Samstag, 11. Februar 2017

Philosophisches Geplänkel

In diesem Blog kamen auch hin und wieder philosophische Themen vor. Meist erfolgte die Anregung durch Freunde oder Leser. So ist es auch jetzt. Im Folgenden skizziere ich meine Interpretation einiger längst vergangener philosophischer Strömungen in Europa, wohl wissend, dass dies nicht unwidersprochen bleibt. Danach folgen einige weitere Bemerkungen über den möglichen Einfluss von Philosophen. Ergänzungen und Kommentare zu diesen Ausführungen sind erwünscht!

Philosophie-Geschichte

Der Französische Rationalismus (FR) wurde in die Welt gesetzt durch René Descartes (1596-1650) und später unter anderem von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) vertreten. Die Auffassung des FR lässt sich vereinfacht wie folgt ausdrücken: Entweder gibt uns der Verstand eine Antwort, oder es gibt keine. Räsonieren wurde zum Modewort auch in den gebildeten Kreisen Deutschlands. Es bedeutete so viel wie ‚sorgfältig argumentieren‘ und basiert auf dem französischen Wort ‚raison‘, das sowohl für Verstand wie für Vernunft steht. (Man beachte die Feinheiten!) Heute hat ‚räsonieren‘ längst den Beigeschmack von nörgeln und motzen. Leibniz, ein gebürtiger Sachse aus Leipzig, hatte seine Begegnung mit dem FR während seiner Zeit im Dienste des Trierer (oder Mainzer) Bischofs in der Trierer Botschaft in Paris (1672-1676). Dort demonstrierte er seine Rechenmaschine und erfand nebenbei das duale Zahlensystem. (Beides hatte 270 Jahre später Einfluss auf den jungen Konrad Zuse.)

Der Angelsächsische Empirismus (AE), vertreten durch David Hume (1711-1776), sieht in der Sinneswahrnehmung die einzige Quelle der Erfahrung und damit des Wissens. Gefühlen und gedanklichen Einflüssen gegenüber sollte man vorsichtig sein, will man objektives und neues Wissen erwerben. Der Preuße Immanuel Kant (1724-1804) versuchte eine Brücke zu bauen zwischen AE und FR mit seinem (kantschen) Transzendentalismus (KT). Kant nimmt an, dass immer A-priori-Wissen erforderlich ist, um die Erfahrung zu leiten. 

Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Der Verstand kann nichts anschauen, die Sinne nichts denken. ... Der Verstand ist auf mögliche Erfahrungen beschränkt. Die Vernunft ist transzendent. ... Die Vernunft arbeitet architektonisch; sie sucht ein System.

So schrieb er 1781 in der Kritik der reinen Vernunft. Nach Kant ist dieses Wissen von außen, vermutlich von einem höheren Wesen vorgegeben. Die Grenze des Individuums wird transzendiert, also überschritten. Neben dem Verstand postulierte Kant im Gehirn des Menschen noch ein zweites Organ, Vernunft genannt. Wie ein Reiter auf einem Pferd, so sitze die Vernunft obendrauf und lenke (‚managt‘) den Verstand. Der Verstand schuftet so gut er kann, um mit den Sinneserfahrungen fertig zu werden. So wie Pferde ihren Reiter abwerfen können, so versuche der Verstand manchmal ohne die Vernunft auszukommen. Die Folgen sind meist eher unerfreulich.

Meine Einschätzungen und Vorlieben

Ich neige am ehesten zu AE (oh Wunder!). FR ist mir zu trocken und zu streng, KT ist zu gekünstelt. So frage ich die KT-Anhänger, wo wohl ein Baby oder Kleinkind sein A-priori-Wissen herhat. Ich bin überzeugt, dass auch Begriffe, also Denkstrukturen, ein Ergebnis früherer Erfahrung sein können. Schon beim Kleinkind arbeitet der Verstand und verarbeitet Sinneseindrücke. Verarbeiten heißt, alles in Gruppen oder Kategorien einzuordnen, was ähnlich aussieht oder ähnliche Eigenschaften hat. Das scheinen Kinder ohne fremde Hilfe zu tun. Die dazugehörigen Bezeichnungen oder Worte übernehmen sie anschließend von den Erwachsenen des Sprachraums, insbesondere auch von Altersgenossen  ̶  sofern diese (schon) welche haben. Wo soll das berühmte ‚moralische Gesetz in uns‘, das in Form des Gewissens auch im heutigen Rechtssystem verankert ist, herkommen, wenn nicht von der Gesellschaft, d.h. von andern Menschen? So fragen heute diejenigen, die weniger dem Idealismus zugeneigt sind als Kant. Soweit ich weiß, konnte die Gehirnforschung Kants Vorhersagen bisher auch noch nicht bestätigen.

Immerwährende Aufklärung

Wie kein anderer der hier erwähnten Philosophen machte Kant die Aufklärung zu seinem Anliegen. In seinem zwölfseitigen Text Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784 schrieb er:

Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.

Man könnte meinen, Kant hätte etwas gegen Leute, die sich zu sehr an Bücher klammern oder die sich von Meinungsforschern oder (Unternehmens-) Beratern beeinflussen lassen. Dass er von Frauen eine etwas antiquierte Meinung hat, sei ihm verziehen. Bei Zeitgenossen, ja bei ganzen Kulturkreisen fragt man sich, ob oder warum sie bisher der Aufklärung entgehen konnten. Der arabische Raum scheint ein eklatantes Beispiel zu sein.

Eigentlich ist die Situation viel schlimmer. Fast gewinnt man den Eindruck, dass in vielen Kreisen und Gesellschaften, in denen das Gedankengut der Aufklärung eine feste Heimat gefunden hatte, die Dinge sich rückwärts entwickeln. In einigen Ländern, so in den USA, finden gerade Leute politisches Gehör, die sich öffentlich von der wissenschaftlichen Denkweise distanzieren. Wie weit dieser Trend geht und wie lange er anhält, ist eine der spannendsten Fragen unserer Zeit.

Philosophisches Quartett

Es gibt zurzeit zwei deutsche Philosophen, die wie keine andern es versuchen, die Philosophie aus ihrer akademischen Abgeschlossenheit heraus unter das breite Volk zu bringen. Es sind dies Peter Sloterdijk und Jürgen Safranski. Ihre Sendungen lassen sich bei Youtube immer wieder ansehen. Sehr empfehlen kann ich die Sendung mit dem Titel: Ist die Welt noch zu retten? Darin sind Franz-Josef Radermacher und Harald Welzer die beiden andern Gesprächspartner. Den Informatiker Radermacher brauche ich nicht vorzustellen. In seinem Interview in diesem Blog stellte er seine Initiativen wie die der Ökosozialen Marktwirtschaft und des Globalen Marshallplans vor. Ganz überrascht war ich dieser Tage, als ich vom Bundesentwicklungsminister Gert Müller hörte, dass er sich von Radermachers Ideen inspirieren lässt. Müller arbeitet derzeit sehr intensiv mit den Ländern der Sahelzone zusammen, um ihnen zu helfen, Perspektiven zu entwickeln, damit junge Menschen im Lande bleiben können, anstatt als Flüchtlinge ihr Heil in Europa zu suchen. Wenn Donald Trump mal wieder die Klimaschützer verhöhnt, muss ich an den Kollegen Radermacher denken. Das kann ihn nicht freuen.

Der Soziologe Welzer sieht die Entwicklungen erheblich kritischer als Radermacher. Er meint, dass  ‚der gegenwärtig praktizierte Lebensstil unserer Gesellschaft durch hypertrophes Wachstum seine eigenen Voraussetzungen konsumiere‘. Wer von beiden eher Recht hat, ist schwer zu ermitteln. Ist ein Warner erfolgreich, dann hat er oft selbst mit dazu beigetragen, dass seine Vorhersagen sich als falsch erwiesen. Jedenfalls ist es beruhigend, dass die Vorhersagen des Soziologen Thomas Robert Malthus (1766-1834) sich nicht genau so zu erfüllen scheinen wie vorhergesagt. Er hatte angesichts der Bevölkerungsexplosion (Maltusianische Falle genannt) eine Verarmung Englands vorhergesagt.

Weltveränderer und Ideologen

Philosophen (und auch Soziologen) waren schon immer bemüht, die Welt zu erklären. Einer von ihnen (Karl Marx aus Trier) wollte sie sogar verändern. Beides ist ihnen nicht zu 100% gelungen. Man kann das als Nachteil oder als Vorteil ansehen  ̶ ganz nach Standpunkt. Die Schwierigkeiten, die Weltveränderer manchmal hatten, ergaben sich daraus, dass die Welt nicht so war, wie sie glaubten, dass sie sei. Typischerweise scheiterten sie an der Psyche ihrer Mitbürger. Auf der gefühlsmäßigen Ebene der Menschen können Dinge eine Rolle spielen, die vom Verstand her nicht zu erklären sind. Man wird sich dessen immer mehr bewusst. Selbst anzunehmen, dass der Verstand zweier Menschen jeden Sachverhalt gleich erkennt und gleich bewertet, ist bereits sehr gewagt. Auch unter Philosophen gibt es Schulen und Schüler. Oft grenzen sie sich voneinander ab, indem sie sich gegenseitig der Ideologie bezichtigen.

PS. Dass die Stadt Trier hier mehrmals erwähnt wird, wird nur die Leserinnen und Leser überraschen, die nicht wissen, dass dies die Heimatstadt des Autors ist. Etwas Werbung für die Region sei mir gestattet. Übrigens, das Wort Geplänkel stammt aus dem Militärischen. Im übertragen Sinne ist es ein Wortgefecht von geringer Dauer.

3 Kommentare:

  1. Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

    jede Gesellschaft braucht Persönlichkeiten, die als Quelle wissenschaftlicher Einsichten gelten. René Descartes und David Hume gehörten zu diesem 'erlauchten' Kreis ihrer Epochen.

    René Descartes (1596-1650) versuchte als Erster, menschlichen Geist und Körper als Einheit darzustellen. Studenten lachen heute, wenn in der Vorlesung erwähnt wird, dass Descartes annahm, dass die Zirbeldrüse, ein kleine Struktur im menschliche Gehirn, der Sitz der Seele sei. Dabei war Descartes mit seinen Überlegungen den gängigen 'verstaubten' religiösen Vorstellungen des ausgehenden Spätmittelalters weit voraus.

    Von Descartes stammt der berühmten Satz „cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich.“). Descartes bemerkt in seinen „Abhandlungen über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung„ „dass diese Wahrheit 'ich denke, also bin ich' so fest und sicher wäre, dass auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte, annehmen“.

    Es gibt Vermutungen, dass Descartes' Äußerung „cogito ergo sum“ vielleicht nur ein kluges Manöver war, um sich mit damals führenden Vertretern der Kirche zu arrangieren. Auch wenn dem so war, Descartes war überzeugt, dass Geist und Körper verschiedenen Welten mit unterschiedlichen Substanzen angehörte. Der Geist gehört zur Welt der 'denkenden Substanz' (res cogitans), der Körper gehört zur Welt der 'nichtdenkenden Substanz' (res extensal). Körper besitzen Ausdehnung und verfügen über mechanische Teile. Übrigens haben sich einige Vorstellungen Descartes bis heute erhalten. „Die cartesianische sogenannte dualistische Vorstellung von einem körperlosen Geist ist wohl auch Grundlage für die heutige Metapher vom Geist als Softwareprogramm.“ (Antonio Damasio: „Descartes Irrtum“)

    David Hume (1711-1776) vertrat beachtlich moderne Vorstellungen für ein Gesellschaftssystem. Detmar Doering hat die Schriften Humes nach Auszügen durchforstet, die es gestatten, in gebündelter Form und ohne umfassendes Studium "die ganze Bandbreite des Humeschen Denkens in Zitaten aufzuzeigen" („Vernunft und Leidenschaft. Ein David-Hume-Brevier“). Doerings Aussagen umfassen viele Rubriken wie Freiheit, Recht, Staat, Politik, Wirtschaftspolitik, Kultur und Religion.

    Humes Einstellung zum Wesen des Staats entsprechen bereits organisch orientierten demokratischen Vorstellungen: "An sich ist Gesellschaft ohne Regierung einer der natürlichsten Zustände der Menschheit." Im Staat müssten allgemeine Regeln helfen, die Macht zu kontrollieren und zu begrenzen: "Eine Verfassung ist nur insoweit gut, als sie ein Mittel gegen schlechte Amtsführung bietet." Denn: "Demokratien sind turbulent." Humes Einstellungen zur Wirtschaftspolitik orientieren sich an den Vorstellungen seines engen Freundes Adam Smith, mit dem er in regem intellektuellem Austausch stand. Adam Smith hat seine organisch orientierten ökonomischen Vorstellungen in dessen Hauptwerk „Wohlstand der Nationen – Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen“ (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations) dargestellt. Zu Smiths Zeiten galten Vorteile der 'unsichtbaren Hand des Marktes' noch als gerechtfertigt.

    Die meisten aktuell populären Philosophen gehören wohl eher nicht zum Kreis von Persönlichkeiten, die zu wichtigen aktuellen Wissensinhalten beitragen. Einige herausragende Vorstellungen im Sinne moderner 'Aufklärung' kommen von Beiträgen wie etwa des Informatikers Franz-Josef Radermacher, des Biophysikers Bernd-Olaf Küppers oder des Neuroethikers Thomas Metzinger.

    PS: Harald Welzers Beiträge sind meines Erachtens nicht der Rede wert. Ein Buch von ihm in meiner kleinen Bibliothek sei ein geruhsamer Schlaf vergönnt.

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  2. Bei einer Fernseh-Diskussion äußerte der Wissenschaftspublizist Ernst Peter Fischer (*1947) folgenden beachtlichen Satz: ‚Bei Kant stammten Anschauung und Begriffe aus Königsberg; bei Darwin stammte die Anschauung von den Galapagos, die Begriffe jedoch aus dem viktorianischen England‘.

    Wir vergessen immer wieder, wie einfach es Kant noch hatte. Hätte es damals die Naturwissenschaften und die Technik im heutigen Umfang gegeben, wäre Kants Denken vermutlich etwas anders ausgefallen.

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    1. Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

      Ihre Aussagen hinsichtlich Kants und Darwins Einstellungen lassen zusätzliche Interpretationen zu:
      1. Kant war 'nur' ein typischer Vertreter der philosophischen Zunft seiner Zeit in Königsberg, der sich als typisch deutsch denkende Persönlichkeit vorwiegend moralphilosophischen Prinzipien widmete.
      2. Heutige Verfechter Kants würden andere Vorstellungen vertreten, würden sie zu der Einsicht gelangen, dass Kant sich naturwissenschaftlichen und technischen Wissensinhalten gewidmet hätte, wären ihm solche (wie heute) interessant erschienen und verfügbar gewesen.
      3. Die Frage steht im Raum: Wieso widmen sich viele heutige Vertreter der philosophischen Zunft ausschliesslich abstrakten Prinzipien (z.B. "theory of science"), anstatt plausible Aussagen zu machen, die moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse reflektieren?

      Ich bin schon länger zu der Erkenntnis gelangt, dass die meisten heutigen Vertreter der philosophischen Zunft Vorstellungen verbreiten, die aktuellen Problemstellungen unserer Zeit nicht gerecht werden und zu deren Lösungen nichts beitragen.

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