Donnerstag, 23. November 2017

Nochmals: Digitalisierung und ihre Auswirkungen

Das Thema Digitalisierung ist ein wahrer Dauerbrenner. Es vergeht keine Woche, in der es nicht im Fernsehen, in den Zeitungen oder in meinem Mail-Verkehr vorkommt. Ich greife heute einige Beispiele heraus, von denen ich glaube, dass sie interessant und erklärungsbedürftig sind. Die Auswahl von Themen belegt, wie breit das Spektrum ist. Daher glaubt fast jeder, dass er Kompetenz besitzt, die es ihm erlaubt mitzureden.

Jamaika-Konsens

Wie in meinem letzten Blog-Beitrag beschrieben, scheint die Politik vergessen zu haben, dass der Telekommunikatios-Markt privatisiert wurde. Es ist mir daher nicht klar, welchem Anbieter die Jamaika-Parteien auf die Beine helfen wollen. Im Zweifelsfalle ist es der ehemalige Staatskonzern Telekom. Sein Marktanteil liegt derzeit unter 60% und ist rasant im Fallen. Ich selbst habe nach über 50 Jahren seine Dienste gekündigt, da sie nicht mehr meine Ansprüche erfüllten. Außerdem herrscht in der Politik anscheinend die Meinung vor, dass man nur das Netz und die Geräte verfügbar machen muss. Alles andere komme dann von selbst. Dieselbe Denkweise wurde in der Vergangenheit meistens auch bei DV-Investitionen in Schulen angewandt. Daraus folgt nicht, dass sie richtig ist. Meist scheiterten die Projekte an Problemen mit unabgestimmter oder unbrauchbarer Software. Dass außerdem eine gewisse Schulung und Wartungskompetenz erforderlich ist, wird leicht übersehen.

Bayrischer Anstoß

Die bayrische Staatsregierung ist besonders aktiv darin, die Industrie und Wirtschaft des Landes nach vorne zu bringen. Hier die Selbstdarstellung der Bayrischen Digitalisierungs-Initiative:

Das Zentrum Digitalisierung.Bayern (ZD.B) ist eine deutschlandweit einzigartige Forschungs-, Kooperations- und Gründungsplattform, die als Impulsgeber in Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden und öffentlichen Maßnahmen wirkt.

Mein Kollege Manfred Broy und seine Mitarbeiter wollen von München aus die Fackel durch den gesamten Freistaat Bayern tragen. Es geht hier vorwiegend um das Wecken von Bewusstsein, das Knüpfen von Kontakten und die Schulung von Bannerträgen, so genannten Evangelisten. Die wissenschaftliche Arbeit ist nach Themenplattformen gegliedert.


Der Umfang der Initiative drückt sich in folgenden Zahlen aus: 20 neue Professuren zur Digitalisierung bayernweit (davon 15 besetzt), 10 Nachwuchsgruppen, ein Graduiertenkolleg, studentische Innovationslabore und Verstärkung der Entrepreneurship-Ausbildung.  Bayern gibt für das Thema Digitalisierung in der ersten Phase 2,5 Milliarden aus und nach Kabinettsbeschluss dieses Jahres in einer zweiten Phase ab 2018 bis 2022 noch einmal 3 Milliarden. Es ist zu hoffen, dass das Vorhaben Bayern einen Schub verleiht und über Bayern hinaus zu ähnlichen Bemühungen Anstoß gibt.

Potsdamer Offensive

Das Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam ist bahnbrechend tätig auf dem Gebiet des internet-basierten Lernens. Seine Massen-Online-Kurse (engl. Massive Open Online Course, Abk. MOOC) haben riesige Teilnehmerzahlen. Das Angebot ist verfügbar über eine Pattform, die OpenHPI genannt wird. Der Kollege Christoph Meinel engagiert sich im Geiste Wilhelm von Humboldts und plädiert dafür, vermehrt digitale Techniken dafür einzusetzen, um die berufliche Qualifikation und die Allgemeinbildung auf allen Ebenen der Ausbildung zu verbessern.

Darmstädter Perspektive

Mein Blog-Partner Hartmut Wedekind schrieb diese Woche:

Ist denn das so schwer, über Digitalisierung jenseits  eines  („politischen“) Breitbandausbaus zu reden? Vor langer Zeit hat eine berühmter Betriebswirt  (ich greife also in die Kiste der „Nicht-Fachidioten“) mal gesagt: Produktion, das Hervorbringen von Gütern, ist eine Kombination von Produktionsfaktoren. Ich brauche die Produktionsfaktoren nicht einzeln aufzuzählen. Wir gehen in eine Firma uns schauen sie uns an. Was sehen wir: Wir sehen Arbeitsprozesse, die einen Anfang und eine Ende haben. Jetzt versuchen wir, die Prozesse zu begreifen und mit hoch entwickelten Systemen (z.B. BPMN) aufzuschreiben. Wir gucken uns jeden einzelnen Teilprozess genau an, um die Frage zu beantworten, ob eine Automatisierung, bzw. eine Digitalisierung evtl. auch im Globalen möglich ist, und  dann wie?  Wenn ja, müssen wir explizit angeben, wie das technisch auch möglich ist und was das kostet, bzw. einspart. Schrittweise, zirkelfrei und alles explizit! Die Vernetzungskenntnisse einer Industrie 4.0 stehen uns zur Verfügung. Das war’s  dann, wenn wir damit fertig sind, und: Unsere Aufgabe ist beendet und wir können nach Hause gehen und meinetwegen Biertrinken. Den Fernseher aber, den schalten wir nicht mehr an. Da wird ja nur über Digitalisierung dilettantisch gefaselt, an dem wichtigen Begriff  „Arbeitsprozess“ (workflow)  mit all seinen Tücken vorbei. Das liebt man nicht. Das ist ja etwas für Fachidioten ohne eine globale  „Feldherren-Sicht, die ja sooo wichtig ist“.  Es laufen lauter Digitalisierungs-Feldherren  herum. Die sind aber, genau genommen, entbehrlich! Die wissen das bloß nicht. Das ist auch ein Problem. Wer bringt denen das bei?

Darauf entgegnete ich:

Sie machen meines Erachtens einen Fehler, den deutsche Techniker gerne machen. Wegen des von Henning Kagermann und Wolfgang Wahlster lancierten Begriffs ‚Industrie 4.0‘ setzen Sie Wirtschaft = Produktion. Das stimmte im England des 18. Jahrhundert. Heute ist aber der Dienstleistungssektor  der Wirtschaft mindestens so groß wie der Produktionssektor. Heute wird Deutschlands Industrie abgehängt von Firmen wie Amazon, Google, Facebook, Airbnb, Uber usw. Das sind alles Dienstleister.  Auch wir haben gute Dienstleister. Sie heißen Aldi, Lidl, Axel Springer und neuerdings Flixbus. Die Markennamen, die heute für Springer Geld verdienen, sind Stepstone, KaufDA und Idealo. Entscheidend ist die Kundenbeziehung und die Logistik. Ohne Digitalisierung und Netz ist da nichts. Bei Daimler und BMW tut sich irgendwann auch etwas. Das sind dann aber andere Autos als die, die man bisher baute. Im letzten SPIEGEL (Heft 47/2017) wird Flixbus beschrieben. Die Firma besitzt nur einen einzigen Bus, vermittelt aber über 1000 Fahrten pro Tag, quer durch ganz Europa. Meine Enkel fahren nur noch damit. Die Fahrpläne und Preise der Bundesbahn sind im Vergleich dazu total antiquiert. Der Steuerzahler darf die Bundesbahn demnächst subventionieren.

Pfälzer und Schweizer Sorgen

Katharina Zweig, eine junge Kollegin aus Kaiserslautern, hat eine Bürger-Initiative (engl. Non-government organization, Abk. NGO) namens AlgorithmWatch gegründet. Sie will Algorithmen überwachen, um zu sehen, was gut funktioniert und was nicht. Sie sieht dies als staatliche Aufgabe an, die derzeit nicht wahrgenommen wird. Mir scheint, dass man sich da eine unbegrenzte Aufgabe gestellt hat. Alle Informatiker Deutschlands zusammen genommen, wären überfordert.

Der Schweizer Physiker und Philosoph Eduard Käser zitiert heute in der NZZ die amerikanische Mathematikerin Cathy O’Neil wie folgt: 

Ein immaterielles Wettrüsten der Algorithmen findet statt, das für den Normalbürger unsichtbar bleibt, ihn aber aufgrund von schlampiger Statistik, voreingenommenen Modellen und einem fast gemeingefährlichen Vertrauen in computergenerierte Entscheidungen als Kollateralopfer zurücklässt.

Er fährt fort:

Aber die künstliche Intelligenz der Algorithmen «greift» uns nicht «an». Vielmehr macht sich in ihr ein Teil der menschlichen Intelligenz – nämlich der automatisierbare – breiter und breiter. Einseitige Denkdiät. Max Weber sprach von der Entzauberung der Welt durch wissenschaftliche und technische Rationalität. Das Gegenteil ist heute der Fall. Ein Riesenzauber kehrt zurück, in der Gestalt von Gadgets, die wir verehren, statt zu verstehen.

Die übertriebene Gläubigkeit an die Macht der künstlichen Intelligenz (KI) beunruhigt auch Informatiker. Ein prominentes Beispiel ist David Parnas mit seinem Beitrag in den Communications der ACM (10/2017). Fünfzig Jahre nach der Garmischer Konferenz scheinen die ingenieurmäßigen Methoden der Software-Entwicklung einen schweren Stand zu haben. Wer Digitalisierung in derselben Kategorie wie KI sieht, vergleicht Autofahren mit Ballonfahren.

 Philosophische Utopien

Richard David Precht ist ein in der deutschen Öffentlichkeit sehr bekannter Publizist und Philosoph. Er hatte mehrere Bucherfolge und ist in allen Medien präsent. Ein Interview mit ihm zum Thema ‘Digitale Revolution in der Gesellschaft‘ habe ich mir mehrmals angehört. Nach seiner Meinung führt die Digitalisierung schnurstracks zur Massenarbeitslosigkeit. Rund 50% der heutigen Jobs würden verloren gehen. Als Lösung plädiert er für ein bedingungsloses Grundeinkommen für Alle. Auf die Frage, wer dann die nötigen Steuergelder generiert, hatte er eine überraschende Antwort. Es dürften keine Steuern mehr vom Einkommen erhoben werden, sondern nur noch indirekte Steuern. Als Beispiel nannte er die Finanzsteuer, aufgrund der bei jedem Geldgeschäft 2% einzubehalten sei. Wer also 100 Euro von seinem Konto abhebt, bekommt nur 98 Euro. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Banken und ihre Kunden dies ohne einen Volksaufstand akzeptieren werden.

Mein Verständnis

Nach meinem Eindruck wird der Effekt der Digitalisierung teilweise unterbewertet, teilweise (dramatisch) überbewertet. In den 30 Jahren, in denen ich mich aktiv mit dem Thema befasste, war der Fortschritt beeindruckend. Die folgende Tabelle soll dies veranschaulichen.
            
            
Fortschreiten der Digitalisierung

Die Tabelle listet Erzeugnisse und Dienstleistungen, mit denen ich täglich persönlich arbeite oder die ich in Anspruch nehme. Vor 50 Jahren standen überall ‚As‘. Alle Erzeugnisse und Dienste waren analog, also meist auf Papier. Inzwischen gibt es bei mir keine papiernen Zeitungen, Zeitschriften, Fotos und neugekaufte Bücher mehr. Musik und Filme auf Vinylscheiben oder magnetischen bzw. photochemischen Trägern sind auch verschwunden.

Die Spalte Verwaltung enthält Planung, Konzeption, Disposition und Abrechnung. Sie taucht fast überall auf. Selbst bei den als analog bezeichneten Diensten ist bei deren Verwaltung die Digitalisierung sehr weit fortgeschritten. Die Darstellung soll vermitteln, dass Digitalisierung kaum als ein Thema der Zukunft angesehen werden kann. Sie ist seit 30 Jahren auf dem Vormarsch. Nachzügler wird es immer geben.

Warum tun sich viele Menschen mit der Digitalisierung so schwer?

Wie die Tabelle zeigt, sind ganz erhebliche Teile unseres Lebens betroffen. Es bleiben aber auch viele Bereiche unverändert. Betroffen sind am stärksten diejenigen Menschen und Tätigkeiten, die mit der Informations- und Wissensverarbeitung zu tun haben. Zu sagen, dass alle diese Tätigkeiten entfallen, wäre eine Irreführung. Sie ändern sich lediglich. Nicht die Verarbeitung von Information und Wissen entfällt, sondern die Herstellung, das Bedrucken, der Verkauf und der Transport von Papier (oder Vinyl). Der Anteil dieser Tätigkeiten an der heutigen Wirtschaft ist vergleichbar dem Anteil von Hufschmieden in der Pferde nutzenden Landwirtschaft voriger Jahrhunderte.

Es ist völlig verantwortungslos, aus der Digitalisierung eine Gefahr für die Intellektualität und Würde des Menschen abzuleiten. Das Gegenteil ist der Fall. Ich lese heute ein Vielfaches der Bücher, die ich früher las. Erstens werden mir viel mehr Bücher angeboten, also bekannt gemacht, als früher. Ich brauche nicht mehr zu warten oder irgendwo hinzufahren, um sie abzuholen. Schließlich kann ich die Schrift meiner Sehstärke und der Zimmerbeleuchtung gemäß anpassen. Dass der Mensch die Fähigkeiten verliert, die er nicht mehr benötigt, hat schon Sokrates (469 – 399 vor Chr.) mit Sorge erfüllt. Seit es handschriftliche Aufzeichnungen der Werke des Homer gibt, sank die Zahl derer, die sie auswendig kannten und sie von Ort zu Ort erzählten. Dafür aber gab es Leute, die 2000 Jahre später und in 2000 km Entfernung von Athen die Ilias und Odyssee lasen, allerdings nicht in handschriftlicher Form, sondern in lateinischen Druckbuchstaben und deutscher Sprache. Sokrates mag dies für unmöglich und undenkbar gehalten haben.

1 Kommentar:

  1. Peter Hiemann aus Grasse schrieb: Ich bin der Ansicht, dass weder übertriebener Optimismus noch übertriebener Pessimismus der Diskussion über Digitalisierung dienlich ist. Experten unterschiedlichster Bereiche weisen darauf hin, dass mittels computergestützter Prozesse bei staatlichen Institutionen, bei Forschung und Entwicklung, bei Wirtschaftsunternehmen und bei 'Otto Normalverbraucher' ein neues menschliches Zeitalter angebrochen ist. Eine Flut neuer technischer digitalisierter Anwendungen werden die Arbeitswelt, ökonomische Kreisläufe und politische Bewegungen grundlegend verändern.

    Bereits existierende digitalisierte Anwendungen geben Anlass, umfassende Überlegungen hinsichtlich gesellschaftlicher Konsequenzen anzustellen. ...

    Homo sapiens betritt eine nächste grundlegende Phase der Industrialisierung: Industrie 4.0. Industrielle Prozesse sollen mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik so verzahnt werden, sodass menschliche Abhängigkeiten und fehleranfällige Eingriffe minimiert werden. Technische Grundlage hierfür sind digital vernetzte, 'intelligente' Systemkomponenten aller Art (IoT = Internet der Dinge), die weitgehend selbstorganisierte Produktionsprozesse ermöglichen sollen. Durch die Vernetzung soll es möglich werden, nicht mehr nur einen Produktionsschritt, sondern eine ganze Wertschöpfungskette zu optimieren. Das Netz soll alle Phasen des Lebenszyklus des Produktes einschließen – von der Idee eines Produkts über die Entwicklung, Fertigung, Nutzung und Wartung bis hin zum Recycling. (Wikipedia)

    Noch ist offen, wie sich KI in Computeranwendungen niederschlagen wird. Unternehmen und Nutzer werden darüber entscheiden, Das selbstfahrende Auto ist das derzeit stärkste Symbol dafür, wie sich KI Experten die Zukunft vorstellen. Frank Chen sagt: „Der menschliche Bediener verschwindet aus allem, was sich bewegt…Lastwagenfahrer ist einer der am weitesten verbreiteten Jobs, und vielleicht in 5 Jahren, spätestens in 15 Jahren wird es diesen Job nicht mehr geben“. Schätzung der Beratungsfirma Deloitte: „Einer halben Million Mitarbeiter der britischen Finanzindustrie droht, in den kommenden Jahren durch Software ersetzt zu werden.“ Der Informatiker und Kognitionspsychologe Geoffrey Hinton: „Wir sollten umgehend aufhören, Radiologen auszubilden.“ Maschinen können besser Röntgenbilder analysieren.“

    Auch die größten Technik-Optimisten ahnen inzwischen, dass die Gestaltung technischen und gesellschaftlichen Wandels auch politischer und geisteswissenschaftlicher Überlegungen bedarf. Bill Gates will, dass Tech Experten 'Normalsterbliche' beim technischen Wandel nicht verlieren: „Wenn die Menschen Angst vor dem Fortschritt haben, statt sich zu freuen, dann bekommen wir ein richtiges Problem.“ (Der Spiegel 14 / 2017: Zuckerbergs Zweifel).

    Es bleibt zu hoffen, dass akademische Gruppen etwas zu Überlegungen beitragen werden, wie Gesellschaften zukünftig verträglich gestalten werden können. Die Unternehmen des Silicon Valley wie Facebook und Google werden allerdings die Diskussionen dominieren.

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