwickeln.
Satz ist emeritierter Professor der Quantenfeldtheorie. In seinem Buch liegt der Schwerpunkt auf der Einbettung der verschiedenen neueren Erweiterungen der Urknalltheorie in die Quantenfeldtheorie. Er beschreibt sehr ausführlich verschiedene Phasen und Phasenübergänge für die Zeit vor, während und nach dem Urknall im Licht der Quantenfeldtheorie. Für mich wurden damit Theorien. die ich bisher als „sehr spekulativ“ eingeordnet habe (beispielsweise die Inflationstheorie) auf den Status „einigermaßen fundiert spekulativ“ angehoben. Satz erwähnt auch an mehreren Stellen, dass die Theorien noch nicht allgemein akzeptiert sind und dass auch dann, wenn die Theorien akzeptiert würden, noch viele Fragen offen sind. Er ist jedoch insgesamt deutlich optimistischer als Fahr. Er nennt das, was er beschreibt, die „neue Kosmologie“, die einige Probleme der „alten Kosmologie“ gelöst oder umgangen hat.