Mittwoch, 27. Dezember 2017

Zwei Völker, die ihre Revolutionen überlebten

Wenn darüber gesprochen wird, was wir Deutschen nicht können, dann taucht oft die Bemerkung auf, dass wir nie eine richtige Revolution zustande gebracht hätten. Eigentlich bin ich darüber sehr froh. Was uns da erspart blieb, wird klar, wenn ich mir Frankreich und Russland ansehe. Rein zufällig las ich im letzten Quartal zwei Bücher, die sich mit zwei großen zurückliegenden und überwundenen Revolutionen beschäftigten, der französischen von 1789 und der russischen von 1917. Beide Ereignisse hinterließen ihre Spuren in der europäischen Geschichte. Sie strahlten auf ganz Europa aus. Man kann beide als fiebrige Erkrankungen ganz Europas ansehen.

Beispiel Frankreich

Ernst Schulin (1929-2017) war Professor für Neuere Geschichte in Freiburg. Sein Standardwerk Die Französische Revolution (2013, 307 S.) erhielt kurz vor seinem Tode eine Neuausgabe, in der aktuelle Forschungsergebnisse verarbeitet waren.

Die Literatur über die Französische Revolution fülle Bibliotheksregale. Das meiste sei politisch sehr einseitig. Die Revolution würde fast immer rechtfertigend erklärt. Zwei Autoren fallen aus diesem Rahmen. Alexis de Tocqueville versuche eine Art von Analyse. Vor allem ziehe er Vergleiche mit der ganz anders gearteten Entwicklung in den USA. Hippolyte Taine (‚Les origines de la France contemporaine‘) hat sein Werk in sechs Bänden gegliedert und bemühe sich um eine detaillierte und ausgewogene Darstellung. Edmund Burkes Betrachtungen aus der Sicht eines britischen Konservativen aus dem Jahre 1790 ('Reflections on the Revolution in France') wurden in ganz Europa sehr beachtet, so auch von dem jungen Clemens von Metternich. Für Karl Marx sei es schwer gewesen zu akzeptieren, dass die politische vor der sozialen Revolution kam.

Die Revolution brach nicht von einem Tag auf den andern aus ─ so die Sicht der Historiker. Sie hatte eine Jahrzehnte lang währende Vorgeschichte. Es gab immer mehr Beschwerdehefte (frz. doleances), schließlich führten Missernten zu höheren Brotpreisen. König Ludwig XVI. und sein Premier Jacques Necker wollten die Steuern erhöhen und riefen dazu eine Volksversammlung ein. Es erschienen dazu nur wenige Adelige und Pfarrer. Hauptsächlich waren es Vertreter des Dritten Standes (frz. tiers), also des gemeinen Volks. Die Versammlung nannte sich trotzdem Generalversammlung (frz. assemblé generale).

Der Marquis de Mirabeau verhinderte, dass der König die Versammlung auflöste. Die Angst vor deutschem und schweizerischem Eingreifen führte zur Aufstellung von Bürgerwehren. Durch den Sturm auf die Bastille (7/1789) verschaffte das Volk sich Waffen und befreite (nebenher) fünf Gefangene. Als der König nachgab, begann der Adel zu fliehen. In einigen Städten, so in Straßburg, wurden die Stadtoberen ersetzt. Als das Gerücht eines Adelskomplotts um sich griff, trieb dies die Bauern auf die Straße. Sie griffen Schlösser an, vor allem um die dort befindlichen Lehens-Urkunden zu vernichten. Eine Diskussion über die Privilegien des Adels führte (8/1789) zur Abschaffung der Feudalität, mit allen Privilegien. Die Versammlung begann damit, allgemeine Menschenrechte zu definieren wie dies 1776 in Virginia geschehen war.

Es waren die Frauen, die (10/1789) den König zwangen seinen Sitz von Versailles nach Paris zu verlegen. Dort bildete sich ein Bretonischer Club im Jakobiner-Kloster. Seine Mitglieder strebten eine Republik an. Ähnliche Aktivitäten gab es in 40 Städten des Landes. Es erschien eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften mit politischem Inhalt. Der König gestand ein, dass der sein Amt von Gottesgnaden und aufgrund der Staatsverfassung besitze. Es kam zur Abschaffung der Zünfte und einem Streikverbot der Handwerker.

Die Departements erhielten mehr Selbstverwaltung. Der Sprecher des jetzt Jabobiner genannten politischen Klubs, Maximilien de Robespierre, forderte das Wahlrecht auch für Leute ohne Besitz. Charles-Maurice de Talleyrand, der Bischof von Auton, erklärte, dass der Klerus nicht der Eigentümer von Kirchengütern sei. Daraufhin wurden diese der Nation (11/1789) zur Verfügung gestellt. Dafür erhielt die Kirche Schuldscheine (frz. assignats). Alle  religiösen Orden wurden (2/1790) aufgelöst; Priester wurden zum Eid auf den Staat verpflichtet. Die Jahresfeier des Bastille-Sturms fand mit einer großen Feierlichkeit (7/1790) auf dem Marsfeld statt. Die Messe wurde von Talleyrand zelebriert. Vertreter anderer Völker nahmen teil, so der  Baron von Cloots aus Kleve für Preußen. Auch Alexander von Humboldt und Georg Forster waren als Privatpersonen dort.

Im Jahr danach kam es zum Fluchtversuch des Königs (7/1791). Er wurde verraten und bei Varennes eingefangen. In Pillnitz beschlossen Österreich und Preußen einen gemeinsamen Kriegszug gegen Frankreich. Darauf erklärte Ludwig XVI. (4/1792) Österreich den Krieg. Das Marsailler Batallion marschierte in Straßburg ein und anschließend auf Paris zu. Es kam zur Erstürmung der Tuillerien (8/1792) durch die Massen. Die Schweizer Garde des Königs wurde gelyncht. Es starben über 600 Leute. Der König wurde gefangen gesetzt. Frankreich wurde zur Republik erklärt.

Nach der Kanonade von Valmy (9/1792), bei der auch Goethe anwesend war, räumten die Preußen das Schlachtfeld gegenüber den französischen Volkstruppen. Der Vorstoß der Franzosen endete in Mainz. Dort entstand eine Rheinische Republik. Forster wurde einer ihrer Sprecher. Auch die Königin verlor das Vertrauen des Volkes aufgrund der Halsbandaffäre, in die der Bischof von Straßburg involviert war. Zuerst wurde der König zum Tode verurteilt und (1/1793) per Guillotine hingerichtet. Wenig später traf die Königin dasselbe Schicksal.

George Danton und Jean-Paul Marat erschienen auf der Szene. Sie wurden jedoch ermordet bzw. von Robespierre aus dem Wege geräumt. Immer mehr bestimmten ehemalige Arbeiter (frz. sanscullotes) das Bild der Armee. Tausende starben bei Aufständen gegen die Republik, so in der Vendée, in Marseille und Lyon. Es gab Schauprozesse und Massenhinrichtungen. Auch Robespierre wurde hingerichtet (7/1794). Belgien und das Rheinland wurden erobert. Die Jakobiner und die Sonderausschüsse wurden schließlich aufgelöst, Es kam zur Thermidor-Regierung und zum Direktorium. Preußen schloss einen Sonderfrieden (5/1795) mit Frankreich. Darin stimmte es der Abtretung des Rheinlands an Frankreich zu. Als Napoleon gegen Österreich in Italien siegreich war, kam es zum Frieden von Campo Formio (10/1797). Anschließend begab sich Napoleon nach Ägypten. Dort wollte er die Engländer vertreiben. Der Revolutionskalender, der seit 1792 galt, wurde im Jahre 1805 abgeschafft. Zuvor (7/1801) hatte man sich mit dem Papst geeinigt und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche durch ein Konkordat neugeregelt.

Beispiel Russland

Das soeben von Karl Schlögel (*1948) vorgelegte Buch Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt (2018, 912 S.) ist der Zeit von 1917 bis 2017 gewidmet. Schlögel war Professor für Osteuropäische Geschichte in Konstanz bevor er 1991 an die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder berufen wurde. Anders als Schulin konzentriert sich Schlögel nicht auf die historischen Abläufe. Im Blick stehen die Hinterlassenschaften. Was hat welche Spuren hinterlassen? Seine Beschreibung ist sehr detailliert und vielschichtig. Daher nur einige Auszüge.

Nach der Machtergreifung der Bolschewiken in Leningrad verfolgte Wladimir Iljitsch Lenin eine gezielte Umgestaltung der russischen Gesellschaft und Wirtschaft. Er entledigte sich aller bisherigen Würden- und Amtsträger. Sofern sie nicht von sich aus das Land verließen, half er auf drastische Weise nach. So landete 1922 in Stettin ein Schiff mit mehreren Hundert Künstlern, Philosophen, Juristen und anderen Intelligenzlern an Bord, die von Lenin persönlich ausgesucht und des Landes verwiesen wurden. Viele von ihnen zogen weiter nach Berlin, Paris oder den USA.

Die bisher vorwiegend agrarische Wirtschaft wurde völlig umgekrempelt. Große Stauwerke wie das am Djeper (Djeproges) oder Hüttenwerke wie in Magnitogorsk (am Ural) zogen Ingenieure und Fachkräfte aus Westeuropa und den USA an. Ein Kanal, der die Ostsee mit dem Weißen Meer verbindet, wurde in Angriff genommen. An ihm arbeiteten bis zu 200.000 Zwangsarbeiter, ehe er 1933 fertiggestellt wurde. Ein großer Anteil von ihnen waren frühere Geistliche und Lehrer. Das ländliche Russland, egal ob seine Landgüter einst aus Adels- oder Kleinbauernbesitz bestand, wurde in eine völlig unattraktive Kolchosenwirtschaft überführt. An ihre Stelle traten in den letzten Jahrzehnten große Agrarkonzerne. Selbst in den Gegenden mit besten Lössböden reichte der Ertrag nicht aus, um Lebensmittelimporte überflüssig zu machen.

Wie damals auch anderswo üblich, vor allem in den USA, so übernahm der Staat immer mehr die Steuerung der Wirtschaft. Dazu dienten die Fünfjahrespläne. Daneben war in Russland nur noch wenig möglich, eigentlich nur noch Kleingärten und Trödelmärkte. Neben der für die Kriegsführung so wichtigen Stahl- und Energieerzeugung, rangierten alle anderen Produktionszweige unter Fernerliefen. Erst für die später aufkommende Konsumwirtschaft ersetzte Plastik die Bedeutung von Stahl. Mit der Katastrophe des Atommeilers von Tschernobyl endete 1986 diese unheilvolle Entwicklung. Schlamperei und Rücksichtslosigkeit hatten Überhand genommen.

Für die russischen Städte und Bürger bestimmend war die Wohnwirtschaft. Besonders in Leningrad und Moskau spielten in den Anfangsjahren der Sowjetunion Gemeinschaftswohnungen (so genannte Kommulkas) eine große Rolle. Es waren dies zum Beispiel die früheren 12-Zimmerwohnungen von Adligen oder Kaufleuten, in die jetzt bis zu 12 Familien eingewiesen wurden. Mit dem Beginn der Entstalinisierung begannen industriell erstellte Wohngebäude das Stadtbild zu prägen. Als sozialistische Errungenschaft  stellten Plattenbauten seit 1955 eine Antwort auf die fortschreitende Landflucht dar. Es wird geschätzt, dass allein in Russland 170 Mio. Menschen in Plattenbauten lebten. Seit 1990 werden sie durch privates Wohneigentum ersetzt. Ein weiterer Bestandteil russischer Wohnkultur stellen die Landhäuser dar (Datschas genannt). Rund 40-60% der Stadtbevölkerung von Leningrad und Moskau soll über diese Möglichkeit verfügt haben.

Ganz typisch ist für eine staatliche Zwangswirtschaft der hohe Stellenwert, den Urlaub und Erholung einnehmen. Die Schwarzmeerküste, und hier besonders die Krim, wurde zum jährlichen Traumziel vieler Werktätigen. Eine direkte Zugverbindung verband für Urlaubsfahrer die Öl- und Gasfelder der Eismeerküste von Workuta mit Sotschi. Heißbegehrt waren die Plätze in Sanatorien und Erholungsheimen. Obwohl es Tausende davon gab, gab es Wartelisten, auf denen man langsam vorrückte. Nichts ging ohne Warteschlangen, selbst die Plätze in Gefängnissen. Das trieb schließlich die Planwirtschaft in den Ruin, es sei denn man konnte das Geschäft einem privaten Basar überlassen. Seit Russen wieder frei außer Land reisen dürfen, verloren alle Inlandsziele ihre Attraktion. Inzwischen bevölkern Russen die Strände der Türkei, Griechenlands und Ägyptens.

Etwas seltsam erscheint uns das Faible der Russen für Orden und Abzeichen aller Art. Damit profilierte sich jeder Betrieb bei jeder nur denkbaren Gelegenheit. Die Träger, die ja sonst möglichst gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen hatten, fühlten sich hervorgehoben. Auch die Millionen, die im ‚großen vaterländischen Krieg‘ (dem 2. Weltkrieg) ausgezeichnet wurden, trugen ihr Ehrenzeichen voller Stolz. Ihren Kindern gaben die Eltern neue Namen, die an die neuen Heiligen des Kommunismus erinnern sollten (wie ‚Karlen‘ für Karl Marx + Lenin), Auch 'Rote Armee' oder 'Roter Oktober' wurden zu legalen Vornamen. Der medialen Selbstdarstellung dienten die jährlichen Paraden auf dem Roten Platz. Sie galten als Demonstration der staatlichen Macht und konnten bis zu zwei Mio. Teilnehmer mobilisieren. Ähnlich pompös liefen viele Sportparaden ab. Sie  beeindruckten unter anderem US-Präsident Eisenhower bei einem Besuch (1947).

Mit Geduld ertrugen die wenigen Intellektuellen, die im Lande geblieben waren, dass die Große Sowjet-Enzyklopädie, die 1925 begonnen wurde, keine Politiker, Künstler oder Geistesgrößen des alten Russlands benennen durfte. Sie  war ja auch nicht für Akademiker, sondern für Praktiker gedacht. Sie umfasste trotzdem 50 Bände. Die größte Bibliothek Moskaus (Leninka) umfasste schließlich rund 70 Mio. Bücher. Darunter gab es keines von Trotzki oder Solschenizyn. Seit 1929 waren rund 24 Mio. Bücher vernichtet worden. Danach wurde nur einseitig aufgefüllt. Ein Klavier galt als ein verhasstes Möbel des Bürgertums. Die oft von deutschen Einwanderern gegründeten Klavierbauerfirmen wurden verstaatlicht. Klaviere, die noch in Privatwohnungen vorhanden waren, wanderten in den Kulturpalast oder in die Parteizentrale. Als bekannte russische Kunstformen überlebten Ballett, Musik und Gesang die Revolution. Viele dieser Künstler durften reisen. Manche von ihnen nutzten sie zur Flucht (so Rudolf Nurejew).

Nichts charakterisiert die Sowjetunion mehr als die Zahl der Insassen von Strafgefangenenlagern (so genannten Gulags). Sie betrug 1923 rund  3,5 Mio. und stieg bis 1940 auf rund 18 Mio. an. Manche große Projekte wären ohne sie nicht zustande gekommen. Ganze Industriezweige hingen von ihnen ab, so die Goldgewinnung im äußersten Norden Sibiriens. Am Fluss Kolyma wurde bei bis zu -60 Grad von rund 100.000 Gefangenen nach Gold geschürft. Dies verschaffte Russland eine sagenhafte Kaufkraft. Der langjährige Leiter dieses Betriebs, Eduard Bersin, der maßgeblich das System der Gulags mitentwickelt hatte, fiel 1938 in Ungnade und wurde hingerichtet. Ihm wurde vorgeworfen, Gold zur Seite geschafft zu haben.

Im zweiten Weltkrieg erlitt das Land weitere schmerzliche Opfer: 26,6 Mio. Kriegstote, darunter 2,5 Mio. Juden. Die Belagerung Leningrads durch deutsche Truppen kostete allein fast einer Mio. Menschen das Leben. Langsam entwickelten sich Treffpunkte, bei denen sich Dissidenten heimlich trafen. Unter Nikita Chruschtschow kam es zu einer Art von Tauwetter. Leute wie Heinrich Böll und Hans Magnus Enzensberger kamen nach Moskau. Dennoch erfolgten die Ausweisungen Joseph Brodskys (1972) und Alexander Solschenizyns (1974) und die Verbannung Andrei Sacharows (1980). Im Jahre 1968 kam es zu Protesten wegen der Besetzung Prags. Als sich Russlands Grenzen 1990 öffneten, schwappten nacheinander drei Wellen aus dem Lande: Nahrungs-, Genuss- und Luxusmittel-Einkaufer, Verwandtenbesucher, Touristen.

Nach 1990 erhielt die russische Kirche einen großen Teil ihres früheren Besitzes zurückerstattet. Ein Beispiel ist das seit 1927 als staatliches Krematorium dienende Donskoi-Kloster. Die Glocken des Danilow-Klosters kamen sogar aus den USA zurück. Eine besondere Bedeutung hat die Klosterinsel Solowezki im Weißen Meer. Hier wurden einst bis zu 70.000 Gefangene festgehalten. Als Maxim Gorki die Insel 1929 besuchte, berichtete er noch, dass er beindruckt war, wie hier die Erziehung zum neuen Menschen Fortschritte mache. Hier ist heute eine Gedenkstätte.

Gehörte es früher zum Erlebnis besonderer Art mittels einer Fahrt auf der Transsibirischen Bahn die Weite des russischen Raumes zu erkunden, lässt sich heute die Strecke Moskau-Sankt Petersburg dank eines von Siemens gebauten Superschnellzugs in vier Stunden zurücklegen. Immer mehr Stätten, die in den letzten 100 Jahren eine Rolle spielten, werden in Museen umgewandelt. Ein bekanntes Beispiel ist das Lubjanka-Gebäude, der berüchtigte Sitz des russischen Geheimdienstes, angefangen mit der Tscheka, über den GPU, bis zum KGB und dem FSB. Auch die Namen von Straßen, Plätzen und U-Bahnstationen erfahren eine Art von Umkodierung. An die Stelle der Namen aus der sowjetischen Zeit treten wieder die alten Namen oder neue. Diejenigen Personen, die sich den früheren Staatsbesitz aneignen konnten, wurden überreich. Als Oligarchen übernehmen sie quasi die Rolle des ehemaligen Adels. Eine Verteilung des privaten Reichtums auf viele, wie anderswo in Europa, findet nicht statt.

Vergleichende Betrachtung

Die Französische Revolution war kurz und heftig. Nach einer Phase der Freiheit und der Menschenrechte erfolgten 2-3 Jahre des Terror. Dieser fand alsbald ein Ende und nach 12-15 Jahren begann die gesellschaftliche und politische Restauration unter Napoleon. Einige ihrer Grundideen (bürgerliche Freiheiten, zivile Standesämter, Eigentums- und Erbrecht) blieben bestehen und breiteten sich weiter aus. Bekanntlich überzog Napoleon ganz Europa mit Krieg und Ausbeutung. Dabei spielten Ideen, die aus der Revolutionszeit stammten, eine untergeordnete Rolle. Napoleon sah sich eher in der Nachfolge Karls des Großen. Dank Metternich wurde die vor-revolutionäre Ordnung weitgehend wiederhergestellt. Der Wiener Kongress schaffte ab 1815 zeitweise stabile Verhältnisse.

Die russische Revolution hatte fast 100 Jahre Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten. In den letzten zwei Jahrzehnten wirkten Kräfte, die sie infrage stellen, ja rückgängig machen wollten. Die Wirkung der russischen Revolution war umfassender und weitgreifender als die der Französischen Revolution. China und vor allem Nordkorea berufen sich noch heute auf das sowjetische Beispiel. Russland selbst hat einen Teil seiner militärischen Stärke während der Perestroika-Phase eingebüßt. Damit wollen sich Leute wie Wladimir Putin nicht abfinden. Er versucht mit aller Gewalt entgegenzusteuern. Dadurch ist Russland zu einem Unruhefaktor und einer neuen Bedrohung geworden. Im Gegensatz dazu ist Frankreich ein geradezu mustergültiger internationaler Partner geworden.

Mittwoch, 20. Dezember 2017

Reflexionen und Erkenntnisse zum Jahreswechsel (von Peter Hiemann)

Mein Freund und Ex-Kollege Peter Hiemann dürfte den Lesern dieses Blogs längst bekannt sein.  Seine letzten Essays wurden im Juli 2016 und Dezember 2016 veröffentlicht. Zum Jahreswechsel 2017/2018 hat er mir ein sehr ausführliches neues Essay zur Verfügung gestellt. Überschrieben hat er es mit ‚Einsicht ins Ich‘.

Geschrieben wurde es im Interesse seiner Enkelkinder. Es kann auch allen Lesern Anregungen geben, die nicht so viel Zeit haben wie der Rentner Hiemann, um Originalliteratur zu lesen. Ich schätze seine Überlegungen sehr, da sie die Überzeugungen eines Naturwissenschaftlers verbinden mit den Einsichten von Philosophen, Soziologen und Theologen. Seine 99 Seiten sind alles andere als langweilig. Von den Tälern des Alltags führen sie zu den Höhen des Geistes, also der menschlichen Vorstellung.

Klicken Sie bitte  hier. Mit dem Text verbinde ich meine Wünsche für frohe Festtage und ein gutes Neues Jahr, 

Ihr Blog-Verwalter Bertal Dresen, im Dezember 2017.

Donnerstag, 23. November 2017

Nochmals: Digitalisierung und ihre Auswirkungen

Das Thema Digitalisierung ist ein wahrer Dauerbrenner. Es vergeht keine Woche, in der es nicht im Fernsehen, in den Zeitungen oder in meinem Mail-Verkehr vorkommt. Ich greife heute einige Beispiele heraus, von denen ich glaube, dass sie interessant und erklärungsbedürftig sind. Die Auswahl von Themen belegt, wie breit das Spektrum ist. Daher glaubt fast jeder, dass er Kompetenz besitzt, die es ihm erlaubt mitzureden.

Jamaika-Konsens

Wie in meinem letzten Blog-Beitrag beschrieben, scheint die Politik vergessen zu haben, dass der Telekommunikatios-Markt privatisiert wurde. Es ist mir daher nicht klar, welchem Anbieter die Jamaika-Parteien auf die Beine helfen wollen. Im Zweifelsfalle ist es der ehemalige Staatskonzern Telekom. Sein Marktanteil liegt derzeit unter 60% und ist rasant im Fallen. Ich selbst habe nach über 50 Jahren seine Dienste gekündigt, da sie nicht mehr meine Ansprüche erfüllten. Außerdem herrscht in der Politik anscheinend die Meinung vor, dass man nur das Netz und die Geräte verfügbar machen muss. Alles andere komme dann von selbst. Dieselbe Denkweise wurde in der Vergangenheit meistens auch bei DV-Investitionen in Schulen angewandt. Daraus folgt nicht, dass sie richtig ist. Meist scheiterten die Projekte an Problemen mit unabgestimmter oder unbrauchbarer Software. Dass außerdem eine gewisse Schulung und Wartungskompetenz erforderlich ist, wird leicht übersehen.

Bayrischer Anstoß

Die bayrische Staatsregierung ist besonders aktiv darin, die Industrie und Wirtschaft des Landes nach vorne zu bringen. Hier die Selbstdarstellung der Bayrischen Digitalisierungs-Initiative:

Das Zentrum Digitalisierung.Bayern (ZD.B) ist eine deutschlandweit einzigartige Forschungs-, Kooperations- und Gründungsplattform, die als Impulsgeber in Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden und öffentlichen Maßnahmen wirkt.

Mein Kollege Manfred Broy und seine Mitarbeiter wollen von München aus die Fackel durch den gesamten Freistaat Bayern tragen. Es geht hier vorwiegend um das Wecken von Bewusstsein, das Knüpfen von Kontakten und die Schulung von Bannerträgen, so genannten Evangelisten. Die wissenschaftliche Arbeit ist nach Themenplattformen gegliedert.


Der Umfang der Initiative drückt sich in folgenden Zahlen aus: 20 neue Professuren zur Digitalisierung bayernweit (davon 15 besetzt), 10 Nachwuchsgruppen, ein Graduiertenkolleg, studentische Innovationslabore und Verstärkung der Entrepreneurship-Ausbildung.  Bayern gibt für das Thema Digitalisierung in der ersten Phase 2,5 Milliarden aus und nach Kabinettsbeschluss dieses Jahres in einer zweiten Phase ab 2018 bis 2022 noch einmal 3 Milliarden. Es ist zu hoffen, dass das Vorhaben Bayern einen Schub verleiht und über Bayern hinaus zu ähnlichen Bemühungen Anstoß gibt.

Potsdamer Offensive

Das Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam ist bahnbrechend tätig auf dem Gebiet des internet-basierten Lernens. Seine Massen-Online-Kurse (engl. Massive Open Online Course, Abk. MOOC) haben riesige Teilnehmerzahlen. Das Angebot ist verfügbar über eine Pattform, die OpenHPI genannt wird. Der Kollege Christoph Meinel engagiert sich im Geiste Wilhelm von Humboldts und plädiert dafür, vermehrt digitale Techniken dafür einzusetzen, um die berufliche Qualifikation und die Allgemeinbildung auf allen Ebenen der Ausbildung zu verbessern.

Darmstädter Perspektive

Mein Blog-Partner Hartmut Wedekind schrieb diese Woche:

Ist denn das so schwer, über Digitalisierung jenseits  eines  („politischen“) Breitbandausbaus zu reden? Vor langer Zeit hat eine berühmter Betriebswirt  (ich greife also in die Kiste der „Nicht-Fachidioten“) mal gesagt: Produktion, das Hervorbringen von Gütern, ist eine Kombination von Produktionsfaktoren. Ich brauche die Produktionsfaktoren nicht einzeln aufzuzählen. Wir gehen in eine Firma uns schauen sie uns an. Was sehen wir: Wir sehen Arbeitsprozesse, die einen Anfang und eine Ende haben. Jetzt versuchen wir, die Prozesse zu begreifen und mit hoch entwickelten Systemen (z.B. BPMN) aufzuschreiben. Wir gucken uns jeden einzelnen Teilprozess genau an, um die Frage zu beantworten, ob eine Automatisierung, bzw. eine Digitalisierung evtl. auch im Globalen möglich ist, und  dann wie?  Wenn ja, müssen wir explizit angeben, wie das technisch auch möglich ist und was das kostet, bzw. einspart. Schrittweise, zirkelfrei und alles explizit! Die Vernetzungskenntnisse einer Industrie 4.0 stehen uns zur Verfügung. Das war’s  dann, wenn wir damit fertig sind, und: Unsere Aufgabe ist beendet und wir können nach Hause gehen und meinetwegen Biertrinken. Den Fernseher aber, den schalten wir nicht mehr an. Da wird ja nur über Digitalisierung dilettantisch gefaselt, an dem wichtigen Begriff  „Arbeitsprozess“ (workflow)  mit all seinen Tücken vorbei. Das liebt man nicht. Das ist ja etwas für Fachidioten ohne eine globale  „Feldherren-Sicht, die ja sooo wichtig ist“.  Es laufen lauter Digitalisierungs-Feldherren  herum. Die sind aber, genau genommen, entbehrlich! Die wissen das bloß nicht. Das ist auch ein Problem. Wer bringt denen das bei?

Darauf entgegnete ich:

Sie machen meines Erachtens einen Fehler, den deutsche Techniker gerne machen. Wegen des von Henning Kagermann und Wolfgang Wahlster lancierten Begriffs ‚Industrie 4.0‘ setzen Sie Wirtschaft = Produktion. Das stimmte im England des 18. Jahrhundert. Heute ist aber der Dienstleistungssektor  der Wirtschaft mindestens so groß wie der Produktionssektor. Heute wird Deutschlands Industrie abgehängt von Firmen wie Amazon, Google, Facebook, Airbnb, Uber usw. Das sind alles Dienstleister.  Auch wir haben gute Dienstleister. Sie heißen Aldi, Lidl, Axel Springer und neuerdings Flixbus. Die Markennamen, die heute für Springer Geld verdienen, sind Stepstone, KaufDA und Idealo. Entscheidend ist die Kundenbeziehung und die Logistik. Ohne Digitalisierung und Netz ist da nichts. Bei Daimler und BMW tut sich irgendwann auch etwas. Das sind dann aber andere Autos als die, die man bisher baute. Im letzten SPIEGEL (Heft 47/2017) wird Flixbus beschrieben. Die Firma besitzt nur einen einzigen Bus, vermittelt aber über 1000 Fahrten pro Tag, quer durch ganz Europa. Meine Enkel fahren nur noch damit. Die Fahrpläne und Preise der Bundesbahn sind im Vergleich dazu total antiquiert. Der Steuerzahler darf die Bundesbahn demnächst subventionieren.

Pfälzer und Schweizer Sorgen

Katharina Zweig, eine junge Kollegin aus Kaiserslautern, hat eine Bürger-Initiative (engl. Non-government organization, Abk. NGO) namens AlgorithmWatch gegründet. Sie will Algorithmen überwachen, um zu sehen, was gut funktioniert und was nicht. Sie sieht dies als staatliche Aufgabe an, die derzeit nicht wahrgenommen wird. Mir scheint, dass man sich da eine unbegrenzte Aufgabe gestellt hat. Alle Informatiker Deutschlands zusammen genommen, wären überfordert.

Der Schweizer Physiker und Philosoph Eduard Käser zitiert heute in der NZZ die amerikanische Mathematikerin Cathy O’Neil wie folgt: 

Ein immaterielles Wettrüsten der Algorithmen findet statt, das für den Normalbürger unsichtbar bleibt, ihn aber aufgrund von schlampiger Statistik, voreingenommenen Modellen und einem fast gemeingefährlichen Vertrauen in computergenerierte Entscheidungen als Kollateralopfer zurücklässt.

Er fährt fort:

Aber die künstliche Intelligenz der Algorithmen «greift» uns nicht «an». Vielmehr macht sich in ihr ein Teil der menschlichen Intelligenz – nämlich der automatisierbare – breiter und breiter. Einseitige Denkdiät. Max Weber sprach von der Entzauberung der Welt durch wissenschaftliche und technische Rationalität. Das Gegenteil ist heute der Fall. Ein Riesenzauber kehrt zurück, in der Gestalt von Gadgets, die wir verehren, statt zu verstehen.

Die übertriebene Gläubigkeit an die Macht der künstlichen Intelligenz (KI) beunruhigt auch Informatiker. Ein prominentes Beispiel ist David Parnas mit seinem Beitrag in den Communications der ACM (10/2017). Fünfzig Jahre nach der Garmischer Konferenz scheinen die ingenieurmäßigen Methoden der Software-Entwicklung einen schweren Stand zu haben. Wer Digitalisierung in derselben Kategorie wie KI sieht, vergleicht Autofahren mit Ballonfahren.

 Philosophische Utopien

Richard David Precht ist ein in der deutschen Öffentlichkeit sehr bekannter Publizist und Philosoph. Er hatte mehrere Bucherfolge und ist in allen Medien präsent. Ein Interview mit ihm zum Thema ‘Digitale Revolution in der Gesellschaft‘ habe ich mir mehrmals angehört. Nach seiner Meinung führt die Digitalisierung schnurstracks zur Massenarbeitslosigkeit. Rund 50% der heutigen Jobs würden verloren gehen. Als Lösung plädiert er für ein bedingungsloses Grundeinkommen für Alle. Auf die Frage, wer dann die nötigen Steuergelder generiert, hatte er eine überraschende Antwort. Es dürften keine Steuern mehr vom Einkommen erhoben werden, sondern nur noch indirekte Steuern. Als Beispiel nannte er die Finanzsteuer, aufgrund der bei jedem Geldgeschäft 2% einzubehalten sei. Wer also 100 Euro von seinem Konto abhebt, bekommt nur 98 Euro. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Banken und ihre Kunden dies ohne einen Volksaufstand akzeptieren werden.

Mein Verständnis

Nach meinem Eindruck wird der Effekt der Digitalisierung teilweise unterbewertet, teilweise (dramatisch) überbewertet. In den 30 Jahren, in denen ich mich aktiv mit dem Thema befasste, war der Fortschritt beeindruckend. Die folgende Tabelle soll dies veranschaulichen.
            
            
Fortschreiten der Digitalisierung

Die Tabelle listet Erzeugnisse und Dienstleistungen, mit denen ich täglich persönlich arbeite oder die ich in Anspruch nehme. Vor 50 Jahren standen überall ‚As‘. Alle Erzeugnisse und Dienste waren analog, also meist auf Papier. Inzwischen gibt es bei mir keine papiernen Zeitungen, Zeitschriften, Fotos und neugekaufte Bücher mehr. Musik und Filme auf Vinylscheiben oder magnetischen bzw. photochemischen Trägern sind auch verschwunden.

Die Spalte Verwaltung enthält Planung, Konzeption, Disposition und Abrechnung. Sie taucht fast überall auf. Selbst bei den als analog bezeichneten Diensten ist bei deren Verwaltung die Digitalisierung sehr weit fortgeschritten. Die Darstellung soll vermitteln, dass Digitalisierung kaum als ein Thema der Zukunft angesehen werden kann. Sie ist seit 30 Jahren auf dem Vormarsch. Nachzügler wird es immer geben.

Warum tun sich viele Menschen mit der Digitalisierung so schwer?

Wie die Tabelle zeigt, sind ganz erhebliche Teile unseres Lebens betroffen. Es bleiben aber auch viele Bereiche unverändert. Betroffen sind am stärksten diejenigen Menschen und Tätigkeiten, die mit der Informations- und Wissensverarbeitung zu tun haben. Zu sagen, dass alle diese Tätigkeiten entfallen, wäre eine Irreführung. Sie ändern sich lediglich. Nicht die Verarbeitung von Information und Wissen entfällt, sondern die Herstellung, das Bedrucken, der Verkauf und der Transport von Papier (oder Vinyl). Der Anteil dieser Tätigkeiten an der heutigen Wirtschaft ist vergleichbar dem Anteil von Hufschmieden in der Pferde nutzenden Landwirtschaft voriger Jahrhunderte.

Es ist völlig verantwortungslos, aus der Digitalisierung eine Gefahr für die Intellektualität und Würde des Menschen abzuleiten. Das Gegenteil ist der Fall. Ich lese heute ein Vielfaches der Bücher, die ich früher las. Erstens werden mir viel mehr Bücher angeboten, also bekannt gemacht, als früher. Ich brauche nicht mehr zu warten oder irgendwo hinzufahren, um sie abzuholen. Schließlich kann ich die Schrift meiner Sehstärke und der Zimmerbeleuchtung gemäß anpassen. Dass der Mensch die Fähigkeiten verliert, die er nicht mehr benötigt, hat schon Sokrates (469 – 399 vor Chr.) mit Sorge erfüllt. Seit es handschriftliche Aufzeichnungen der Werke des Homer gibt, sank die Zahl derer, die sie auswendig kannten und sie von Ort zu Ort erzählten. Dafür aber gab es Leute, die 2000 Jahre später und in 2000 km Entfernung von Athen die Ilias und Odyssee lasen, allerdings nicht in handschriftlicher Form, sondern in lateinischen Druckbuchstaben und deutscher Sprache. Sokrates mag dies für unmöglich und undenkbar gehalten haben.

Dienstag, 21. November 2017

Jamaika-Sondierung geplatzt – eine Staatskrise?

Seit der Bundestagswahl im September diesen Jahres sind zwei Monate verstrichen. Während dieser Zeit haben vier Parteien versucht auszuloten, ob sie in der Lage sind, eine Regierung zu bilden. Nachdem die SPD beschlossen hatte, sich in der Opposition um ihre Regenerierung zu bemühen, waren dies CDU, CSU, FDP und Grüne. Sowohl Linke wie AfD werden von den vier genannten Parteien als politische Extreme angesehen und als Partner gemieden.

FDP zieht die Reißleine

Am Sonntag um 23 Uhr erklärte die FDP, dass sie die Sondierung abbreche. Es sei kein Vertrauensverhältnis zwischen den vier Verhandelnden zustande gekommen. Die Spannungen – so erschien es – seien am größten gewesen zwischen Grünen und FDP. Beobachter meinten, dass der Entschluss schon früher gereift war und dass die Verhandlungen der letzten Tage keine Wirkung mehr hatten. Das ist für die Zukunft uninteressant.

Streitthemen

Die wichtigsten Themen, über die verhandelt wurde, sind in folgender Tabelle zusammengefasst. Die Haltungen der vier Parteien sind als positiv (+) oder negativ (-) abstrahiert.


Mehrere Punkte fallen auf. Da ist zunächst die scheinbar völlige Übereinstimmung zwischen den beiden Unionsparteien. Sie mag nicht mehr als eine oberflächliche Einigung sein – trotzdem ist es ein Fortschritt. Übereinstimmungen zwischen Union, FDP und Grünen gibt es nur in einem einzigen der neun gelisteten Punkte, nämlich dem Ausbau der digitalen Kommunikationsnetze. Es ist zufällig auch das Gebiet, wo der Staat eigentlich nicht (mehr) zuständig ist. Seit der Privatisierung der Telekom ist diese nämlich ein Wettbewerber neben anderen. Obwohl der Staat nur noch eine Minderheitsbeteiligung besitzt, sehen viele Politiker (und Kunden) die Telekom immer noch als Staatsbetrieb an, dem der Steuerzahler helfen muss. Auch die Außenpolitik und insbesondere Europa waren kaum Gegenstand von Verhandlungen. Hier herrscht offensichtlich Meinungsgleichheit. Es kann auch sein, dass man sich lieber bedeckt hält.

Wo die FDP die Knackpunkte sah, waren der Abbau des Solidarbeitrags (Abk. Soli), der Ausstieg aus dem Braunkohlebergbau und das Verbot ab 2030 von Verbrennungsmotoren zugunsten der Elektromobilität.

Analyse des Verhandlungsablaufs

Nach meinem Dafürhalten waren es nicht die Themen, bei denen keine Einigung erreicht wurde, die zum Abbruch der Gespräche führte. Es war vermutlich das Gefühl, das sich einstellte, nachdem immer wieder dasselbe Thema neu aufgegriffen wurde und Zwischenergebnisse der Verhandlungen an die Presse durchgestochen wurden. In einer Mail an Hartmut Wedekind in Darmstadt schrieb ich gestern:

Das Problem scheint gewesen zu sein, dass Lindner es nicht schaffte, eine auf Vertrauen beruhende Arbeitsatmosphäre auszumachen. Dazu fehlte ihm wohl Erfahrung. Er ließ sich von Trittin zu leicht ärgern. Seine Forderung, den Soli zurückzuzahlen, hätte sich leicht in einen Kompromiss umwandeln lassen. Da geht es ja nicht um Entweder-Oder. Ein paar Prozente weniger oder eine paar Monate nach hinten, da kann verhandelt werden. Bei Grünen und Union schien die Chemie besser zu stimmen. Da spielten Kretschmann und Strobl und ihre Erfahrung in Baden-Württemberg eine Katalysator-Rolle.

Hartmut Wedekind erwiderte heute:

Ich hätte wahrscheinlich schon nach zwei Tagen den Bettel hingeworfen. Wenn Punkte, die man abgelegt hat, immer wieder aufgerufen werden, dann platzt einem nach einer gewissen Zeit die Hutschnur. Als ich noch im roten Darmstadt war und in TH-Gremien saß (drittelparitätisch), war das auch so. Ich bin dann auch so um 23:00 nach Hause gegangen und habe mich nach einer Flasche Bier als Beruhigung ins Bett gelegt. Den Quatsch habe ich mir nicht mehr zugemutet. Heute wären es die  Grünen, die mir auf die Nerven gingen. Wenn die untereinander sind, machen die es ja auch so. Klassisch ist das Stricken der Mädchen beim Filibustern. Bloß wenn die mit anderen zusammen sind, dann sollten die das "Filibustern " unterlassen. Es gibt auch noch rationale Politiker, die sich um die Republik als res publica kümmern und voran kommen wollen, nicht filibustern und nicht nur scheinbar Liberale,  also Subjektivisten. Mit den Grünen bekommen wir die  befürchtete Auflösung, von der Paul Lorenzen auch schon gesprochen hat. Welcher einigermaßen Begabte wird denn da noch Politiker? Mein Spezialfreund ist der Trittin (früher KBW). Als ich den sah, wusste ich, das "Ding" geht schief. Der ist nämlich auch noch zusätzlich heimtückisch.

Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

Ich habe die Sondierungstreffen als politische Veranstaltung wahrgenommen, von der ich keine Impulse für politische Neuorientierungen erwartet habe. Meines Erachtens wurde ziemlich  deutlich, worum es den Akteuren, jedem auf seine Weise, vor allem ging:  (1) indivuelle Darstellung, (2) Positionierung für Regierungsämter (auch in Bayern), (3) Medienpräsenz und (4) Vermeidung von Neuwahlen. Offensichtlich war Punkt (4) für Lindner und Kubicki irrelevant. Mir ist nicht klar geworden, wer von den beiden die Richtung vorgab. Kubicki hatte vorher angekündigt, dass Sonntag, der 19.11. , ein denkwürdiger Tag sein wird.

Wie geht es weiter?

Offensichtlich ist jetzt eine der seltenen Situationen eingetreten, wo das Amt des Bundespräsidenten mehr als nur repräsentative Aufgaben hat. Er wird zunächst mit allen Spitzenpolitikern des Landes Gespräche führen. Er muss ihnen zuerst den Kopf waschen, natürlich nur im übertragenen Sinne. Er muss sich seine Meinung bilden, wer und warum der Karren im Dreck landete. Keiner wird sagen, ich war es und ziehe ihn wieder heraus. Dann muss er sich etwas überlegen. Seine Phantasie und seine politische Klugheit sind gefordert. Am Schluss kann er einfach eine Kanzlerwahl forciert herbeiführen. Dann hören alle Spielereien auf. Kann das Parlament sich nicht auf eine Person einigen, die das Land führen soll, wird es Neuwahlen geben. Das passiert frühestes im Februar/März 2018.

Da dabei alle Beteiligten an Renommee verlieren und hohe Kosten entstehen, wird man versuchen, Neuwahlen zu vermeiden. Vor allem besteht die Gefahr, dass Wahlen an den Zahlenverhältnissen nichts ändern. Dann muss man wieder Sondierungen zwischen denselben Parteien anberaumen. Diese Horrorvision kann einige Leute dazu bewegen, in sich zu gehen.

Sonntag, 12. November 2017

Vernunft und Politik frei nach dem Historiker Flaig

Durch zwei Vorträge, die ich mir mittels Youtube anhörte, wurde ich auf den Althistoriker Egon Flaig (*1949) aufmerksam. Er ist gebürtiger Schwabe und lehrte vor seiner Emeritierung zuletzt in Greifswald und Rostock. Seine Vorträge basieren auf dem Buch Die Niederlage der politischen Vernunft (416 S., 2017). Erst das Buch bewegte mich dazu, mich mit seinen Vorstellungen auseinanderzusetzen. Zunächst Einiges zu den Begriffen des Buchtitels. Insgesamt sind seine Ideen recht eigenartig, aber dennoch bedenkenswert. Daraus dass sich Geschichte nicht wiederholt, folgt nicht, dass man nichts aus ihr lernen kann.

Vernunft

Mit Vernunft bezeichnet man die Fähigkeit des menschlichen Denkens, aus den vom Verstand erfassten Sachverhalten Zusammenhänge herzustellen und deren Bedeutung zu erkennen. Des Weiteren gestattet sie es, Regeln und Prinzipien zu erkennen und entsprechend zu handeln. Seit Immanuel Kant (1724-1804) gilt die Vernunft quasi als eigenständiges Organ, das dem Verstand seine Grenzen und Beschränkungen zeigt. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir zwischen vernünftigem und unvernünftigem Verhalten und Handeln unterscheiden können. Vernunft ist etwas, das wir uns bevorzugt selbst zuschreiben, allen andern Menschen jedoch gerne absprechen. Das trifft insbesondere auf akademisch Gebildete zu, und hier vor allem auf Philosophen. Was als vernünftig gilt, ist sehr von der persönlichen Erfahrung und Bewertung abhängig und kaum objektivierbar.

Das Politische

Politik ist das, was die Stadt (griech. polis) betrifft. Sie umfasst das öffentliche Leben der Bürger, insbesondere alle Handlungen und Bestrebungen zur Führung des Gemeinwesens nach innen und außen, sowie die Willensbildung und Entscheidungsfindung über alle Angelegenheiten des Gemeinwesens. Entsprechend der Größe des Zielbereichs unterscheidet man zwischen Kommunal-, Landes-, Bundes- und internationaler Politik. Außerdem gliedert sich das Betätigungsfeld nach Fachgebieten wie Familien-, Wirtschafts-, Verkehrs-, Energie- und Klimapolitik.

Die Politikwissenschaft (im westlichen Sinne) versucht seit dem 19. Jahrhundert der Politik eigene Theorien und Gesetzmäßigkeiten zuzuordnen, unabhängig von Wirtschaft, Ethik, Religion, Psychologie oder Soziologie. In der Praxis ist es oft schwer, sich auf das rein Politische zu konzentrieren oder zu beschränken.

Politische Vernunft

Der Begriff ‚politische Vernunft‘ ist eine Neuschöpfung des Autors und lehnt sich vermutlich an Kant an. Der Begriff kommt bei Kant jedoch nicht vor. Es ist etwa so, als wenn man Jesus Christus als Lehrmeister für Managementfragen in Anspruch nähme. Das ist zwar erlaubt, aber nicht allzu sinnvoll. Kants Kategorischer Imperativ soll Individuen leiten, nicht aber Gemeinschaften oder gar Staaten.

Als Ursünde deutscher und europäischer Nachkriegspolitik sieht Flaig die zunehmende Erosion des Nationalstaats. Alle Leute reden nur von der Gesellschaft, und niemand von der Gemeinschaft. Eine Gesellschaft sei eine Menge Anspruchsstellender, nur in einer Gemeinschaft gäbe es auch Solidarität und Opfer. Immer mehr Leute strebten ein universelles Weltbürgertum an, aber auch viele Firmen. Mit Vorliebe entzöge man sich damit seiner sozialen Verpflichtung [Da passen die Paradies Papers sehr gut hinein].

Ziel der Weltpolitik

Nicht die Moral, sondern das Recht schreitet fort hin zur republikanischen Weltföderation. Das sei notwendig, um Probleme wie Überbevölkerung, Klima und Terror zu bekämpfen. Sie muss säkular und republikanisch sein. Sie muss Feinde des Universalismus bekämpfen. Die EU, wie sie sich heute präsentiert, stelle einen Fehlstart dar. Sie basiere auf Utopien und Ideologien. Es fehle das sie tragende Bewusstsein im Volk, die verbindende Erzählung. Dafür wuchere die Bürokratie umso kräftiger. Die UNO, an die man unwillkürlich denkt, kommt im Buch kaum vor. Sie scheint von dem Ideal noch weiter entfernt zu sein als die EU.

Unvergleichbarkeit von Kulturen

Ethnologen wie Claude Levi-Strauss (1908-2009) wehrten sich dagegen, alle Kulturen als gleich anzusehen. Man könne sonst nicht von Hochkulturen sprechen. Etwas anderes sei es, den verschiedenen Ethnien gleiche Rechte einzuräumen. Jede Kultur, ja jede Ethnie huldige einem gewissen Ethnozentrismus. Damit verbunden sei eine natürliche Angst vor dem Fremden, oft auch Xenophobie genannt, und die Bereitschaft die eigene Kultur zu verteidigen. Xenophobie mit Fremdenhass gleichzusetzen, sei falsch.

Historische Quellen des Rassismus und der Sklaverei

Der Historiker Flaig scheint durch, wenn er nach den historischen Quellen von Rassismus und Sklaverei fragt. Nach ihm sei die historische Schuld für beides bei den Arabern zu sehen. Autoren wie Avicenna und Ibn Kaldun hätten nur Braune als echte Menschen angesehen, weiße und schwarze seien Abarten. Der Sklavenhandel sei ein uraltes Geschäft der Araber. Hätte es die Kolonisation durch Europäer nicht gegeben, hätte sich die Sklaverei in Afrika nur noch stärker verbreitet. Eine Diskussion über die Abschaffung der Sklaverei gab es nur im Westen. Sie führte zur Definition von Menschenrechten. Auch während des arabischen Frühlings (Arabellion) seien Frauen massenhaft vergewaltigt worden, sofern sie keinen Schleier trugen. Araber würden die demokratische Staatsform nach wie vor als eine Idee der Europäer sehen. Ähnlich der europäischen Linken sei man für die Herrschaft einer Partei.

Von Fanon zu Foucault

Ausführlich beschäftigt sich Flaig mit zwei französischen Publizisten. Frantz Fanon (1925-1961) stammte von der Karibikinsel Martinique. Sein bekanntestes Buch heißt Die Verdammten dieser Erde. Er schloss sich in Algerien der Befreiungsfront (FLN) an und war als Agitator in ganz Afrika unterwegs. Nach ihm sei der europäische Kolonialismus die Quelle allen Übels in der Welt.

Michel Foucault (1936-1984) verwirft jeglichen Universalismus, also das Fordern allgemeiner Pflichten und Rechte der Menschheit. Es gehe immer nur um Macht. Auch der Sozialismus sei zu verurteilen, sobald er als Ideologie auftrete. In Abwandlung von Descartes laute sein Wahlspruch: Ich revoltiere, also bin ich. Der Grund für eine Auflehnung spiele, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Das höchste sei die Todesbereitschaft. Sie hebe jeden Täter empor, und befreie ihn von Schuld. Es scheine, als ob beide Autoren das Denken des Westens, vor allem das seiner linken Eliten, verunsichert, ja erschüttert haben. Es führte zu weitverbreiteten Selbstzweifeln und Schuldgefühlen.

Vom Ethnopluralismus zur Anti-Diskriminierung

Der Multikulturismus (oft als Multikulti abgekürzt) stellt die Rechte der Gruppe über die des Individuums. Er würde von vielen Nicht-Regierungsorganisationen (engl. non-government organization, Abk. NGO) und der EU-Kommission verbreitet. Historisch gesehen fehle es an Modellen von Multikulti, die funktionierten. Wo immer mehrere Gesellschaften zusammenlebten, die jede ein eigenes Recht beanspruchte, waren dies alles Apartheiden. Das vielgerühmte maurische Spanien sei eine Fata Morgana. Ethnopluralismus, also das friedliche Zusammenleben von Gruppen, sei nur bei räumlicher Trennung möglich.

Jede Kultur erwarte Anerkennung, und zwar für Gruppen, nicht nur die Würde des einzelnen Menschen betreffend. Will man Minderheiten gleichbehandeln, darf man keiner Sonderrechte einräumen. Wer auf Anerkennung besteht, verhindere den universalistischen Ausgleich (engl. melting pot) und fördert die Segregation. Im Falle der islamischen Gruppen müsste Europa Ehrenmorde und Sklaverei wieder zulassen – wollte man die Anti-Diskriminierung konsequent auf die Spitze treiben.

Verlorengehende Aufklärung

Historisch gesehen brachte uns die Aufklärung den menschenrechtlichen Universalismus, die Erhebung der Wissenschaft zur letzten Instanz in Fragen der Wahrheit und die republikanische Volkssouveränität. Wir seien dabei, diese Errungenschaften zu gefährden, ja sie zu verlieren. Dabei trügen Kirchen und Massenmedium einen Teil der Verantwortung. Eine Verpflichtung ohne Limit würde propagiert, indem man alle für schuldig erklärt. Damit überrolle man die Prinzipien, auf denen der Staat beruht.

Sowohl die Anwandlungen von Allmacht, Allliebe wie Allsünde widerstrebten der Vernunft. Einige NGOs betrieben Entgrenzungsrhetorik. In den Massenmedien werde einem Tagesgeist gehuldigt, der Fristen entwertet, wo nur das Jetzt und hier nur der letzte Monat zählt. Vorgeschichte und Vergangenheit spielten keine Rolle. Das führe zur Kurzatmigkeit der Politik. Flüchtlinge behandelten wir wie sprachlose Geschöpfe. Wir lassen die Fremden nicht reden. Wir fragen nicht nach ihren kulturellen Wünschen. Wir erkennen daher nicht, wer als Feind kommt.

Die Wahrheit und die Objektivität der Wissenschaft, wie sie von Kant vorausgesetzt wurde, wird von immer mehr Leuten in Zweifel gezogen. Aus falscher Rücksicht auf kulturelle Besonderheiten wird die Wissenschaft relativiert. Die Geschichte, die US-Indianer in der Schule lernen, ist den vorwissenschaftlichen Traditionen des Stammes angepasst. Die Schöpfungsgeschichte wird für Kreationisten anders dargestellt als für Darwinisten. Die Wissenschaft und Wahrheit sind zu Grenzverwischungen bereit, damit Kultur, wie beabsichtigt, Sinn vermitteln kann.

Im so genannten kollektiven Gedächtnis einer Ethnie oder eines Volkes finden oft Dinge einen Niederschlag, zu denen die Geschichtsforschung ein diffiziles Verhältnis hat (z. Bsp. Sturm auf Bastille, Rütlischwur). Es ist die geglaubte Geschichte, auf die es ankommt. So erklären sich alle Nachfahren von Sklaven zu Opfern der Europäer, obwohl deren Anteil am Sklavenhandel beschränkt war. Wir privilegieren deren Opfer.

Lügen aus der Presse

Es ist offensichtlich so, dass die Mehrheit der Bevölkerung in ihrer Meinungsbildung an Beschränkungen gebunden ist, Minderheiten jedoch nicht. Sie dürfen sich als Störenfriede gebärden, ohne dafür haftbar gemacht zu werden. Im Gegenteil, sie erfahren einen besonderen Schutz. Teilweise wird dies schmunzelnd registriert, teilweise wütend. Politische Korrektheit (engl. political correctness, Abk. PC) sagt der Kenner dazu.

So darf Polizei und Presse bei Straftaten die ethnische und religiöse Zugehörigkeit von Tätern nicht erwähnen. Selbst für wissenschaftliche Auswertungen ist dies untersagt. Stattdessen blühen die Gerüchte. So dürften die Exzesse der Silvesternacht in Köln und die Zunahme von Vergewaltigungen in Schweden nicht mit Muslimen in Verbindung gebracht werden. Dabei soll es angeblich in der Scharia erlaubt sein, jede Frau zu vergewaltigen, die kein Kopftuch trägt. Wenn bei uns Imane zum Judenhass aufrufen, würde dies von der ‚Lügenpresse‘ verheimlicht. Wenn ein Deutschstämmiger dies tut, wandert er ins Gefängnis.

Burckhardts Paradox und die NGOs

Von dem Historiker Jakob Burckhardt (1818-1897) stammt der Satz: Der Staat darf nichts, muss aber alles können. Eine Folge davon, sei ein permanentes Klagen über Staatsversagen. Auch die bereits mehrfach erwähnten NGOs unterminierten die Staatlichkeit. Fast immer verabsolutieren sie ein einzelnes Menschenrecht.

Pazifisten und Anarchisten können auch außerhalb von Staaten überleben. Wenn sie es tun, dann allerdings nur als Sklaven bzw. Kriminelle. Manchmal meint man, dass Gesetze bestehen blieben, auch wenn ein Staat untergeht. Dazu passen viele der neoliberalen Angriffe auf die Staatlichkeit. Wo Gutmenschen triumphieren, glaubt man, sich um sonst nichts kümmern zu müssen. Ein Feind, der einen angreifen will, fragt nicht, ob man ihn als Freund oder Feind sieht. Man muss sich selber klarwerden, wofür man steht. Wer nur Polizeiaktionen zulässt, und keinen regulären Krieg führen will, für den gibt es nur Verbrecher.

Brüsseler Moloch und deutsche Gefühle

Die im Grundgesetz verankerte Volkssouveränität habe man an Brüsseler Bürokraten übergeben. Der Bundestag befasse sich zu 50% seiner Zeit mit EU-Regelungen. Die Alternativlosigkeit, die die Große Koalition suggeriert, töte die politische Deliberation.

Die Sorge um die Islamisierung Deutschlands oder Europas, wie sie von PEGIDA und AfD zum Ausdruck gebracht wird, sei eine echte Sorge um das Gemeinwohl. Das gilt auch für unsere ostdeutschen Mitbürger, die in Gegenden leben, in denen es bisher nur wenige Flüchtlinge gab. Die Journalisten, die dies verwunderte, wären Opfer ihrer ‚marxoiden Eindimensionalität‘. Sie erwarten, dass man nur von eigenen Interessen getrieben sei. NIMBY (‚Not in my backyard,) nennt man diese Einstellung. Anstelle von Werten träten Ansprüche. Anspruchsberechtigte kennen keine Dankbarkeit, da sie nicht das Gefühl hätten, jemandem etwas zu schulden.

Von Luhmann zu Habermas

Interessant war für mich der Hinweis auf das Böckenförde-Diktum, das später unter anderem von Jürgen Habermas (*1929) bekämpft wurde. Unsere Verfassung beruhe auf Vorrausetzungen, die sie nicht garantieren könne. Wie zuerst Niklas Luhmann (1927-1998), so habe Habermas Europa die totale Geschichtslosigkeit verordnet. Es zähle nur die Gegenwart, die zeitgleich Lebenden. Verfassungspatriotismus, so heißt das Ganze. Insgesamt bescheinigt Flaig der deutschen Politikwissenschaft einen ‚intellektuellen Sinkflug, an dem die Frankfurter Schule formelstanzend mitwirkte‘.

Falscher Zungenschlag heutiger Politiker

Flaig leitet sein Buch ein mit der Kritik an drei deutschen Politikern: Stanislaw Tillich, Angela Merkel und Martin Schulz. Der erste und letzte haben sich zuschulden kommen lassen, politische Gegner als Tiere bzw. als Bösewichte zu bezeichnen. Ich halte dies auch für einen echten Lapsus. Ich gehe aber nicht soweit ihnen zu unterstellen, dass dies eine überlegte Diffamierung war. Dass Angela Merkel im Sommer 2015 von Gesinnungs- und nicht von Verantwortungsethik geleitet war, hat sie bestimmt längst eingesehen. Es soll nicht wieder vorkommen, so lautet derzeit ihr Mantra.

Nachtrag am 13.11.2017

Beinahe hätte ich die Quintessenz der Flaigschen Botschaft vergessen. Für die Neugründung von Europas Staatlichkeit bietet er eine Erzählung an, neudeutsch ein Narrativ. Man brauche sich nur die wenigen Jahrzehnte der Athener Demokratie und der späteren römischen Republik anzusehen. Der Rest unserer über 3000-jährigen Geschichte sei purer Ballast und nutzloser Schrott, es sei denn man nutzt sie zur Abschreckung. Die Jahre 1770-1850, von einigen als Sattelzeit bezeichnet, sei nichts anderes als eine Rückbesinnung gewesen.