Mittwoch, 8. Februar 2017

Kausalität, Emergenz und Evolution aus Sicht von Physik und Biologie

Schon mehrmals entwickelte sich aus einer Korrespondenz mit meinen Freunden Hans Diel (Sindelfingen) und Peter Hiemann (Grasse) ein Beitrag für diesen Blog. Oft trafen dabei unterschiedliche Betrachtungsweisen aufeinander. Dieses Mal geht es um drei interessante Begriffe, nämlich Kausalität. Emergenz und Evolution. Sie spielen in vielen Wissenschaften eine Rolle. Obwohl auch Beziehungen zur Philosophie bestehen, wollen wir uns auf die Sicht der Physik und der Biologie konzentrieren.

A. Kausalität

Bertal Dresen (BD): Für diese Diskussion möchte ich die Definitionen zweier Begriffe aus Wikipedia an den Anfang stellen.

Kausalität  ist die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, betrifft also die Abfolge aufeinander bezogener Ereignisse und Zustände. Determinismus ist die Auffassung, dass alle – insbesondere auch zukünftige – Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind.

Zu den Philosophen, die sich mit Kausalität ausführlich befasst haben, zählt Mario Bunge (*1919). Ich habe vor 20 Jahren sein Buch über Kausalität (von 1987) mit Interesse gelesen. An einige markante Aussagen sei erinnert: Die Kausalität ist keine funktionale Beziehung, sonst ließe sich Vergangenheit und Zukunft berechnen. Sie ist eher wie ein Gleichungssystem mit vielen abhängigen und unabhängigen Variablen. Die Isolierung einer Kausalkette ist eine methodische Vereinfachung. Man berücksichtigt dabei nur eine Richtung und lässt alle Rückwirkungen außer Betracht. Das Ausschließen eines Teils der Ursachen ist das Erfolgsrezept jeder Wissenschaft. Aus meiner Sicht klingt dies schon etwas provozierend. In dem Wikipedia-Beitrag über Bunge heißt es:

Bunge legt Wert auf die Feststellung, dass durch die Quantenphysik zwar das Kausalprinzip, aber nicht das Determinismusprinzip verletzt wird. Unter dem Begriff der Determination lassen sich nach seiner Ansicht neben Kausalgesetzen auch Wahrscheinlichkeitsgesetze fassen, da letztere keineswegs völlig willkürlich und gesetzlos erfolgen.

Hans Diel (HD): In der Quantenphysik setzt Determinismus Kausalität voraus und nicht umgekehrt, wie Bunge meint. Die Quantenphysiker leugnen nicht die Kausalität in der Quantenphysik, wohl aber den Determinismus. Versuche eine deterministische Quantenphysik zu entwickeln (David Bohm), sind bisher gescheitert.

Ich benutze gerne den Begriff „Kausales Modell“. Der Begriff ist für mich aus drei Gründen wichtig: (1) Ausgehend vom EPR-Experiment und Bells Ungleichung entstand die Behauptung, dass „lokal kausale Modelle“ der Quantentheorie grundsätzlich nicht möglich sind. Dazu gibt es sehr viele Literatur. Fast immer wurde in der Literatur nicht genau definiert, was unter einem (lokal) kausalen Modell zu verstehen ist. (2) Ich propagiere seit einigen Jahren, dass physikalische Theorien, die nicht ein kausales Modell (lokal oder nicht-lokal) implizieren (d.h. aus denen nicht ein komplettes kausales Modell ableitbar ist), unvollständig und mangelhaft sind. (3) Basierend auf meinem Verständnis von einem kausalen Modell, lassen sich Begriffe wie „deterministisches Modell“, „lokal kausales Modell“ und „Emergenz“ sehr schön definieren. Nach meinem Verständnis hat ein kausales Modell drei Bestandteile:

(1) Eine saubere und komplette Definition der möglichen Systemzustände inklusive der Objekte, Parameter, Komponenten, etc..

(2) Die Auflistung der physikalischen Gesetze, die definieren wie aus einem Zustand S(t) zum Zeitpunkt t sich ein Zustand S’(t’) (t’>t) entwickelt. Die Liste der Gesetze muss vollständig sein, so dass jeder mögliche Ausgangszustand auch ein möglicher Eingangszustand sein kann. Da „kausal“ (für mich) nicht „deterministisch“ impliziert, dürfen die Gesetze auch Wahrscheinlichkeitsaussagen enthalten. Bei meiner detaillierten Definition eines kausalen Modells (siehe [1]) beschreibe ich auch die Form, in der die physikalischen Gesetze angegeben werden sollen. Das kausale Modell muss nur solche physikalischen Gesetze, die für die kausale Abfolge von Zustandsänderungen relevant sind, enthalten. Bei meiner Entwicklung eines kausalen Models der Quantentheorie (QT) stellte ich bald fest, dass damit eine Reihe von scheinbar wichtigen Gesetzen der QT nicht benötigt werden und dafür an anderer Stelle kausale Gesetzmäßigkeiten unvollständig bekannt sind. Dies betrifft zum Teil zentrale Konzepte der QT wie zum Beispiel Komplementarität, Welle/Teilchen Dualismus und die Rolle des Beobachters. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Beispielkonzepte auch maßgeblich zur Unverständlichkeit der QT beitragen.

(3) Die zwei Komponenten (1) Systemzustand und (2) kausale Gesetze müssen noch durch einen übergeordnete Logik/Mechanismus (eine Art Metasemantik) zusammengefügt werden. In meinen Veröffentlichungen zu diesem Thema (siehe [1]) habe ich dazu eine „physics engine“ definiert.

BD: Wie ich weiß, benutzen Sie den Begriff Modell um zu betonen, dass Sie nur eine vereinfachende Betrachtung des physikalischen Geschehens vornehmen. Sie lassen einige Eigenschaften weg. Manche Autoren unterscheiden zwischen epistemologischer und ontologischer Unbestimmtheit oder Unschärfe. Im ersten Falle geht es um den Wissensstand der Menschheit, im zweiten um eine Unbestimmtheit in der Sache. Bei Ihren Ausführungen, aber auch bei der QT insgesamt, weiß ich nicht immer, um welche Art Unbestimmtheit es gerade geht. Können Sie dazu etwas sagen?

HD: Grob gesehen, gibt es unter den Physikern zwei unterschiedliche Interpretationen von Heisenbergs Unschärferelation:

Interpretation 1: Wir können nur in gewissen Grenzen den Ort eines Elektrons (als Beispiel für ein Partikel) KENNEN. D.h. unser WISSEN bzgl. des Orts eines Elektrons ist entsprechend der Unschärferelation prinzipiell begrenzt.

Interpretation 2: Das Elektron HAT keinen definitiven (d.h. punktgenauen) Ort, sondern belegt im Allgemeinen einen durch die Unschärferelation definierten Raumbereich. Jeder Versuch „den“ genauen Ort des Elektrons zu bestimmen (d.h. zu messen) resultiert darin, dass die Messung zwar einen punktgenauen Ort liefert, dieser jedoch zufällig (d.h. nicht-deterministisch) aus dem Raumbereich des Elektrons ausgewählt wird.

Bei meinen Ausführungen zur QT gehe ich immer von Interpretation 2 aus, kritisiere Interpretation 1 und lasse es aber offen, ob irgendwann eine deterministische QT gefunden wird.

BD: Mir scheint die Interpretation 1 epistemologisch zu sein, Interpretation 2 dagegen ontologisch. Das Thema zu vertiefen wollen wir uns ersparen.

Peter Hiemann (PH): Der Begriff 'Kausalität' im Sinne Ursache → Wirkung bezieht sich in der Biologie auf Wechselwirkungen zwischen biologisch aktiven Molekülen. Das Zusammentreffen von zwei biologisch aktiven Molekülen erfolgt nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Die Interaktion resultiert in der Produktion eines neuen Moleküls. Zur Beschreibung einer Abfolge von Wechselwirkungen ist der Begriff 'Kausalität' im Sinne Ursachen → Wirkungen ungeeignet. Die Vielfalt biologisch aktiver Moleküle und die vielfältigen Zustände biologisch aktiver Systeme ergibt eine unglaubliche Vielfalt möglicher biologischer Wechselwirkungen, die sich eindeutigen Zuordnungen im Sinne Ursache → Wirkung entziehen. Auf einer organischen Skala (von der Zelle bis zum Organismus) biologischer Systeme lassen sich im Allgemeinen keine algorithmischen Verfahren für Veränderungen angeben. Ich kenne aber zwei biologische Methoden, in denen das Prinzip Ursache → Wirkung zur Geltung kommt:

  • Der sogenannte 'genetische Code' regelt in gleicher Weise. für alle Lebewesen die Übersetzung von drei aufeinanderfolgenden Nukleotiden der DNA in Aminosäure-Moleküle (die Bestandteile der vielfältigen Proteine).
  • Das Immunsystem generiert Moleküle, mittels deren Struktur organisch fremden Zellen markiert werden können.

Noch ein Hinweis hinsichtlich biologischer Strukturbildungen. Das sehr große Molekül DNA repräsentiert das Archiv aller artspezifischen Gene, die sich im Verlauf der Evolution angesammelt haben. Bei biologischen Strukturbildungen kommt es weniger auf die Anzahl unterschiedlicher Gene an. Vielmehr kommt es darauf an, welche Gene mehrfach vorhanden sind und welche Genkombinationen später zur Anwendung kommen. Die vielfältigen Funktionen des DNA-Molekül sind zum Teil (noch) unbekannt, insbesondere die Rolle der überwiegenden nicht codierenden sogenannten Müll-DNA-Anteile. Die DNA enthält alle möglichen 'Anweisungen' für die Produktion biologisch aktiver Moleküle, ist jedoch nicht das Programm, das die Abfolge von Wechselwirkungen festlegt. Die Abfolge biologischer Wechselwirkungen erfolgt auf (noch unbekannte) selbstorganisierende Weise.

Vielfältige Wechselwirkungen geschehen auch zwischen Zellen und bilden dadurch komplexe Organsysteme. Die Zustände dieser System entziehen sich algorithmischen Erklärungen im Sinne Ursache → Wirkung. Die komplexesten Organsysteme (z.B. das Gehirn) wird von einer unglaublichen Menge und Vielfalt spezieller Zellen gebildet: den Nervenzellen. Wechselwirkungen zwischen Nervenzellen erfolgen sowohl mittels biologisch aktiver Moleküle (Neurotransmitter) als auch mittels elektrischer Signale (Aktionspotentiale).

Medizinischen Techniken für Diagnose und Heilung (bzw. lebensverlängernde Methoden) verfahren nach dem Prinzip Ursache → Wirkung (wohl oft nach dem Prinzip 'Versuch und Irrtum'). Das ändert nichts an der Vorstellung, dass jede medizinische Behandlung, insbesondere unter Benutzung pharmazeutischer Substanzen, eine Reparaturmethode ist. Letztlich ist jede medizinische Behandlung auf die lebenserhaltenden Mechanismen eines gesamten Organismus angewiesen.

BD: Ist es nicht so, dass durch den Begriff der Wechselwirkungen die Frage nach den Ursachen, also der Kausalität, etwas verschleiert wird? Da es – zumindest in der klassischen Physik  ̶  keine Wirkung ohne Gegenwirkung gibt, erleidet ein Grippevirus, der mich ansteckt, doch bestimmt eine Veränderung. Vielleicht nimmt er zusätzliche Gene auf, oder er stirbt. Bei der Frage der Kausalität muss doch nach der Reihenfolge der Ereignisse gefragt werden, auch bei Prozessen, die sich im Nanosekundenbereich abspielen?

PH: Der von mir verwendete Ausdruck 'biologische Wechselwirkung' bedeutet lediglich, dass zwei biologisch aktive Objekte interagieren. Und zwar auf Grund 'passender' Strukturen. Biomoleküle unterscheiden sich durch Oberflächenstrukturen, die zueinander 'passen' oder nicht. Eine biologische Interaktion bewirkt keine Gegenreaktion, sondern resultiert in der Produktion eines neuen Biomoleküls, das seinerseits mit einem 'passenden' biologisch aktiven Objekt interagiert, usw. usw. Der Grippevirus, der Jemanden ansteckt, erleidet keine Veränderung. Er bedient sich der Biomoleküle einer Wirtszelle, um sich zu vervielfältigen. Später wird es dem Immunsystem gelingen, den 'Fremdling' als solchen zu markieren und zu zerstören.

B. Emergenz

BD: Mit dem Thema Emergenz hatten wir drei uns in Bertals Blog im September 2012 befasst. Anlass war ein Artikel von Michael Springer im Spektrum der Wissenschaft. Damals schrieb Hans Diel:

Ein zentraler Punkt der Definition von Springer ist das Verständnis, dass das was „emergiert“ nicht Systeme, Dinge, Zustände, Objekte sind, sondern Beschreibungen, Modelle, Sichten, Beschreibungsmöglichkeiten von Systemen, etc. Sein Beispiel mit der Beschreibung eines Systems in Begriffen von Temperatur, Druck, Entropie, etc. zeigt sehr schön, dass hier nicht das System selbst emergiert, sondern eine neue Art der Betrachtung.

HD: Allgemein spricht man, glaube ich, von Emergenz, wenn sich aus einem Zustand S(t) im Laufe der Zeit ein neuer Zustand mit neuen Objekten entwickelt. Die notwendige Präzisierung muss m.E. darin bestehen genauer zu definieren, was mit „neu entwickelten Objekten“ gemeint ist. Ich meine man sollte von Emergenz nur dann reden, wenn neue Objekttypen und/oder Strukturen entstehen, die neue Gesetzmäßigkeiten erfordern oder ermöglichen. (Reine Zusammenfassung oder Erweiterung bestehender Objekte zu größeren Konstrukten, denen man einen neuen Namen gibt, sollte nicht als Emergenz betrachtet werden.) Beispiele für neue Objekttypen die sich zum Beispiel erst nach einiger Zeit nach dem Urknall entwickelt haben sind Atome, Moleküle, Festkörper, Sterne, Zellen, Bakterien, etc..

Hinsichtlich kausaler Modelle, ist es oft notwendig und möglich für die Systeme mit den neuen Objekttypen und den neuen Gesetzmäßigkeiten neue kausale Modelle zu formulieren. Oft sind die neuen Objekttypen und die Gesetzmäßigkeiten so neu, dass man diese sogar in speziellen wissenschaftlichen Disziplinen studiert. Beispiele: Moleküle -> Chemie, Festkörper -> Festkörperphysik, Sterne und Galaxien -> Astrophysik, Zellen und Bakterien -> Biologie. Nach meinem Verständnis kann man bei all diesen Entwicklungen von neuen Objekttypen von Emergenz reden.

Soweit die Entwicklungen der neuen Objekttypen und Strukturen als Thema der Physik gesehen werden, sind die Entwicklungen (fast) immer mit sogenannten „Phasenübergängen“ verbunden. Die Physik und die kausalen Modelle für Phasenübergänge sind in der Regel mit der klassischen Physik der betroffenen Systeme nur schwer und unvollständig beschreibbar. Für diese Phasenübergänge hat man Theorien entwickelt, die an die Statistische Mechanik angelehnt sind. Beispielsweise hat man für die Phasenübergänge in der Quantenfeldtheorie, z.B. der Emergenz von Hadronen aus Quarks, die Gittereichtheorie (engl. Lattice Gauge Theory) entwickelt.

Ich bin nicht sicher, ob bei den Physiktheorien, die von Emergenz der Raumzeit sprechen (z.B. Causal Dynamical Triangulation), der Begriff Emergenz in dem von mir beschriebenen Sinn verwendet wird. Jedenfalls wird dort nicht der Übergang von einem System ohne Raumzeit zu einem System mit Raumzeit beschrieben, sondern die Zusammensetzung der Raumzeit aus elementaren (Raumzeit-) Elementen, Simplexes genannt.

Es gibt jedoch eine Theorie zur Entstehung des „leeren Raums“ als Teil der neueren Theorie zur Entstehung des Universums kurz nach dem Urknall. In [2] ist diese Theorie, die eine Reihe von Phasenübergängen beinhaltet, sehr schön beschrieben. Mit „Entstehung des leeren Raums“ ist dabei der Übergang von einem kompakten (kleinen) Universum, in dem der gesamte Raum dicht gepackt mit Teilchen war, zu einem Universum, in dem es Zwischenräume zwischen den Teilchen gibt, gemeint.

PH: Der Begriff 'Emergenz' bezieht sich auf systemische Phänomene. Bei einem emergenten biologischen Phänomen handelt es sich um eine Eigenschaft eines biologischen Systems, die nicht aus dem Zusammenspiel existierender biologischer Elemente erklärt werden kann. Und obendrein ist zu beachten, ob emergente Eigenschaften nur kurzfristig auftraten oder das Potential besaßen, in Folgegenerationen erhalten zu bleiben (sich zu vererben, sich durchzusetzen).

Ein Beispiel für ein herausragendes emergentes biologisches Phänomen war das 'Auftauchen' einer neuen Art Zelle, die zusätzliche kommunikative Eigenschaften einer Nervenzelle besaß. Nervenzellen können sich auf vielfältige und außerordentlich flexible Weise 'vernetzen' und auf vielfältige Weise Funktionen von Körperzellen beeinflussen (sowohl durch direkte Verbindungen als auch durch hormonell wirksame Moleküle).

Die wohl herausragende emergente Eigenschaft des Systems 'Erde' (Gaia) war das 'Auftauchen' eines 'lebensfähigen' Systems aus der Masse vorhandener auf der Erde existierender Atome unter speziellen Bedingungen. In der Frühzeit des Planeten Erde hat es vermutlich eine Menge verschiedener Biomoleküle gegeben, die miteinander interagieren konnten. Eine Arbeitshypothese vermutet, dass zu späterer Zeit ein einzelliges 'Wesen' aufgetaucht ist, das die emergente Eigenschaft besaß, sich selbst reproduzieren zu können. Dieses hypothetische 'Wesen' trägt die Bezeichnung LUCA (Last Universal Common Ancestor). LUCA ist demnach der letzte gemeinsame Vorfahre aller heute lebenden Lebewesen. LUCA hatte alle biologischen Eigenschaften, die notwendig und hinreichend waren, die biologische Evolution der biologischen Arten einzuleiten.

Eine wesentliche Voraussetzung für evolutionäre Entwicklungen und das 'Auftauchen' emergenter Eigenschaften eines Systems ist vermutlich, dass ein System eine hinreichend große Menge interagierender Elemente besitzt.

BD: Ich habe den Eindruck, dass auch beim Auftauchen neuer Eigenschaften ein ‚kreativer‘ Prozess abläuft. Wie soll ich mir den vorstellen? Ist es wie bei den Affen, die beim Hämmern auf eine Tastatur plötzlich ein Sonett von Shakespeare erzeugen? Also alles ein Werk des Zufalls?

PH: Biologen können bestenfalls spekulieren, welche Zufälle oder/und Umweltbedingungen eine Rolle bei der Bildung neuer biologischer Eigenschaften bzw. Funktionen gespielt haben. Es existieren zwei grundsätzlich unterschiedliche Annahmen, wie sich die unterschiedlichen Eigenschaften gebildet haben. Kreationisten postulieren, dass jede neue biologische Struktur und Eigenschaft nach einem vorgegebenen Design erfolgte. Danach können Affen kein Objekt 'Sonett Shakespeares' kreieren. Biologen postulieren, dass neue biologische Strukturen und Eigenschaften das Resultat fortlaufender ungerichteter evolutionärer Prozesse des Kopierens, des Variierens und des Selektierens sind. Danach besaß ein Nachfolger der Affen namens William Shakespeare die einmalige Eigenschaft, ein Objekt 'Sonett Shakespeares' zu kreieren.

BD: Ich nehme an, Sie wollen mir sagen, dass wir immer noch Schwierigkeiten haben uns vorzustellen, wie groß der Zeitraums tatsächlich war, den die Evolution bisher zur Verfügung hatte.

C. Evolution

BD: Beim Thema Evolution verwies ich in meinem Beitrag vom April 2012 darauf hin, dass wir seit Darwin die Vorstellung haben, dass es sich um eine Konkatination von einem Variationsprozess, einem Selektionsprozess und einem Stabilisationsprozess bzw. Replikationsprozess handeln muss, sollten wir das Wort Evolution verwenden dürfen. Dass Sterne sich von einer Staubwolke bis zum Schwarzen Loch entwickeln ist klar. Nur ist das kein (darwinscher) Evolutionsprozess.

HD: Man kann der Meinung sein, dass der Begriff Evolution nur in dem Sinn benutzt werden sollte, wie er in der Biologie verstanden wird. Man kann aber auch argumentieren, dass es den Begriff schon vor Darwin gab und deshalb die Benutzung des Begriffs im Sinne von „Entwicklung“ akzeptabel ist. Ich bin noch unsicher. Im Deutschen benutze ich den Begriff Evolution nur entsprechend dem Verständnis der Biologie. Im Englischen versuche ich den Begriff auch zu vermeiden, bin dabei aber nicht immer konsequent. Manchmal benutze ich „evolution“ alternativ zu „development“. Mein Deutsch-English Dictionary unterstützt diese Alternative.

PH: Der Begriff 'Evolution' (im darwinschen Sinne) bezieht sich auf Prozesse eines Systems, in deren Verlauf Elemente fortlaufend kopiert, variiert und selektiert werden. Die Evolution biologischer Systeme erklärt die Vielfalt biologischer Arten. Wesentliche Aussagen der Evolutionsbiologie sind:

  • Der Informationsfluss für evolutionäre Veränderungen geht immer von den Genen zu den Merkmalen einer Art, niemals umgekehrt.
  • Die Richtung der Veränderungen wird durch vier Evolutionsfaktoren bestimmt: (1) eine vererbbare Mutation generiert organische Veränderungen. Mutationen sind zufällig und unvorhersehbar, wobei zufällig insbesondere bedeutet, dass sie kein Ergebnis der Selektion sind. (2) Über genetische Rekombination entsteht Variabilität (3) Gerichtete natürliche Selektion bewertet Veränderungen. Sie gilt als der dominierende Evolutionsfaktor hinsichtlich der Adaptation eines  Individuums an aktuelle Umweltbedingungen. Die genetische Veränderung wird wieder eliminiert, falls sie sich nicht in einer Population durchsetzen kann. (4) Gendrift bewirkt eine einmalige, zufällige Veränderung der Allelfrequenzen

Der wissenschaftliche Diskurs beschäftigt sich heute im Wesentlichen mit den Details und den Rahmenbedingungen der Evolutionsfaktoren. Biologen berufen sich dabei auf folgende gemeinsame Prinzipien:

  • Die Evolution hat stattgefunden, dauert an und kann erforscht werden.
  • Sie ist nicht umkehrbar
  • Sie ist nicht determiniert und nicht auf ein Endziel oder einen Endzweck gerichtet
  • Sie wirkt auf allen Ebenen von Organismen, von molekularen Strukturen bis zum Ökosystem.

Vermehrte Aufmerksamkeit der Naturwissenschaftler (nicht nur der Biologen und Neurobiologen) gilt heute dem Begriff „Selbstorganisation“. „Selbst“ in dem Zusammenhang bedeutet nicht, dass sich ein System 'von selbst organisiert' sondern in der Lage ist, 'aus sich selbst heraus zu organisieren'.

Niklas Luhmanns Systemtheorie, ergänzt durch einen Mechanismus der sogenannten strukturellen Kopplung von voneinander abhängigen bzw. beeinflussenden Systemen, scheint ein plausibler Ansatz zu sein, selbst organisierende Systeme zu modellieren. Luhmanns Systemtheorie basiert auf der Vorstellung, dass bei Wechselwirkungen eines sich selbst organisierenden Systems, Teilsysteme ständig rekursiv aktiv sind. Luhmann bezeichnete diese Teilsysteme mit „Programmsystem“, „Interaktionssystem“ und „Funktionssystem“. Fällt eines der aktiven Teilsysteme aus, „stirbt“ das sich selbst organisierende Gesamtsystem.

BD: Es gibt doch Physiker – ich glaube Lee Smolin gehört dazu  ̶  die der Meinung sind, dass die Naturgesetze nicht immer dieselben waren, sondern eine Art von Evolution (im darwinschen Sinne) durchliefen. Warum soll eine Naturkonstante wie etwa die Lichtgeschwindigkeit c, die Gravitationskonstante g, oder das Plancksche Wirkungsquantum h sich nicht durch Mutationen und Selektion herausgebildet haben? Was halten Sie davon?

HD: Jede Physiktheorie, und damit jedes kausale Modell, hat einen bestimmten Anwendungsbereich bzw. Geltungsbereich. Im kausalen Modell ist dies reflektiert in (1) den Objekten die den kompletten Systemzustand darstellen und (2) in den Eingangsbedingungen (Input assertions) für die Zustandsübergänge. Wie oben beschrieben, ist das Standardbeispiel für die mögliche evolutionäre Entwicklung der Physik die evolutionäre Generierung neuer Universen mit jeweils unterschiedlichen physikalischen Konstanten (z.B. c, g, h) wie Lee Smolin spekuliert hat.

Angenommen, wir wären in der Lage die Ideen und Spekulationen Lee Smolins in eine ordentliche physikalische Theorie zu formulieren und dafür sogar ein kausales Modell zu erstellen. Der Systemzustand des entsprechenden kausalen Modells müsste dann neben den uns bekannten klassischen physikalischen Objekten (Raum, Zeit, Felder, Partikel, Atome, etc.) einen Objekttyp "Universum" enthalten. Einem Universum(-objekt) wären zugeordnet all die klassischen Objekte plus unterschiedliche Werte für die Naturkonstanten (c, g, h). Ein sauberes (formal vollständiges) kausales Modell müsste auch noch den Algorithmus/Prozess liefern der definiert, wie sich die Werte von (c, g, h) bei der Generierung von neuen Universen bestimmen.

Dieser Algorithmus muss nicht deterministisch sein. Er könnte in einem kausalen Modell auch nicht-deterministisch sein oder gar einen evolutionären Prozess repräsentieren. Wichtig ist: In dem Beispiel ist es nicht die Physik oder eine kausales Modell, welches sich evolutionär entwickelt. Es wurde nur gezeigt, dass in der Physik Prozesse denkbar sind, die Ähnlichkeit haben mit den evolutionären Prozessen, die aus der Biologie bekannt sind. Was sich im Beispiel evolutionär ändert, ist nicht die Physik, sondern die den Zustandsobjekten zugeordneten Parameter (c, g, h).

Noch ein Hinweis ist angebracht: Nicht zufällig ist das beschriebene Beispiel aus einem Anwendungsbereich der extrem spekulativ ist. In dem uns einigermaßen bekannten Anwendungsbereich (unserem Universum) hat man bisher für die Physik keine Prozesse gefunden die Ähnlichkeit haben mit den evolutionären Prozessen der Biologie. Andererseits, muss man zugeben, dass es in der Physik noch viele unverstandene Prozesse gibt. Vielleicht entdeckt man beim Schließen der Wissenslücken ja doch noch evolutionäre Prozesse (ohne dass man über die Generierung neuer Universen spekulieren muss).

Referenzen
  1. Diel, H. (2016): Are Local Causal Models of Quantum Theory Feasible at All?, arXiv:1604.03959v1
  2. Satz, L. (2016) Kosmische Dämmerung - Die Welt vor dem Urknall. München

11 Kommentare:

  1. Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

    der Physiker Robert Laughlin (1998 Nobelpreis für Physik) äußert in seinem Buch „Abschied von der Weltformel - Die Neuerfindung der Physik" einige Vorstellungen, die unsere Diskussion ergänzen.

    - „Im menschlichen Geist gibt es zwei einander widersprechende Impulse – der eine will etwas auf seine wesentlichen Grundlagen reduzieren, der andere will durch die wesentlichen Grundlagen hindurch auf die umfassenderen Zusammenhänge blicken.“
    - „Die verlässlichen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung in der natürlichen Welt würden insofern etwas über uns selbst aussagen, als diese Verlässlichkeit eher Ordnungsprinzipien geschuldet sei als Regeln im mikroskopischen Maßstab.“
    - „Weil unsere Messungen so genau sind, können wir mit Überzeugung erklären, dass die Suche nach einer einzigen ultimativen Wahrheit an ihr Ende gelangt, gleichzeitig aber gescheitert ist.“
    - „Der Übergang zum Zeitalter der Emergenz setzt dem Mythos von der absoluten Macht der Mathematik ein Ende.“
    - „Der Mythos, kollektives Verhalten folge aus der Gesetzmäßigkeit, geht in der Praxis genau in die falsche Richtung. Stattdessen folgt Gesetzmäßigkeit aus kollektivem Verhalten, ebenso wie andere daraus hervorgehende Dinge wie etwa Logik und Mathematik. ….....Damit ist nicht gesagt, dass Gesetzmäßigkeit im mikroskopischen Maßstab falsch sei oder keinen Zweck habe, sondern nur, dass sie in einer Vielzahl von Umständen durch ihre Kinder und Kindeskinder, die höheren Ordnungsgesetze der Welt, belanglos geworden sind.“

    Laughlin widmet ein ganzes Kapitel seines Buches dem „Zeitalter der Emergenz“. Vielleicht gibt eine Koryphäe wie Laughlin einigen Leuten zu denken.

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    1. Hans Diel antwortete:

      Anders als Robert Laughlin bin ich der Meinung, dass
      (1) der Hang, irgend eine Gesetzmäßigkeit, die für einen Teilbereich der Physik als gültig erkannt wurde, auf möglichst weitere (oder gar alle) Bereiche der Physik zu verallgemeinern, auch manchmal ein Irrweg ist. Beispiel: Die Verallgemeinerung des Entropiegesetzes auf Phänomene, die nichts mit Thermodynamik zu tun haben.
      (2) die Zurückhaltung bei der Erforschung, inwieweit Naturgesetze, die im Großen gelten, sich im Kleinen (d.h. im mikroskopischen Maßstab) auswirken, ein Fehler ist. Beispiel: Wird die Raumkrümmung (der Relativitätstheorie) schon durch die Dynamik der Partikel initiiert?

      Ich sehe auch, dass es möglicherweise elementare Einheiten für lokale Kausalität gibt (so wie ich lokale Kausalität definiere). Ich sehe jedoch nicht, dass die Physiker deswegen sagen sollten "so das war's". Es bleiben immer noch mögliche Gesetzmäßigkeiten, die zu erforschen sind.

      Die Emergenz, so wie ich sie verstehe, hat etwas mit statistischen Prozessen, Phasenübergängen und diskreten Parametern zu tun. Ja, es ist richtig, dass in diesen Gebieten (z.B. Gittereichtheorie) Vorhersagen nicht mehr durch die Auflösung komplizierter mathematischen Gleichungen berechnet werden können, sondern durch Computersimulation und numerische Rechenverfahren. Trotzdem, spielt die Mathematik bei der Physik für diese Phänomene noch eine bedeutende Rolle.

      Wann man in der Physik (oder allgemein) sagen kann, die Gesetzmäßigkeit A folgt aus der Gesetzmäßigkeit B und nicht umgekehrt, ist für mich eine schwierige Frage. Ich habe das Gefühl, dass die Meinung dazu oft fast ideologisch begründet ist (vermutlich auch bei mir).

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  2. Auch Johann Wolfgang von Goethe befasste sich mit dem Zusammenspiel von Kausalität, Zufall und Vernunft.

    ‚Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen. Sie behandelt das Notwendige als den Grund des Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht. verdient der Mensch ein Gott der Erde genannt zu werden.‘

    Der Text ist aus ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Dies ist sein 1796 erschienener Bildungsroman, mit dem Goethe in die Fußstapfen von Diderot und Voltaire trat. Er forderte darin das Recht des freien Bürgers auf allseitige Bildung.

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  3. Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

    das philosophische Quartett hat sich mit dem Thema 'Evolution' auseinandergesetzt: https://www.youtube.com/watch?v=5wiIz3PNTuY.

    Als Experten waren Ernst Peter Fischer und Richard David Precht eingeladen. Die Beiträge der beiden fand ich sehr plausibel und überzeugend. Precht habe ich bisher vielleicht unterschätzt. Seine Beiträge über Unterschiede zwischen biologischen und kulturellen Perspektiven fand ich beachtenswert. Fischers Bemerkungen über menschliche Anlagen hinsichtlich aggressiven Schimpansen und friedfertigen Bonobos konnten nicht überzeugen.

    In der Diskussion konnte man beobachten, wie Rüdiger Safranski erfolglos versuchte, das Thema aus seiner vorwiegend individuellen emotionalen Perspektive zu erfassen. Safranski war mir schon früher aufgefallen. Zitat: „Romantik darf uns nicht verlorengehen, denn politische Vernunft und Realitätssinn ist zu wenig zum Leben. Romantik ist der Mehrwert, der Überschuss an schöner Weltfremdheit, der Überfluss an Bedeutsamkeit.“ („Romantik – Eine deutsche Affäre“). Es nicht damit zu rechnen, dass sich Safranski jemals mit biologische Erkenntnissen auseinandersetzen oder gar dafür begeistern könnte.

    Ich habe in der Diskussion leider ein paar Hinweise auf die Wichtigkeit kommunikativer systemtheoretischer Überlegungen vermisst.

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  4. In seiner Veröffentlichung 'Kausalgesetz und Quantenmechanik' schrieb Werner Heisenberg 1931:

    Als Resultat der Diskussion möchte ich zusammenfassen: Dass erstens die klassische Formulierung des Kausalgesetzes sich als leer und physikalisch unanwendbar erwiesen hat. Dass jedoch ein teilweiser Determinismus auch in der Atomphysik bestehen bleibt, den man etwa in dieser Weise formulieren kann: „Wenn zu einer Zeit ein System in allen Bestimmungsstücken bekannt ist, so gibt es auch zu jeder späteren Zeit Experimente an dem System, deren Resultat präzis vorhergesagt werden kann.“ -- Ob man ein solches Verhalten noch kausal nennen soll oder nicht, scheint mir keine interessante Frage. Vielmehr sollen wir uns freuen, dass die Natur uns durch die Atomphänomene in der Frage nach den Grundprinzipien der Naturwissenschaft etwas Neues gelehrt hat.

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    1. Hans Diel kommentierte:

      Ihr Auszug aus Heisenbergs Artikel zeigt sehr schön, dass bei den Koryphäen der Quantenphysik [1931] noch Unsicherheit bestand mit welchen Begriffen man das seltsame Verhalten der Quantenwelt bezeichnen sollte. Heute sind sich die Quantenphysiker weitgehend einig bei den Begriffen. Beim Verstehen/Interpretieren des Verhaltens gibt es noch größere Lücken und Uneinigkeit.

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    2. Peter Hiemann schrieb:

      ich interpretiere Ihre Aussage "Beim Verstehen/Interpretieren des Verhaltens gibt es noch größere Lücken und Uneinigkeit" dahingehend, dass die 'Zunft' der Quantenphysiker sich eher nicht 'weitgehend einig' sind, in welche Richtung sich ihre Wissenschaft weiter entwickeln kann bzw. lässt. Insbesondere fehlen 'zündenede' Ideen bzw. Arbeitshypothesen, um Gravitation, Dunkle Materie und Dunkle Energie quantenmechanisch zu erklären. Zukünftige Erkenntnisse werden sich auch auf Begriffsbildungen und deren Bedeutungen auswirken.

      Ich vermute, dass sich bereits einige Quantenphysiker intensiver mit den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen der Vielzahl unterschiedlicher Atome unter einer Vielzahl unterschiedlicher Bedingungen befassen. 'Materiestaub' könnte eine grössere Rolle bei astrophysikalischen Strukturen spielen, als bisher angenommen.

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  5. Juraj Hromkovič, der Autor des Buches ‚Sieben Wunder der Informatik‘ gibt darin (auf Seite 279) eine sehr schöne Beschreibung des Verhaltens von Teilchen in der Quantenwelt:

    ‚Sind die Teilchen clevere Burschen! Sie benehmen sich wie Scheinheilige hinter einem Dorf (einem slowakischen Sprichwort entsprechend). Wenn man sie beobachtet, machen sie genau das, was man von ihnen erwartet. Wenn man nicht hinschaut, machen sie sofort alles Mögliche, nur nicht das Erwartete.‘

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  6. Peter Hiemann zitierte die Definition von Niklas Luhmann:

    "Kausalität ist ein Urteil, eine Beobachtung eines Beobachters, eine Kopplung von Ursachen und Wirkungen, je nachdem, wie der Beobachter seine Interessen formiert, wie der Beobachter Wirkungen und Ursachen für wichtig oder für unwichtig hält. Kausalität ist eine selektive Aussage: Bestimmte Ursachen interessieren, weil man in Bezug auf die Wirkungen unsicher ist. Oder man will bestimmte Wirkungen erreichen und fragt von dort aus zurück, welche Ursachen sie ermöglichen. Formal gesehen, ist Kausalität ein Schema der Weltbeobachtung."

    Luhmanns Systemansatz bietet übrigens auch plausible Erklärungen für die Begriffe Emergenz und Evolution.

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    1. Ich möchte klarstellen, dass Luhmanns Aussage über Kausalität als Bestandteil dessen Systemtheorie zu verstehen ist. Luhmanns Systemtheorie basiert auf der Vorstellung, dass bei kommunikativen Systemen fortlaufend Interaktionen aktiv sind. In diesem Kontext ist seine Aussage keine Definition, sondern eine Beschreibung kommunikativen Verhaltens.
      Gerade für wissenschaftliche Arbeit gilt: "Kausalität ist ein Urteil, eine Beobachtung eines Beobachters, eine Kopplung von Ursachen und Wirkungen, je nachdem, wie der Beobachter seine Interessen formiert, wie der Beobachter Wirkungen und
      Ursachen für wichtig oder für unwichtig hält." Meines Erachtens gilt das sowohl für den Erwerb empirischer Erkenntnisse als auch für theoretische Überlegungen,um Zusammenhänge herzustellen.
      Luhmanns Vorstellungen entsprechen Erkenntnissen, die für biologisch aktive Systeme gelten (Humberto Maturanas: "Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens").
      .

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  7. Hans Diel schrieb:

    in dem zitierten Buch vom L. Satz [2] sind die folgenden Schlussbemerkungen besonders interessant:

    “Der Übergang von Wenigen zu Vielen ist etwas fundamental Anderes. In den letzten Jahren hat sich ein neues Forschungsgebiet entwickelt, die Untersuchung von emergentem Verhalten; es geht davon aus, dass ein System vieler Komponenten auf ein Verhalten führen kann, das sich nicht aus elementaren Zweikörperwechselwirkungen ableiten lässt. Doch das funktioniert höchstens in einfachen Fällen. Für viele Aspekte des emergenten kollektiven Verhaltens ist es hingegen unwichtig wie die elementare Wechselwirkung zwischen den Konstituenten geartet ist. Ein solches Verhalten wächst über den Reduktionismus hinaus. Die Perkolationstheorie beschreibt die Entstehung von Galaxien, Magnetisierung, den Übergang von Kern- in Quarkmaterie; aber sie beschreibt auch die Ausbreitung von Waldbränden, das Verhalten von Vogelschwärmen oder die Verteilung unterirdischer Öllager. Die so beobachtete Universalität kollektiven Verhaltens bringt uns eine ganz neue Form von grand unification.“

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