Dieser Tage blätterte ich in dem Buch [1],
das zum Abschluss eines frühen Digitalisierungsprojekts verfasst wurde. Das
Projekt hieß MeDoc, lief von 1994-1997 und hatte 30 deutsche Hochschulgruppen
und 20 Verlage zusammengebracht, um der Digitalisierung auf die Sprünge zu
helfen. Ich zitiere im Folgenden aus dem letzten Kapitel, das die Überschrift
‚Zukunft der Wissensversorgung‘ trägt. Die wiedergegebenen Texte in den
ausgewählten Unterkapiteln habe ich nicht an die neue deutsche Rechtschreibung
angepasst. Auch habe ich für die dort zitierte Literatur hier keine
Detailreferenzen angegeben.
Realistische technische Visionen
„We can even imagine building the ultimate
personal assistant consisting of ‘on-body’ computers that can record, index,
and retrieve everything we’ve read, heard and seen” G. Bell and J.N. Grey
(1997)
Wer Visionen hat, der gehe zum Arzt oder zum
Psychiater, so heißt es spöttisch. Gemeint sind dann optische Halluzinationen.
Das Wort hat aber auch noch eine zweite Bedeutung. Als Visionen in diesem
zweiten Sinne bezeichnen wir alle die Vorstellungen, die jemand von zukünftigen
Dingen hat. Wichtig sind dabei besonders die Dinge, die mit großer
Wahrscheinlichkeit auf uns zukommen werden und die einen großen Einfluß haben
können. An sie sollten wir uns heranwagen und mit ihnen beschäftigen. Bei
Visionen wollen wir uns zunächst auf technische Entwicklungen beschränken, die
heute schon erkennbar sind. Sie entsprechen meist dem generellen technischen Trend,
die Dinge kleiner und schneller zu machen. Es gibt dafür meist heute schon
Prototypen. In fünf bis zehn Jahren wird ihr Einfluß im Markt bemerkbar sein.
Die folgenden Entwicklungen halten wir für realistisch:
- Tragbare Terabyte-Speicher: Wir werden auf
kleinstem Raum immer mehr Information speichern können. Wir werden tragbare
Geräte haben mit einer Speicherkapazität im Terabyte-Bereich. Solche Speicher
können alle Bücher einer Handbibliothek aufnehmen, sowie alle Lieblings-Musikstücke
und Filme. Wir können das Gerät auf Reisen mitnehmen.
- Ein Terabyte-ROM unter einem €: Große
Speicher werden so billig sein, daß wir den Datenträger ähnlich wie heute eine CD-ROM
verschenken können. Dieses Medium wird, auf den gespeicherten Inhalt bezogen,
erheblich billiger sein als Papier. Nur wenn etwas besonders feierlich oder
förmlich sein soll, wird es auf Papier dargestellt.
- Übertragungsnetze im Bereich mehrerer
Gigabit/s: Die heute im Versuchsstadium befindlichen Gigabit-Netze (wie das
G-WIN des DFN-Vereins mit 2,5 Gbits/s) werden weit verbreitet sein. Wir können
damit einen Terabyte-Speicher öfters neuladen. Unter Umständen kann dies sogar
über Mobilfunk erfolgen, ist aber nicht entscheidend. Ein ›Netzstecker‹ an der
Wand, der so häufig zufinden ist wie ein Stromstecker, ist meistens ausreichend.
Der ›Netzstecker‹ kann sogar mit dem Stromstecker identisch sein, wenn das
Stromnetz auch für die Datenübertragung verwandt wird.
- Rechenleistung im GFLOPs-Bereich: Eine
Rechnerleistung im Bereich von einer Milliarde Gleitkomma-Operationen pro
Sekunde (Giga Floating-Point Operations per Second, Gflops) wird für Anwendungen
auch im Bibliotheksbereich verfügbar sein. Damit können Verfahren des Suchens,
der Komprimierung, der Verschlüsselung, der Visualisierung und der Analyse
benutzt werden, die heute an der erforderlichen Rechnergeschwindigkeit scheitern.
- Eingenähte Rechner: Rechner sind nicht mehr
immer als technisches Gerät zu erkennen oder getrennt bereitzustellen. Sie sind
so klein, daß sie in Kleidungsstücke oder Tragetaschen eingenäht werden können.
Sie können auch eingeschweißt sein in Möbel, Gartengeräte,
Lebensmittelverpackungen und dgl. Wir können sie daher in Situationen
verwenden, an die heute noch nicht zu denken ist. Wir werden uns sogar daran
gewöhnen, in Konsumgüter eingebettete Rechner wegzuwerfen, so wie wir heute
verbrauchte Chip-Karten wegwerfen.
- 4B-Lesegeräte: Die Schwächen heutiger Bildschirme
werden weitgehend ausgemerzt sein. Immer flachere Bildschirme werden das Lesen
an jedem Ort ermöglichen, auch im Bad, im Bett, im Bus und am Strand (engl.:
bath, bus, bed, beach). Manche wird es freuen, daß sie zum Lesen im Bett kein
zusätzliches Licht mehr brauchen, da die Anzeige entsprechend eingestellt
werden kann. Die Geräte können die Form einer Brille haben, so daß die Darstellungsfläche
bei den Bewegungen des Kopfes mitgeht. Diese Lesegeräte werden im Wettbewerb
stehen mit PCs (Laptops oder Palmtops) und Mobiltelefonen, von denen aus man
auch surfen und Post versenden kann, sowie mit immer leichter werdenden
tragbaren Fernseh-Monitoren.
- Elektronisches Papier: Es gibt im Versuchsstadium
(am MIT und bei Xerox) mehrere Varianten von sogenanntem elektronischen Papier.
In allen Fällen wird eine Fläche elektronisch verändert, die fürj eden Bildpunkt
mit winzigen Farbkugeln bestückt ist. Diese werden wie bei einem LCD-Bildschirm
von Elektroden angesteuert und entsprechend dem zu erzeugenden Bild so gedreht,
daß entweder ihre dunkle oder die helle Hälfte nach oben zeigt. Als
Trägermaterial kann Papier oder Kunststoff dienen.
- Einheitliches Informationsgerät im Haushalt:
Im Privatbereich wird es zu einem Zusammenwachsen von Fernsehgeräten, PCs und
Spielekonsolen kommen. Zunächst wird der Fernseher PC-Funktionen bekommen, danach
die Spielekonsolen Fernseh-Funktionen. Ob einer der Gerätetypen verschwindet
ist sekundär.
- Individualisierte Auswahl und
Benachrichtigung: Vermehrte Software-Funktionen in allen erwähnten Gerätetypen
werden es ermöglichen, besser als heute zu sagen, was man wann und wie
empfangen will. Dazu gehören auch einfache Methoden und Notationen zur
Spezifikation von Informationswünschen.
- Verläßliche Übertragung und Abrechnung: Es
wird Hardware- und Software-Lösungen geben, die alle Sicherheitsanforderungen
des Nutzers und des Anbieters zufriedenstellend erfüllen. Es steht einer
elektronischen Abrechnung von Informationsprodukten nichts mehr im Wege.
- Akzeptierte elektronische Zahlungsmittel: Aus
der Vielzahl der elektronischen Zahlungssysteme, die heute in der
Einführungsphase sind, werden sich zwei oder drei Systeme so weit entwickelt
haben, daß man sich auch im privaten Bereich auf sie verlassen kann.
- Mengenunabhängige Übertragungstarife: Die Zunahme
der übertragenen Datenmengen macht Tarife unattraktiv, die von der Zeit der
Nutzung oder der Menge der übertragenen Daten abhängig sind. Ein Festpreis für
eine bestimmte Bandbreite pro Monat ist üblich. Dies erlaubt dann auch im privaten
Bereich eine dauernde Online-Verbindung (auch Evernet genannt).
Alle diese Beispiel stellen keine revolutionären Durchbrüche dar, sondern sind Extrapolationen eines bereits vorhandenen Trends. Nur das letzte Beispiel ist nicht auf bereits erkennbare technische Entwicklungen zurückzuführen, kann aber trotzdem eine enorme Auswirkung auf das Marktgeschehen haben. Genau diese Situation verschaffte in den USA, wo Ortsgespräche kostenlos sind, der privaten Nutzung des Internets einen großen Auftrieb. Es gibt auch Warner, die argumentieren, daß mengenunabhängige Tarife (engl.: flat rates) nur eines produzieren, nämlich Stau. Es kommt nicht derjenige Teilnehmer in den Genuß des Dienstes, der ihn am nötigsten hat (wie immer das definiert ist), sondern der mit der größten Geduld.
Das am Kapitelanfang wiedergegebene Zitat von
Bell und Gray [BG97] deutet die Möglichkeit an, daß wir technisch bald in der
Lage sein werden, alle Daten, mit denen wir innerhalb eines menschlichen Lebens
in Berührung gekommen sind, auch zu speichern und maschinell auszuwerten. Wenn
davon gesprochen wird, daß im Internet heute bereits etwa hundert mal soviel
Information zur Verfügung steht wie in allen konventionellen Bibliotheken der
Welt zusammen, so kann sich dieses Verhältnis in weiteren zehn Jahren auf 1000:1
verändern. Möglich ist auch, daß langfristig digitale Informationen etwas an
Bedeutung gegenüber analogen Informationen verlieren, wenn Sensoren und Aktoren
so klein sind, daß sie überall eingesetzt werden können. Als Quelle von Daten
kann man sich die Umwelt, den Haushalt, ja den ganzen menschlichen Körper
vorstellen. Basierend auf dieser Überlegung kommt Saffo [Saf97] zu dem Schluß,
daß in Zukunft analoge Daten eine ganz neue Rolle spielen werden. Die
Geschichte der Technik ist dadurch bestimmt, daß immer wieder
nicht-vorhersagbare, also überraschende Entwicklungen stattfanden. Diese sind
natürlich in der obigen Auflistung nicht enthalten. Es gibt aber keinen Grund
anzunehmen, daß es diese nicht mehr geben wird.
Abb 18.1: Von Informatik betroffene Nutzerzahlen
nach Moschalla
Was die erwähnten technischen Entwicklungen vor
allem verändern werden, ist die Tiefe der Durchdringung unseres Alltags und
unseres Berufslebens mit Informatik-Lösungen. Ebenso kann man nach der Breite
der Durchdringung fragen. Bei dieser Sichtweise wird betont, von welcher Stufe
der Entwicklung wieviele Nutzer betroffen sind. Eine solche Betrachtung gibt
Abb. 18.1, die auf Moschalla zurückgeht und von Seitz [Sei98] zitiert wird. Das
Bild zeigt die Entwicklung der Informationstechnik in vier Wellenbewegungen mit
immer steigender Anzahl der betroffenen Nutzer. Für Leser dieses Buches dürfte
es keine Überraschung sein, daß es die Phase der Inhalte ist, die bevorsteht
und die den größten Einfluß haben wird. Natürlich sind Wissensprodukte der
kleinste Teil dieser Inhalte; die Unterhaltung (für die vergrößerte Freizeit)
und die Werbung (für alles, was Privatleute oder die Wirtschaft brauchen können
oder auch nicht) werden dominieren. Wir hoffen allerdings, daß Wissensprodukte
nicht die Chance versäumen, sich einen Anteil zu sichern.
Wunschträume und Utopien
Im Gegensatz zu Visionen stehen Wunschträume
und Utopien. Wunschträume hat jeder Mensch. Es sind die Dinge, die man gerne
haben möchte, obwohl man weiß, daß man zuviel verlangt. Utopien sind etwas
ernster zu nehmen. Sie basieren meistens auf starken Überzeugungen. Sie
überzeichnen oft einen Aspekt, um auf die Gefahr einer bestimmten Entwicklung
hinzuweisen. Sie dienen manchmal aber auch dazu, um Ängste zu erwecken oder
Partner unter Druck zu setzen. Wenn sie gar benutzt werden, um damit Politik zu
betreiben oder Polemik zu machen, ist es ratsam zu warnen. Welches der
folgenden Szenarien als Wunschtraum oder als Utopie einzustufen ist, sei dem
Leser überlassen. Wir wollen hier darauf hinweisen, warum es sehr
unwahrscheinlich ist, daß diese Entwicklung eintritt.
- Information zum Nulltarif: Durch die neuen
Medien wird die Verteilung von Information billiger als bisher. Das heißt aber
nicht, daß sie gar nichts kostet. Die Kosten der Erzeugung, Aufbereitung und
Qualitätssicherung verändern sich nicht. Bei einigen neuartigen
Informationstypen (z.B. Multimedia) werden sie sogar steigen. Auch das
Speichern und Vorhalten verursacht Kosten, wenn auch mit abnehmender Tendenz.
Schließlich erwarten die meisten Autoren eine angemessene Vergütung.
- Autoren als Verleger: Jeder Autor hat die Möglichkeit,
sein Erzeugnis selbst ins Netz zu stellen und abrufen zu lassen. Ein Autor mag
dies tun, wenn er so bekannt ist, daß die Qualität seiner Werke von vornherein
außer Zweifel steht. Daß er dann auf eine wirtschaftliche Verwertung vollkommen
verzichtet, ist eher selten. Genauso selten dürfte das Interesse sein, das
Inkasso selbst vorzunehmen. Entscheidend ist jedoch, daß Publikationen nicht nur
für Autoren sondern auch für Leser da sind. Als Leser kann man gegenüber einem
unbekannten Autor, der selbst publiziert,nicht skeptisch genug sein.
- Selbstorganisation der Wissenschaft:
Wissenschaftler treten sowohl als Autoren wie als Nutzer auf. Genauso wenig,
wie sie als Autoren alle Aufgaben eines Verlegers übernehmen werden, ist damit
zu rechnen, daß sie bezüglich der Nutzung neuer Medien auf die Dauer als
Selbstversorger auftreten werden. Etwas ganz anderes ist es, daß gewisse
Aufgaben vom Dienstleister zum Endverbraucher hin verschoben werden, wie etwa
das Wählen eines Teilnehmers beim Telefonieren. Der Dienstleister (in dem
Beispiel die Telefongesellschaft) kümmert sich besser um höherwertige Aufgaben.
Sollte die Wissenschaft glauben, daß gerade sie ohne Dienstleister auskommt,
tut sie sich bestimmt keinen Gefallen.
- Retro-Digitalisierung aller Werke: Es gibt Autoren,
die das Prinzip der digitalen Bibliothek dadurch ad absurdum führen wollen, daß
sie vorrechnen, was es kosten würde, alle jemals geschriebenen oder gedruckten
Werke zu digitalisieren [Zim97]. Aus Sicht der Natur- und
Ingenieurwissenschaften ist es das Ziel digitaler Bibliotheken, die Verteilung
neuer Veröffentlichungen besser als bisher zu regeln. Die Retro-Digitalisierung
ist ein untergeordneter Aspekt. Wenn aus bibliothekarischer Vorsicht selektiv
einige vorhandene Dokumente digitalisiert werden, dient dies der verbesserten
Zugänglichkeit dieser Dokumente und dem Schutz gegen unsachgemäße Behandlung, Verlust
und Diebstahl.
- Universelle Weltbibliothek: Es ist im Prinzip
denkbar, daß alle digitalen Bibliotheken der Welt einen Verbund bilden, in dem
alle Bestände zugänglich sind. Heute gibt es bereits mehrere regionale
Verbünde, deren Kataloge miteinander verknüpft wurden. Daraus kann sich eine
Tendenz ergeben, auch bei Neuanschaffungen eine stärkere Abstimmung
vorzunehmen, um dadurch unsinnige Kosten zu vermeiden. Das Ziel, alle
Bibliotheken der Welt auf diese Art zur Zusammenarbeit zu bringen, ist weder
vordringlich noch leicht erreichbar.
- Perfekte Personalisierung: Manche Leute
hoffen, daß es intelligente Programme geben wird, die allein durch die Beobachtung
unseres Verhaltens genug lernen können, um uns bei der Wissensversorgung
effektiv zu unterstützen. Oft knüpfen sich solche Vorstellungen an den Begriff
der mobilen Agenten. Gemeint sind damit Programme, die aufgrund eines recht
vagen Auftrags im Internet eine (mehr als nur triviale) semantische Suche
betreiben oder andere Aufgaben lösen sollen. Es ist sehr zu bezweifeln, daß
diese Anwendung außer in ganz speziellen Beispielen große Erfolge aufweisen
wird. Erfolge sind nämlich nur da zu erwarten, wo das benötigte Weltwissen sehr
klar beschränkt ist. Den ›gesunden Menschenverstand‹, also Allgemeinwissen, nachzubilden
ist bisher noch nicht gelungen und wird auch noch einige Zeit in Anspruch
nehmen.
Man könnte auch diese Liste noch fortsetzen.
Sie enthält alle diejenigen Beispiele, mit denen Bibliothekare oft konfrontiert
werden. Daß wir diese Beispiele als Wunschträume oder Utopien ansehen, hängt
damit zusammen, daß wir entweder die technischen oder die wirtschaftlichen Voraussetzungen
etwas anders einschätzen.
Auf dem Weg zur Wissenswirtschaft
Nachdem das Feld der zu erwartenden
technischen Lösungen etwas eingegrenzt wurde, wollen wir uns jetzt einige
Gedanken zum Anwendungsgebiet selbst machen. Zu diesem Zweck werden einige
Szenarien abgeleitet, die wir für wahrscheinlich halten. Sie betreffen Wissen
und Wissensversorgung an sich. Daß wir zuerst über die mögliche technische
Entwicklung und dann über deren Auswirkungen auf ein Anwendungsgebiet sprechen,
mag manchem Leser etwas willkürlich erscheinen, ist es auch. Die meisten Trends,
über die hier berichtet wird, sind nämlich unabhängig von den technischen
Lösungen, die dafür zur Verfügung stehen. Die Situation, die am
wahrscheinlichsten eintrifft, ergibt sich aus dem Zusammentreffen der beiden
Entwicklungen. Wir möchten unsere Vorstellungen von der Zukunft der
Wissensversorgung durch folgende Szenarien umreißen:
- Die Menge des Wissens der Menschheit wird weiter steigen, vermutlich
sogar geometrisch. Besonders betroffen davon sind Medizin, Biologie, Natur- und
Ingenieurwissenschaften. Es ist sinnlos zu versuchen, dies zu verhindern oder
zu leugnen. Einzelne werden es trotzdem tun.
- Die Bedeutung des Wissens für das Leben in der Gesellschaft und das
Funktionieren der Wirtschaft wird zunehmen. Auch Firmen müssen sich verstärkt
um Wissens-Management kümmern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wissen wird als
Motor der Wirtschaft und als Regulativ der Gesellschaft stärker als bisher
anerkannt.
- Der Einzelne hat als Teilnehmer am Wirtschaftsprozeß nur eine gute
Chance, wenn er sich sein Leben lang um die Weiterentwicklung seines
persönlichen Wissens bemüht. Da die lebenslange Beschäftigung durch dieselbe
Firma immer weniger die Regel ist, muß sich der Einzelne in stärkerem Maße als
bisher selbst um seine Weiterbildung bemühen. Er kann sich in dieser Hinsicht
nicht auf den Arbeitgeber verlassen.
- Das Angebot an Wissensprodukten wird wesentlich umfangreicher und
differenzierter sein als heute. Die aktuellsten und finanziell günstigsten
Angebote werden online, also über Kommunikationsnetze, bereitgestellt und
genutzt. Zusätzlich wird es ein vergrößertes Angebot auf Papier oder in
Frontalkursen geben. Wie in der übrigen Wirtschaft werden Markennamen den
Konsumenten helfen sich zu orientieren.
- Viele der gewohnten Schranken und Strukturen der Wissensversorgung
werden entfallen. Prozesse, die dadurch de facto vorbestimmt waren, müssen
jetzt explizit gesteuert und gelenkt werden. Wir müssen selbst entscheiden, was
wir auf Papier oder am Bildschirm lesen wollen, was wir hören statt sehen oder
mieten statt kaufen wollen. Wir müssen mehr darüber nachdenken, warum wir etwas
wissen oder gar in Dokumentform besitzen wollen. Wie müssen lernen zu
selektieren.
- Das Suchen nach relevantem Wissen wird immer schwieriger und muß von
immer mehr Leuten beherrscht werden. Diese Fähigkeit ist eine wichtige
Kulturtechnik und muß in der Jugend gelernt werden. Andererseits geht das
Beschaffen von gefundenem Wissen schneller. Auch sind die Kosten insgesamt geringer.
Es entsteht ein entsprechend großer Bedarf für Hilfen und Dienstleistungen.
- Die Globalisierung des Wissensmarkts, vor allem in Medizin, Biologie,
Natur- und Ingenieurwissenschaften nimmt weiter zu. Trotz des Einflusses der
europäischen und anderer übernationaler Organisationen wird in den
Gesellschaftswissenschaften (Jura, Volkswirtschaft) und Geisteswissenschaften
(Germanistik, Philosophie) weiterhin das nationalsprachige Wissen eine große
Rolle spielen. Ansonsten beschreiben englisch-sprachige Dokumente die
entscheidenden Neuerungen.
Diese Szenarien unterstreichen das in der
Einführung zitierte Leitbild der Wissensgesellschaft. Es gibt
Wirtschaftswissenschaftler, die in diesem Zusammenhang von einer
Wissenswirtschaft als einer vierten, einer quartären Wirtschaftsstufe sprechen.
Bei Bürgel und Zeller [BZ98] sind diese vier Wirtschaftsphasen wie in Tab. 18.1
dargestellt.
Tab 18.1 Phasen der Wirtschaftsentwicklung nach
Bürgel und Zeller
In dieser Darstellung ist die vierte Phase
dadurch charakterisiert, daß Wissen als Produktionsfaktor für 60% bis 80% der Wertschöpfung
verantwortlich ist. Entsprechend steigt der Anteil der Wissensarbeiter.
Wörtlich heißt es: »Die entscheidenden Engpaßfaktoren im Wertschöpfungsprozeß
sind nicht mehr (physische) Arbeit und Kapital, sondern Information und
Wissen«. Für den Forschungs- und Entwicklungsbereich der Industrie gipfelt
diese Betrachtungsweise in der folgenden Aussage: So wie heute bei vielen
Industriefirmen die Hardware-Entwicklung von der Software-Entwicklung verdrängt
wird, wird dann die Software-Entwicklung von der Wissensentwicklung verdrängt werden.
Nicht nur für Informatiker ist dies eine sehr provokante, zum Nachdenken
anregende Aussage!
Interessant ist auch, daß von diesen Autoren
die Wissenswirtschaft nicht als Teil der Dienstleistungswirtschaft angesehen
wird, wie es die meisten Leute tun, sondern als deren Weiterentwicklung.
Unterschiedliche Volkswirtschaften werden sich zu unterschiedlichen Zeiten und
in verschiedenem Ausmaße in diese Phase hineinbewegen. Zu einer ganz ähnlichen
Aussage kommt Friedman [Fri99]. Er formuliert es so: »Wir können annehmen, daß
in den folgenden Jahrzehnten die Anziehung von intellektuellem Kapital und der
Umgang damit darüber entscheiden werden, welche Institutionen und Staaten
überleben und aufblühen werden und welche nicht«. Hoffen wir, daß unsere
Wirtschaft die richtigen Prioritäten setzt!
Chancen der zukünftigen Entwicklung
Für viele Menschen mag die
Wissensgesellschaft eine positive Weiterentwicklung unserer Gesellschaft
darstellen, ausgehend von den Idealen der Aufklärung. Wieweit eine Gesellschaft
bereit ist, die entsprechenden Szenarien als Teil der gewünschten Zukunftzu
akzeptieren, wirddarüber entscheiden, welchen Wohlstand sie erreicht und welche
Rolle die entsprechende Region in einem Lande oder das Land in der Welt spielen
wird. Die technische Entwicklung beeinflußt die wirtschaftliche und die
gesellschaftliche Entwicklung, und umgekehrt. Hier sollen zunächst die Chancen
betrachtet werden, also die positiven Entwicklungen, die gesellschaftlich
wünschenswerte Auswirkungen haben könnten:
- Stellenwert des Wissens: Die neuen
Möglichkeiten machen Wissen zum Konsumartikel. Es wird von überall her
angeboten. Es wird wohlfeil. Ob es als Ware oder als Gemeingut erscheint, das
entscheidet der globale Markt, nicht die deutsche Kultusministerkonferenz.
Durch das Überangebot kann sich der Stellenwert verändern. Es kann sein, daß er
sich verringert. Zu hoffen ist, daß er sich erhöht. Eine Verdopplung der Zahl
der Bibliotheken in Deutschland ist sicher nicht zu erwarten, eher schon eine
Verdopplung der Bibliotheksnutzer.
- Stärkung der Wissenselite: Da es leichter
ist, an das notwendige Wissen zu gelangen, können sich mehr Menschen leichter und
schneller für hochwertige Tätigkeiten qualifizieren. Der Prozentsatz der
Berufstätigen, die man als Wissensarbeiter ansieht, steigt. An die Inhalte des
Wissens heranzukommen, wird nicht schwerer sein, als einen Fernseher
einzuschalten. Ob man mit dem Gebotenen etwas anfangen kann, ist eine Frage,
die sich an der Vorbildung und der Lernbereitschaft entscheidet. Die
Erschließung und Verbreitung von Wissen ist ein Prozeß, der sich selbst
antreibt und beschleunigt.
- Durchlässigkeit der Gesellschaft: Wissen
erwerben zu können, ist in Zukunft immer weniger ein Privileg. Entscheidend ist
nicht mehr Herkunft und familiäre Situation, sondern nur die Fähigkeit und die
Bereitschaft, Wissen aufzunehmen. Beides zu beeinflussen, ist die Aufgabe von
elterlicher Erziehung und schulischer Grundausbildung. Ob man seine Zeit lieber
mit anderen Tätigkeiten verbringt, ist eine Frage der Einstellung. Angebote,
die einen ablenken können, wird es reichlich geben, und zwar erheblich mehr als
für die Vertiefung des Wissens. Daß die verbesserte Durchlässigkeit auch die
Demokratisierung in Wirtschaft und Gesellschaft stärkt und festigt, ist
anzunehmen.
- Neue Arbeitsplätze: Diejenigen Branchen, die
in das neue Geschäft einsteigen, werden unmittelbaren Nutzen daraus ziehen. Es
wird Verlage geben, die einige Gigabytes an Information pro Woche verkaufen und
Bibliotheken, die mehrere Millionen Zugriffe pro Monat haben. Neue
Arbeitsplätze werden in diesen Branchen möglicherweise in wesentlich geringerem
Umfange geschaffen als durch die De-Industrialisierung anderswo verloren gehen.
Sicher werden die neuen Kernberufe und die kreative Wertschöpfung durch
zusätzliche lokale Dienstleistungen ergänzt (wie die Pizza-Lieferung für die
Wissensarbeiter). Entscheidend ist jedoch, daß die Leistungsfähigkeit und damit
das Beschäftigungsniveau der ganzen Wirtschaft nur so zu halten und zu
verbessern sein wird.
- Schneller Aufschluß der Entwicklungsländer:
Die Chancen sich weiterzubilden und damit wirtschaftlich Anschluß zu finden,
werden für immer neue Personengruppen eröffnet. Das gilt vor allem für ländliche
Gebiete und für Entwicklungsländer. Indem Entwicklungsländer sich schneller
selbst versorgen, entfallen zwar die finanziellen Belastungen und die
Zuwanderungsgefahren für die entwickelten Regionen. Allerdings verschärft sich
auch der Wettbewerb um hochqualifizierte Tätigkeiten und Produkte.
Ob diese Chancen genutzt werden, liegt
einerseits in der Hand der Betroffenen, andererseits in der Bereitschaft der
Gesellschaft, diese Chancen für ihre Mitglieder zu öffnen. Chancen sind Möglichkeiten.
Man kann sich auch entschließen, sie nicht auszunutzen. Man kann es aber auch
einfach versäumen. Zu hoffen ist, daß beides nicht geschieht.
Risiken der zukünftigen Entwicklung
Es gibt keine Entwicklung, die nicht auch
Risiken in sich birgt. Risiken sind die Fallen, in die man geraten kann. Sie
können die gewünschte Entwicklung entweder verhindern, verzögern oder in eine
andere Richtung lenken. Manche Risiken sind sehr naheliegend, auf andere kommt
man erst durch Vergleich mit anderen Fachgebieten. Daß die Liste länger
geworden ist als die der Chancen, sollte niemanden beunruhigen:
- Technische Fehleinschätzung: Bei jeder
technischen Entwicklung gibt es ein Zeitfenster, während dessen ein Einstieg
möglich ist. Aufgrund von Fehleinschätzungen der relativen Bedeutung einer
Entwicklung kann man den Anschluß verpassen. Als Folge davon würden vermutlich
ausländische Anbieter in diese Lücke eintreten. Die Globalisierung der Märkte
gleicht die Fehler einzelner Teilnehmer aus.
- Neue Techniken nur für
Unterhaltungsindustrie: Die neuen Techniken sind auch für andere
Anwendungsgebiete lukrativ und anwendbar, etwa für die Unterhaltung. Genau wie
sich vor 40 Jahren die deutsche Elektroindustrie mehr für
Unterhaltungselektronik als für Datenverarbeitung interessierte, kann man auch
jetzt wieder der Anwendung digitaler Medien in Unterhaltung und Werbung den
Vorzug geben. Kein Zweifel, daß Unterhaltung einen größeren Markt hat und sich
leichter verkaufen läßt.
- Verzettelung bzw. Fehlen kritischer Masse:
Die föderale Struktur des deutschen Bildungswesens und damit des
Bibliothekswesens kann dazu führen, daß viele kleine Projekte durchgeführt
werden, die nicht kooperieren oder aufeinander abgestimmt sind. Der lokale
Egoismus führt dann zu einer Verzettlung von Kräften und verhindert das
Entstehen einer kritischen Masse, die einen bleibenden Einfluß hat und eine
Kooperation mit internationalen Aktivitäten gestattet.
- Nicht-technische Bedenken / Technik-Kritik:
Viele technisch kompetente Diskussionspartner halten sich zurück, weil sie das
Gefühl haben, auf die emotionalen Widerstände von Technik-Kritikern und
Buch-Romantikern zu stoßen, oder aber sie haben Angst vor den Drohgebärden der
Rechteinhaber, die bezüglich der Urheberrechtsfrage nicht zu überwindende Hürden
aufbauen.
- Blockade durch große Unternehmen: Die
international stattfindende Konzentration der Verlage und der Software-Industrie
kann dazu führen, daß sich Unternehmen gegenseitig blockieren statt dafür zu
sorgen, daß es zu einer schnellen und regulären Entwicklung des Marktes kommt.
Hier ist zu hoffen, daß die Nutzer und ihre Interessenvertreter
(Fachgesellschaften) sich dem entgegenstellen oder aber daß der Markt durch
Neugründungen für genügend Auflockerung sorgt.
- Totale Überwachung: Oft besteht die Angst,
daß die elektronische Wissensversorgung auch die Überwachung im Sinne der
Orwellschen Utopie fördert. Eine digitale Bibliothek, deren man sich öfters
bedient, weiß mehr über die Wünsche und Bedürfnisse des Kunden als etwa der
Buchhändler um die Ecke. Nachdem das Jahr 1984 vorbei ging, ohne daß wir vom
›Großen Bruder‹ überwacht werden, ist diese Angst etwas geringer geworden. Die
beste Sicherheit des Bürgers besteht darin, daß er den Dienstleister wechseln
kann, sobald er Anlaß hat, ihm zu mißtrauen.
- Überforderung des Staates: Gerade bei der
digitalen Wissensversorgung neigen viele Bürger dazu, neue Forderungen an den
Staat zu stellen. Sie halten dieses Gebiet für zu wichtig, um es allein den
Kräften des Marktes zu überlassen. Das Rufen nach mehr Staat ist aber
angesichts einer Staatsverschuldung von über 1.500 Milliarden DM nicht sehr
opportun. Schlecht wäre es, wenn aus diesem Grunde gar nichts geschähe.
Welches dieser Probleme akut oder gar
bedrohlich wird, hängt von vielen Faktoren ab. Im Grunde sind alle diese
Fehlentwicklungen stets als latente Gefahr vorhanden. Ist man sich eines
Risikos bewußt, kann man eher gegensteuern. Die technische Entwicklung wird oft
als eine Art von Naturgesetz angesehen. Das ist aber eine bewußte Übertreibung,
die den Einfluß von Individuen und Gruppen ignoriert. Der Eindruck einer
zwangsläufigen Entwicklung kann am ehesten entstehen, wenn eine genügend große Anzahl
von Akteuren tätig ist, die sich gegenseitig herausfordern. Wären es nur
wenige, könnten sie sich einigen und beschließen, den Wettlauf zu reduzieren
oder gar einzustellen. Genau wie die Aufklärung als Gegenreaktion die Romantik
auslöste, ist es nicht auszuschließen, daß die Wissensgesellschaft nicht von
allen Menschen mit Freunde akzeptiert wird und daher Gegenreaktionen
hervorruft.
Peter Glotz [Glo99] sieht sogar einen neuen
Kulturkampf kommen zwischen den Beschleunigern und den ›Entschleunigern‹. Die
Entschleuniger sind die Aussteiger, die sich der Globalisierung entziehen und
dem wirtschaftlichen Streben die Beschaulichkeit und die Verinnerlichung
entgegensetzen. Ob dies einmal eine Bewegung wird, die bestimmenden Einfluß hat,
sei dahingestellt. Hier wurde darauf verzichtet, einen daraus entstehenden
Konflikt näher auszumalen, statt dessen wurden Chancen und Risiken einander
gegenüber gestellt. Auch soll hier nicht die Meinung vertreten werden, daß alle
Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise in der Lage sind, sich den
Anforderungen einer Wissensgesellschaft anzupassen. Das war in anderen Phasen
der Menschheitsgeschichte, in denen eine große Umstellung erforderlich war,
genauso wenig der Fall. Mal war der flinke Jäger besser dran, mal der geduldige
Ackerbauer. Eine freie Gesellschaft sollte jedem Mitglied die Möglichkeit
geben, sich im Rahmen seiner Begabungen und Interessen zu verwirklichen. Die
soziale Komponente unserer heutigen Gesellschaft zeigt sich darin, daß
körperlich Schwache, Kranke und Behinderte nicht ausgegrenzt werden. In Zukunft
– so meinen einige von denen, die darüber nachdenken – könnten die Talentierten
sogar eine teilweise Mitverantwortung für die Nicht-Talentierten übernehmen.
Referenz
- Endres,A., Fellner,D.W.: Digitale
Bibliotheken. Heidelberg: 2000; 494 S.; ISBN 3-932588-77-0