Das
1953 von Karl Ganzhorn (1921-2014) gegründete
Entwicklungslabor der IBM Deutschland in Böblingen erlebte bis in die 1990er
Jahre eine starke Expansion. In
seiner größten Ausbauphase hatte es rund 1000 Mitarbeiter, hauptsächlich
Ingenieure, Informatiker und Physiker. Es erbrachte beachtliche Leistungen auf
vier ganz verschiedenen Gebieten der Informatik, nämlich den Halbleiter-Komponenten,
den Prozessoren und Rechnersystemen, der System-Software und den Druckern bzw. Finanzsystemen.
Böblingen erwies sich nicht nur als das am breitesten aufgestellte Labor der
IBM in Europa, es war auch das erfolgreichste von ihnen. In den Jahren zwischen
1965 und 1992 wurden auf allen vier Gebieten mehrere Generationen von Produkten
entwickelt und an mehrere Fertigungsbetriebe in Europa, den USA und Japan oder
– im Falle von Software ̶ direkt in den Markt ausgeliefert. Als Teil
der Verantwortung wurden alle Produkte bis zum Ende ihrer Lebenszeit in ihrem
weltweiten Einsatz verfolgt und betreut.
Für
jedes der vier Gebiete gebe ich im Folgenden in tabellarischer Darstellung eine
Zusammenfassung seiner Ergebnisse an, also die im Markt sichtbaren
Produktlinien. Es sind dies die maßgeblichen Kriterien und Kennzeichen seiner Leistungsbilanz.
Auf eine Beschreibung der Produkte im Einzelnen und der dazugehörenden Entwicklungsgeschichte
wird hier verzichtet. Sie sind in der Regel in den Büchern der ‚Blauen Reihe‘ sehr
gut dokumentiert. Diese wurde von Karl Ganzhorn initiiert und verlegt. In den einzelnen
Abschnitten werde ich auf den jeweiligen Band Bezug nehmen.
Gründungs- und Aufbauphase
Die
mechanische Entwicklung begann bei der IBM Deutschland 1931 in Berlin. Das Werk lag im Stadtteil Lichterfelde. Unter
Ulrich Koelm, dem technischen Direktor der "Deutschen Hollerith Maschinen
Gesellschaft mbH" wurden von dem "BK Tabulator" bereits 250
Maschinen hergestellt. Anschließend begann ein fähiger junger Ingenieur (Fritz
Gross), eine neue Buchhaltungsmaschine zu entwickeln, die zur berühmten D11
wurde. Diese Maschine konnte nicht nur drucken, sondern auch rechnen. Rund 1500
Maschinen des Typ D11 wurden in Deutschland installiert, viele sogar für
eine lange Zeit nach dem Krieg. Aus dieser Entwicklung wuchs die maschinenbauliche
Fertigkeit unter der Führung von Koelm und von Walter Scharr. Nach dem Krieg
übernahm Scharr, der 1937 aus Endicott, NY, zurückgekehrt war, die mechanische
Konstruktionsabteilung in Deutschland. Sie leistete die Druckentwicklungen für
das WWAM-Projekt (Worldwide Accounting Machine) und gleichzeitig für das System/3000.
Ganzhorn hat seinen Einstieg bei IBM immer wieder schmunzelnd erzählt. Er wurde in Stuttgart
auf dem Universitätsgelände, also quasi auf der Straße, von einem Mitarbeiter
der IBM angesprochen und angeheuert. Er könne machen, was er wolle, Hauptsache Physik. Außerdem könne er in seiner Heimatstadt bleiben, in
Sindelfingen. Ganzhorns erstes größere Projekt war das System/3000. Es wurde zum
Fiasko. Die kleinen Lochkarten funktionierten zwar im Labor ganz ordentlich,
nicht jedoch beim Kunden. Das Produkt musste aus dem Markt genommen werden. Als
er von Thomas J. Watson zum Rapport gebeten wurde, rechnete er mit seiner
Entlassung. Watson ermahnte ihn lediglich, sich nie wieder ein Produkt vom
Vertrieb aus der Hand reißen zu lassen, bevor er und seine Ingenieure voll von
seiner Qualität überzeugt seien.
Ganzhorn
fiel die Aufgabe zu, eine Lokation für ein neues Labor auszusuchen. Er hat die
ersten Gebäude bauen lassen und hat entschieden, ein von den Themen möglichst
breit angelegtes Entwicklungszentrum aufzubauen. 'Da die elektronische Datenverarbeitung in
den 50er und 60er Jahren noch in einer rudimentären Phase war, kann man darüber
diskutieren, ob das Labor damals eher ein Forschungs- oder schon ein Produktentwicklungslabor
war'. Die letzten Sätze stammen aus dem Interview mit Herbert
Kircher,
das ich kürzlich führte. Als Ganzhorn die Leitung von drei europäischen Labors
(Böblingen, Lidingö, Wien) übertragen wurde, gab er die Leitung des
Böblinger Labors an Walter Proebster ab. Nach Proebster konnte ich noch weitere
vier Laborleiter erleben, nämlich Fred Albrecht, Wolfgang Liebmann, Wilfried
Pierlo und Herbert Kircher.
Die
Gründungs- und Aufbauphase des Labors hat Ganzhorn im ersten Band der ‚Blauen
Reihe‘ dokumentiert. Sein Titel lautet: ‚The IBM Laboratories Boeblingen. Foundation
and Build-up‘. A
Personal Review by Karl E. Ganzhorn, 2000. Auszüge daraus erschienen in den
IEEE Annals [1,2].
Halbleiter-Komponenten
Als
das Labor gegründet wurde, durfte man sich sein Arbeitsgebiet selbst
aussuchen. Ganzhorn meinte, er sei
eingestellt worden, um dem vorhandenen Konstruktionsbüro für
Lochkartenmaschinen die fehlende Kompetenz in Halbleiterphysik zu verschaffen.
Für den Aufbau der Komponenten-Entwicklung hatte Ganzhorn Otto G. Folberth gewonnen,
einen erfahrenen Physiker von der Firma Siemens in Erlangen. Folberths Eintrittsdatum wurde verschoben, bis dass das neue Laborgebäude fertig war. Dessen Nachfolger
wurde Wolfgang Liebmann.
Übersicht
Halbleiter-Entwicklung
Diese Daten sind dem Band 5 der
‘Blauen Reihe’ entnommen. Er heißt: The
IBM Laboratories Boeblingen: Semiconductor and Chip development. A personal
Review by Horst E. Barsuhn and Karl E. Ganzhorn, 2005. Wie in jedem Band so findet sich auch dort eine umfangreiche Bibliographie.
Prozessoren und Rechnersysteme
Über
lange Jahre dominierte die Prozessoren-Entwicklung die Richtung und die Interessen
des Labors. Sie strahlte aus auf die Komponenten- wie auf die Software-Entwicklung.
Die Leiter dieses Bereichs waren am Anfang Ray Wooding, Fred Albrecht und Edwin Vogt, gefolgt
von Eckart Lennemann und Uli Lang.
Übersicht
System-Entwicklung
Diese
Daten entstammen dem Band 4 der ‚Blauen Reihe‘. Sein Titel lautet: Die IBM Laboratorien Böblingen:
Systementwicklung. Ein persönlicher Rückblick von Helmut Painke, 2003.
System-Software
Die
Software-Entwicklung ist der jüngste Bereich des Labors. Ihr erster Leiter war
Horst Remus, gefolgt von Walter Heydenreich und Albert Endres. Danach folgten
Sakis Tsaoussis, Helmut Lamparter, Don Casey, Reinhard Sirringhaus und Willi
Neidow.
Übersicht
Software-Entwicklung
Die
Geschichte dieses Bereichs ist dokumentiert in Band 2 der ‚Blauen Reihe‘. Er hat
den Titel: Die IBM Laboratorien Böblingen:
System-Software-Entwicklung. Mit persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen
von Albert Endres. Sindelfingen, 2001. Eine englische Version ist [3]. Über
alle Compiler-Projekte der europäischen IBM Labors berichtet [4].
Drucker und Finanzsysteme
Eine
besondere Stärke des Labors während seiner frühen Jahre war seine mechanische
Entwicklung. Sie ging später über in die Entwicklung spezieller Produkte für
die Finanzindustrie. Nach Scharr wurde Günther Schacht Leiter der mechanischen
Entwicklung. Auf sie folgten Jerry Bührmann und Roland Beyer.
Übersicht Drucker-
und Finanzsystem-Entwicklung
Die
Geschichte der Böblinger Druckerentwicklung wurde von Roland Beyer beschrieben.
Sein Beitrag hat den Titel: Produktentwicklung
mechanischer Geräte im Entwicklungslaboratorium Böblingen der IBM Deutschland.
Er ist in [5] enthalten.
Die Entwicklungen für die Finanzindustrie sind beschrieben im Band 6 der
‚Blauen Reihe‘. Er heißt: IBM
Informationstechnik für Banken und Sparkassen im 20. Jahrhundert.
Persönliche Rückblicke von R. Beyer, B. Brachtl, W. Ferger, K.E. Ganzhorn, R.
Grischy, H. Henn, K.-H. Holst, F. W. Kistermann, A. Schaal, E. Schabacker, M.
Schilling. Herausgegeben von K.E. Ganzhorn, 2006.
Erfindungen und Patent-Aktivitäten
Weitreichende
Ideen wurden immer wieder in experimentellen Umgebungen oder in
Studienprojekten evaluiert. Fanden sie nicht den Weg in Standardprodukte,
wurden sie manchmal als Sonderprodukte für Teilmärkte (etwa den deutschsprachigen
Raum und Benelux) freigegeben oder zumindest als geistiges Eigentum (engl.
intellectual property) gesichert. In der Anzahl der angemeldeten Erfindungen
und erteilten Patente hält die Firma IBM weltweit seit Jahrzehnten einen
Spitzenplatz inne. Das deutsche Labor hatte daran stets einen signifikanten
Anteil. Manche der Innovationen waren richtungsweisend für die ganze Branche.
Übersicht Patent-Anmelder des Labors
In
der Tabelle wurde die Zahl unterschiedlicher Anmeldungen gelistet. Wichtige Erfindungen
wurden meistens in mehreren Ländern (wie Deutschland, Japan und USA)
gleichzeitig angemeldet. Eine Untermenge davon ist die Zahl der erteilten
Patente. Es ist anzunehmen, dass sich dafür die gleiche Reihenfolge von
Erfindern ergibt.
Allgemeine Bewertung und Einordung
Viele der gelisteten Böblinger Produkte und Erfindungen stellten auf ihrem Gebiet den
Stand der Technik dar. Einige waren anerkannte Spitzenleistungen nicht nur innerhalb
des Unternehmens, sondern auch in der gesamten Branche. Alle Produkte mussten
sich im weltweiten Markt behaupten. Die meisten waren oft jahrelang im Einsatz.
In der Regel erreichten sie eine hohe Kundenakzeptanz. Für viele Kunden
ermöglichten sie den Einstieg in die elektronische Datenverarbeitung. Das Bestreben,
Erfindungen auch als Patente absichern zu lassen, unterscheidet die in der Industrie
tätigen Informatiker von ihren Kollegen an den meisten Hochschulen. Dort
herrscht die (meiner Ansicht nach etwas seltsame) Meinung vor, dass Veröffentlichungen
in Fachzeitschriften besser geeignet seien, die Fortschritte in der Technik und
den persönlichen Ruhm von Erfindern zu fördern als Patente.
In
der dargestellten Zeitperiode vertraten viele Kollegen bei IBM die Meinung, dass
ein wirklich attraktives Angebot für Kunden nur durch Symbiose von Hardware und
Software entstehen kann. Dieser ‚Systemgedanke‘ wurde später teilweise
aufgegeben, nachdem Microsoft den Nachweis erbrachte, dass man durch
Verallgemeinerung der Software deren Einsatzbereich über die Hardware mehrerer
Hersteller hinaus vergrößern kann. Es ist eine andere Optimierung. Nur Steve
Jobs und die Firma Apple blieben dem IBM-Ideal treu.
Fachkontakte und Außenwirkung
Viele
Mitarbeiter des Böblinger Labors fanden hohe Anerkennungen im weltweiten
Unternehmen, in der Branche, aber auch in der Wissenschaft. Die Erfahrungen der
Anfangszeit bildeten die Grundlage für den Erfolg des Labors, der bis heute
anhält. Es entstanden langfristig gesicherte und technisch sehr anspruchsvolle
Arbeitsplätze für Informatiker und Ingenieure.
Während
des Berichtszeitraums bestanden intensive Kontakte zu mehreren Forschergruppen
an deutschen Hochschulen, aber auch zu den Forschungs- und Entwicklungslabors
der IBM in den USA und in Europa, insbesondere zum Forschungslabor in Zürich
und dem Wiener Labor. Die Übertragung von Wissen erfolgte bevorzugt durch den temporären
oder dauernden Austausch von Personal. Des Weiteren bestanden enge Kontakte zum
Wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Heidelberg, zum Programmproduktzentrum in
Sindelfingen und zu dem LILOG-Projekt in Stuttgart.
Ausgewählte Literatur
- Ganzhorn, K. E.: The buildup of the IBM Boeblingen laboratory. IEEE Annals of the History of Computing 26,3, (July-September 2004), 4-19
- Ganzhorn, K. E.: IBM Boeblingen Laboratory: Product Development. ebda, 20-30
- Endres, A.: IBM Boeblingen’s Early Software Contributions. ebda, 31-41
- Endres, A.: Early Language and Compiler Developments at IBM Europe: A Personal Retrospection. IEEE Annals of the History of Computing 35,4 (October-December 2013), 18 – 30
- Proebster, W. E.: Datentechnik im Wandel - 75 Jahre IBM Deutschland: wissenschaftliches Jubiläumssymposium. Heidelberg 1986.
PS: Dieser Beitrag
hat Nummer 500 in diesem Blog. Er reiht sich ein in eine lange Kette teils
technischer, teils historischer Ergüsse. Auch er stellt persönliche Erfahrungen
und persönliches Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung.
Einen ganz wesentlichen Beitrag zum Erfolg des Labors hat die Infrastruktur von Böblingen - Sindelfingen beigetragen. Ich habe mich in der Zeit von 1973 bis 1983 oft gefragt, warum mir die Arbeit dort soviel Spaß macht.
AntwortenLöschenOft hat IBM die Antwort dazu geliefert, aber sicher noch mehr waren es die Menschen und die wunderschöne Umgebung.