Herbert Kircher (*1938) war
von 1986 bis 2008 zuerst Laborleiter, später Geschäftsführer der IBM
Deutschland Research & Development GmbH. Nach dem Studium der
Elektrotechnik an der Uni Stuttgart war er seit 1964 als Ingenieur im
Fertigungsbereich der IBM Deutschland tätig. Nach drei Jahren (1967) wurde er
für drei Jahre ins IBM Forschungszentrum nach Yorktown Heights, USA, abgeordnet,
um dort als Teil eines Böblinger Labor-Teams an FET-DRAM-Chips zu forschen.
Nach seiner Rückkehr aus Yorktown hatte er verschiedene Management-Positionen
im Werk Sindelfingen inne bis zuletzt als Leiter des Halbleiterwerks Böblingen-Hulb.
Dazwischen war er drei Jahre auf Abordnung im IBM Corporate Headquarter in
Armonk. Ehe er 1986 die Verantwortung für das Labor übernahm, war er noch zwei
Jahre im Vertrieb der IBM Deutschland für Industrie-Kunden verantwortlich.
Bertal Dresen (BD): Zahlreiche Interviews in diesem Blog
befassten sich mit meinem früheren Arbeitgeber, der Firma IBM, und hier speziell mit dem IBM Labor in
Böblingen. Da ich mit Dirk Wittkopp, dem derzeitigen Laborleiter, bereits vor
Jahren ein Interview führte, möchte ich bei Ihnen gerne den Blick etwas mehr
auf Vergangenes richten. Herr Kircher, Sie waren mit 22 Jahren länger
Laborleiter als jeder Ihrer Vorgänger. Nach Karl Ganzhorn, Walter Proebster,
Fred Albrecht, Wolfgang Liebmann und Wilfried Pierlo waren Sie der sechste, den
ich erlebte. Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie auf diese Liste Ihrer
Vorgänger zurückblicken? Welcher Ihrer Vorgänger hatte nach Ihrem Eindruck die
deutlichsten Spuren hinterlassen? Was
unterschied – auf einen vereinfachten Vergleich reduziert – Ihre Dienstzeit von
der Ihrer Vorgänger?
Herbert Kircher (HK): Karl Ganzhorn, der Gründer des IBM
Entwicklungszentrums in Böblingen, hat natürlich die sichtbarste Spur hinterlassen.
Er hat die Lokation ausgesucht, hat die ersten Gebäude bauen lassen und hat
entschieden, ein von den Themen möglichst breit angelegtes Labor aufzubauen. Da
die elektronische Datenverarbeitung in den 50er und 60er Jahren noch in einer
rudimentären Phase war, kann man darüber diskutieren, ob das Labor damals eher
ein Forschungs- oder schon ein Produktentwickungslabor war. Seit der Gründung
der Labors 1953 und meiner Zeit als Laborleiter hatte sich die Technologie, der
Markt, die IT-Branche, der Wettbewerb und damit auch die IBM dramatisch
verändert. In den 1950er bis 1970er Jahren ging es um den Aufbau eines Labors
mit einer breiten Knowhow-Palette mit Schwerpunkten Halbleiter, Systeme, E/A-Geräte
und etwas Software. Das Geschäftsmodell der IBM Corporation war damals sehr
erfolgreich, sehr profitabel. Wir waren Marktführer mit Mainframes im Umfeld
schwacher Wettbewerber.
Als ich 1986 die Verantwortung
für das Labor übernahm, begannen die sehr schwierigen Krisenjahre der IBM
(1988-1993). Die IBM Großrechner waren nicht mehr profitabel, die Corporation
machte Verluste. Fast 200.000 Mitarbeiter mussten abgebaut werden. Es erfolgte
eine Transformation des Unternehmens von Hardware zu Software und Service. Damit
steckte auch das Böblinger Labor in einer Krise.
Die IBM konnte sich nicht
mehr vier Mainframe-Labors leisten (Poughkeepsie, Kingston, Endicott,
Böblingen). Das Ziel war zwei Labors zu schließen. Mein Ziel war, dass das Böblinger
Labor dabei überlebt! Aber auch wir mussten harte Maßnahmen ergreifen und
erfolglose oder nicht strategische Bereiche schließen (Drucker, Special
Engineering, sowie die Ableger in Hannover und Berlin). In wenigen Worten
zusammengefasst, hatte ich in den ersten zehn Jahren als Laborchef zwei
übergeordnete Ziele:
- In den schwierigen Krisenjahren verhindern, dass wir geschlossen werden
- In den anschließenden Jahren des Neuaufbaus der Corporation mit neuen innovativen Produkten ein unverzichtbarer Baustein der IBM F&E-Organisation zu werden. Beispiele: CMOS, LINUX, Websphere Portal und Workflow etc.
Es ist den verschiedenen
Laborbereichen gelungen, mehr als 100 für die IBM wertvolle Produkte in den
Weltmarkt zu bringen.
BD: Bevor Sie meine obige Vorstellung etwas
ergänzten, waren Sie für mich fast wie ein Externer, der von außen mit der
Laborleitung betraut wurde. Aus Sicht vieler Labormitarbeiter hatten Sie dies mit
Walter Proebster gemeinsam, der aus dem Forschungslabor Zürich gekommen war.
HK: Eigentlich kenne ich das Labor fast so
lange wie Sie. In den Jahren 1967-1969 war ich als Ingenieur vom Werk
Sindelfingen an das Labor ausgeliehen und nach Yorktown Heights abgeordnet. Ich
berichtete dort an Dr. Wolfgang Liebmann und arbeitete an der Entwicklung des
ersten IBM DRAM-Chips. Nach meiner Rückkehr wurde mir eine Manager-Position im
Labor angeboten, die ich jedoch zu Gunsten einer Position im Werk ausschlug. In
den folgenden Jahren war ich dann maßgeblich als Bereichsleiter und
stellvertretender Werksleiter am Aufbau des Halbleiter- und Multilayer-Ceramics-Werks
Hulb beteiligt und später auch Werksleiter Hulb [in dem gleichnamigen Stadtteil
von Böblingen].
BD: Wie das beigefügte Luftbild zeigt, ist
die Lage des Böblinger Labors mitten im Wald schon einmalig. Was würden Sie als
die Sternstunden oder die Top-Ereignisse Ihrer Zeit als Laborleiter ansehen?
Waren es prominente Besucher, bestimmte Produktankündigungen oder die üblichen
Betriebsversammlungen und Mitarbeiterfeiern?
Bombendrohungen und Feuerwehreinsetze blieben Ihnen – soweit ich weiß –
erspart.
IBM-Entwicklungslabor Böblingen heute © IBM
HK: Jede Ankündigung bzw. Auslieferung eines
neuen Produktes war immer etwas, das uns alle stolz machte. Letztendlich ist es
die Aufgabe des Labors, neue wettbewerbsfähige Produkte zu generieren, die dem
Unternehmen Umsatz und Gewinn bringen, denn nur davon kann neue Entwicklung bezahlt
werden! Ein Highlight für uns alle war immer, wenn wir ein neu entwickeltes
Produkt mit der versprochenen Funktion, Qualität und Benutzerfreundlichkeit in
den Markt bringen konnten.
Natürlich habe ich auch
großen Wert auch die Sichtbarkeit des Labors gelegt. Das musste mit meiner
Person beginnen. Ich wurde in sehr viele internationale Gremien der IBM
berufen: IBM Academy Board of Governors, Corporate Technical Review Committee (CTRC),
Technical Community Leader, Ernennungs-Board für IBM Fellows und weitere
globale Verantwortungen. Dadurch und durch die engen Kontakte, die ich während
meines Assignments in Armonk zum Top Management knüpfen konnte, fiel es uns
leicht, fast alle Top Executives regelmäßig ins Labor zu bringen und unsere
Ideen zu präsentieren. Die zwei bedeutendsten Besuche waren der gesamte
Aufsichtsrat der IBM Corporation, der im Labor tagte, und der Besuch des
damaligen CEO Lou Gerstner. Sehr stolz hat es uns immer gemacht, wenn wir
jährlich mehrere neue Senior Technical
Staff Members (STSM) und später auch Distinguished
Engineers (DE) ernennen konnten, was ein deutlich sichtbarer Beweis der
hohen Kompetenz unserer Mitarbeiter war.
BD: Wenn Sie an die Zeit vor 1992 denken, was
sahen Sie als die Besonderheiten und die Stärken des Böblinger Labors an? Auf
welche Produkte und Innovationen aus dieser Zeit kann das Labor besonders stolz
sein? Welche Probleme oder Schwächen machten Ihnen echt zu schaffen? Waren es
die hohen Personalkosten oder die relative Ferne vom Weltmarkt?
HK: Ich möchte hier nicht auf einzelne
Produkte eingehen. Das haben verschiedene Kollegen bereits ausführlich
geleistet. Ich möchte jedoch eine Ausnahme machen: Die Böblinger Hardware-Entwickler
haben als erste erkannt, dass die neue FET-Technologie wegen ihres hohen
Integrationspotentials die bislang führende bipolare Technologie ablösen wird.
Die hier entwickelten Prozessoren machten die Großrechner wieder
wettbewerbsfähig und führten letztendlich zur Beendigung der bipolaren Systeme.
Wenn ich meine Betrachtung auf die Zeit vor 1992 beschränke, dann ist das nur
ein kleiner Ausschnitt meiner Labor Erfahrung. Vor allem bedeutende Leistungen
der Software-Entwicklung der letzten 20 Jahre bleiben unerwähnt. Heute arbeiten
deutlich mehr Mitarbeiter an Software als an Hardware.
Marktnähe war eine unserer
Prioritäten. Wir waren keinesfalls entfernt vom Weltmarkt. Wir haben an
prominenter Stelle ein sehr erfolgreiches Kundenzentrum aufgebaut, in dem wir
nicht nur unsere Produkte präsentierten, sondern auch den Kunden eine Roadmap
aufzeigten. Der Vertrieb und Kunden aus vielen Ländern lieben es heute noch,
ins Labor zu kommen. Später haben wir das ergänzt durch eine Software-Service-Truppe,
die vor Ort den Kunden in komplexen Situationen unterstützte. Und unsere
Entwickler hatten unmittelbaren Feedback von den Kunden, was sie an unseren
Produktplänen gut fanden und was nicht.
Die Nachteile des Standorts Deutschland
sind seit Jahrzehnten bekannt, die Vorteile aber ebenso. Das Thema Kosten hat
uns in Deutschland immer
Druck gemacht. Etwas salopp gesagt war das Ziel: ‚Wir müssen so viel besser
sein wie wir teurer sind‘ und das ist bei großen Innovationen auch gelungen.
Im IBM Top Management haben
wir entschieden, technische Konzepte und Strategien nicht mehr wie in der
Vergangenheit durch Manager entscheiden zu lassen, sondern durch ‚Technical Leaders‘, also durch STSMs, DEs
und IBM Fellows. Ich versuchte ein Klima zu schaffen, wo sich möglichst viele
der Spitzentechniker zu STSMs und DEs entwickeln konnten, weil dort wo der ‚Technical
Leader‘ eines Produktes saß, oft auch die Entwicklung durchgeführt wurde. Die
enorme Sichtbarkeit dieser ‚Technical Leader‘ und deren Einfluss auf
Technologie und Produktstrategie nutzten wir zur Stärkung unserer Rolle im
F&E-Verbund der IBM.
Eine der großen
Herausforderungen damals und heute an die Mitarbeiter ist der schnelle Wandel.
Immer neue Kompetenzen und Kenntnisse sind gefordert. Marktnähe, Innovation,
Qualität, Termintreue, der Konkurrenz immer einen Schritt voraus und den
Kollegen in anderen Labors auch. Das waren anspruchsvolle Anforderungen an die
Entwickler. Die Entwicklungsteams wurden gemischt aus erfahrenen älteren Mitarbeitern
und frisch von der Uni Eingestellten mit neuestem Wissen. Da die
Entwicklungszyklen für ein Hardware- oder Software-Produkt immer kürzer wurden,
mussten wir auch permanent dafür sorgen, neue Projekte zugeteilt zu bekommen.
BD: Wenn Sie Ihre Böblinger Tätigkeit mit der
entsprechenden Tätigkeit in deutschen Unternehmen wie Bosch, Daimler und
Siemens vergleichen, was fällt Ihnen dann ein? Gibt es einen Unterschied zu
andern Töchtern amerikanischer Firmen wie Ford in Köln oder Opel in
Rüsselsheim? Was war für Böblingens Erfolg bestimmender, der schwäbische
Tüftlergeist oder die (importierte) amerikanische Cowboys-Mentalität, deutsche
Gründlichkeit oder internationale Weitläufigkeit?
HK: Es war in den 80er und 90er Jahren nicht
möglich, die mechanische Entwicklung der Autoindustrie mit der Hardware- und Software-Entwicklung
der IT zu vergleichen. Das ist heute natürlich anders, mit Dutzenden
Mikroprozessoren und Millionen ‚Lines of Code‘ im Auto. Ich kenne viele deutsche
Unternehmen recht gut. Aber wir mussten uns, was Schnelligkeit, Innovation,
Kompetenz anbelangt, mit Unternehmen wie Microsoft, Oracle, SAP, HP und anderen
Wettbewerbern vergleichen. Eine ‚amerikanische Cowboy-Mentalität‘ kenne ich in
dem Zusammenhang nicht, aber es muss jedem klar sein, dass die Regeln und die
Geschwindigkeit des IT-Geschäfts in den USA festgelegt werden, und leider nicht
durch eine kleine Handvoll von IT-Unternehmen in Deutschland. Leider!
BD: Wollen Sie sagen, dass die Unternehmen
in anderen Branchen langsamer agieren und weniger innovativ sind?
HK: Ich bewerte nicht andere Unternehmen und
andere Branchen. Aber es ist unstrittig, dass die IT-Branche in den letzten 50
Jahren so gewaltige, oft exponentielle Fortschritte machte wie keine andere
Industrie-Branche der Wirtschaftsgeschichte. Das gilt auch heute noch, wenn sie
das explosionsartige Wachstum von Google, Facebook, Amazon, Apple und andere
ansehen. Oder die aggressive Innovation von Tesla. In vielen traditionellen
Branchen konkurrieren seit Jahrzehnten etablierte Unternehmen miteinander. In
der IT-Branche werden immer wieder neue Unternehmen geboren, die mit neuen
innovativen Produkten und Geschäftsmodellen die Etablierten angreifen. Denken
sie daran, dass der ‚Buchhändler Amazon‘ die IBM im Cloud-Geschäft überholt hat! Wir ̶ die IT-Branche ̶ verursachen gerade den Digitalisierungs-Tsunami,
der die Welt überschwemmt. Viele Branchen werden deshalb ihre Geschwindigkeit
und Innovationskraft steigern müssen.
BD: Während meiner aktiven Zeit bei IBM
bestand das Labor aus mindestens vier technischen Teilbereichen: Halbleiter,
Systeme, Software und Drucker. Das sahen wir sowohl als Stärke wie als
Schwäche. Die Stärke war, dass wir unseren Kunden nahezu komplette Systeme
liefern konnten. Die Schwäche war, dass jeder Bereich sehr schnell unter eine
kritische Größe fiel. Wir hatten es z.B. auf dem Software-Gebiet nicht leicht
mit der Konkurrenz oder auch den anderen Labors der Firma IBM Schritt zu halten.
Wie sahen Sie diese Struktur aus der Perspektive des Hausherrn? Ist die Breite
der Aufstellung mehr Vorteil als Nachteil?
HK: Ich halte es für essentiell, dass das
Labor auf mehreren Beinen steht. Die Mitarbeiter haben es immer geschafft auch in
kleineren Teams ausgezeichnete Produkte in den Markt zu bringen. Natürlich
waren CMOS und LINUX [die von Karl-Heinz Strassemeyer in seinem Interview ausführlich
diskutiert wurden] eine riesige Erfolgsgeschichte. Die Leistung dieser Teams
ist historisch. Aber gleichzeitig haben wir erfolgreich in die Software Group expandiert. [Das
Böblinger Labor gehört organisatorisch zur Systems
and Technology Group. Die Software Group ist verantwortlich für reine
Software-Produkte wie Datenbanken und Entwicklungswerkzeuge. Das früher in
Sindelfingen ansässige Programmproduktzenter (PPDC) gehörte zur Software Group. Die Mitarbeiter sind heute Teil des Labors Böblingen]
Data Mining, Middleware,
Workflow und Portal, das sind alles neue Software-Arbeitsgebiete, um nur einige zu
nennen. Wir haben auch ̶ in
Übereinstimmung mit den Geschäftsbereichen (engl. divisions) in USA ̶ mit neuen Segmenten experimentiert, die nicht
erfolgreich waren, weil das Unternehmen wieder aussteigen wollte: Smart Card,
Automotive Electronic, Banking Terminals. Das war sicher schmerzhaft für die
betroffenen Mitarbeiter, aber es zeigte auch, dass das Labor schnell neue
Themen aufgreifen konnte. Allerdings mussten wir uns für diese neuen Projekte
aus Wettbewerbsgründen manchmal sehr schnell entscheiden, ohne alle Fakten zu
haben, beispielsweise bei Smart Card und Automotive. Der Wettbewerb zwischen den
Labors war eben intensiv.
BD: Bekanntlich hat die IBM Corporation in den
frühen 1990er Jahren eine sehr kritische Phase durchgemacht. Einige
Branchenkenner sahen sogar einen Konkurs für möglich an. Vielleicht können Sie
aus der Sicht des damaligen Leiters des Böblinger Labor dies etwas ergänzen
oder illustrieren. Da ich selbst die Firma Ende 1992 verlassen habe, sagen mir
meine Ex-Kollegen immer, dass ich die Firma nicht mehr wiedererkennen würde. Waren
die Änderungen wirklich so gravierend? Worüber würde ich mich am meisten
wundern? Hat sich auch die Rolle des Laborleiters geändert?
HK: Nein, ein Konkurs stand nicht im Raum,
aber die IBM musste das Geschäftsmodell komplett verändern ̶ so wie übrigens heute auch! Hardware und
Betriebssystem-Software blieb weiter wichtig, musste aber wesentlich
effizienter, kostengünstiger und mit ganz schnellen Entwicklungszyklen
ablaufen. Außerdem wurde massiv in Middleware investiert, eine Zeit lang sogar
in Anwendungs-Software, leider nicht lange genug und deshalb erfolglos. Heute
wären wir vermutlich froh, wir hätten die Anwendungs-Software nicht so schnell
aufgegeben. Außerdem hat IBM zusätzlich in Service und Beratung investiert. Das
Ziel war also Lösungen zu verkaufen, nicht nur Hardware und Software. Als
Konsequenz musste IBM viele Fabriken und einige Entwicklungslabors schließen.
[Unter Middleware versteht IBM diejenige Protokolle unterstützende Software,
die erforderlich ist, um Systemanalyse-Funktionen und Kommunikationsdienste zu
ermöglichen, Anwendungsprozesse zu verbinden, und dgl.]
Meine Rolle als Laborleiter
war nie der oberste Ingenieur, Programmierer, Entwickler des Labors zu sein,
sondern eher die Rolle eines Schiffskapitäns, der die Richtung festlegt,
Risiken abschätzt, den Untergang verhindert, und der das Labor in der F&E-Welt
in USA so positioniert, dass es als unverzichtbar in der Corporation angesehen
wird und dass die IBM dieses Labor immer braucht, unabhängig welches
Geschäftsmodell oder welcher Paradigmenwechsel gerade die Firma beschäftigt.
BD: Nach 1993 ist es Ihnen zweifellos
gelungen, das Labor umzuorientieren und neu zu stabilisieren. Sicher spielten
dabei die CMOS-CPUs und Linux eine große Rolle. Andere vielversprechende
Entwicklungen wie Geldautomaten, Smart Cards oder Automobil-Elektronik wurden
wieder aufgegeben. Eine solche Umstellung muss doch recht schmerzhaft gewesen
sein, zumindest für die direkt betroffenen?
HK: Das Labor-Management und die Mitarbeiter
haben seit Jahrzehnten gezeigt, dass sie Veränderungen nicht als Gefahr,
sondern als Chance wahrnehmen und die Chance neuer Technologien und
Herausforderungen ergreifen. Die permanente Veränderung und Anpassung ist ja
nach meiner Stabübergabe an meinen Nachfolger nicht stehen geblieben. Im
Gegenteil, die IT-Branche ist immer noch von unglaublicher Dynamik. Vor allem
sind zu den bisherigen Wettbewerbern neue, teilweise unerwartete dazugekommen:
Google, Amazon und viele andere. Der neue Fokus der IBM liegt auf Cloud,
Analytics, Mobile, Security, Watson. Das sind alles völlig neue Themen, auf die
das Labor fokussieren muss und die neue Herausforderungen an jeden Mitarbeiter
stellen. Die früheren Produktbereiche existieren nicht mehr so wie einst. Die
Zugehörigkeit des Labors wird komplexer und durch eine größere Zahl
organisatorischer Einheiten bestimmt.
BD: Ist es Ihnen möglich, anhand selbst
erlebter Projekte etwas dazu zu sagen, welche Faktoren für einen industriellen
Erfolg eines Labors maßgebend sind? Wie weit entscheidet die gute Kenntnis des
Kundenbedarfs, wann ist eine hervorragende Technologie der Schlüssel zum Erfolg
(engl. market pull vs. technology push)? Geht das eine ohne das andere? Woran
messen Sie den Erfolg eines Labors?
HK: ‚Market pull‘ und ‚technology push‘ muss in Balance
sein. Beide ergänzen sich und
führen zur besten Lösung. In meinen mehr als 40 Jahren in der IT-Branche
erkannte ich als entscheidenden Faktor die immense Geschwindigkeit der
Veränderung. Technologie, Innovation, Markt, Kundenverhalten, neu in den Markt
eintretende Wettbewerber verändern sich im IT-Umfeld häufig nicht linear,
sondern exponentiell. Die Anpassungsfähigkeit an neue Herausforderungen ist
entscheidend. Das betrifft die technologische Kompetenz der Mitarbeiter, die
Führungskultur des Managements, die Kenntnis des sich ändernden Marktes.
Ein Labor wird heute daran
gemessen, wie die entwickelten Produkte und Lösungen zum Umsatz, Gewinn, Marktanteil
beitragen. Die reine technologische Brillanz ist ziemlich wertlos, wenn sie vom
Kunden nicht gekauft wird. Das mag reine Wissenschaftler irritieren, aber so
ist eben mal die Realität ̶ nicht
nur bei IBM. Leider sind eine Reihe kleiner Labors (Wien, Heidelberg, Hannover
und Berlin) nicht weitergeführt worden, weil sie dem IBM Konzept nicht mehr
entsprachen.
BD: Inzwischen liegt 1993 weit hinter uns. Das
50-jährige Laborjubiläum im Jahre 2003 war sicher Grund zum Feiern. Ein Foto
habe ich aufbewahrt. Das zeigt Sie mit dem damals über 80-jährigen Karl
Ganzhorn, dem von uns allen so sehr geschätzten Laborgründer. Sie verfügen ̶ so vermute ich ̶ über eine Perspektive, wie
sie nur wenige Kollegen in der Branche besitzen. Sie haben die Firma IBM, ja
unsere ganze Branche, in sehr unterschiedlichen Phasen erlebt. Wie sehen Sie
heute die Situation der deutschen IT-Branche, ihre Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit?
Ist Deutschlands industrielle Stärke in Gefahr?
Kircher und Ganzhorn 2003
HK: Das ist eine schwierige Frage. Heute steht
Deutschland als Musterbeispiel einer Industrienation da. Politik, Gesellschaft,
Unternehmen, Gewerkschaften machen ganz offensichtlich vieles richtig. Allerdings
basiert unsere Stärke auf Maschinenbau, Werkzeugmaschinen, Automobil, Chemie
und ähnliche Branchen des 20. Jahrhunderts. Es war oft problematisch in
Deutschland mit Universitäten zusammen zu arbeiten. Manche Wissenschaftler haben
die überholte Vorstellung im vor-wettbewerblichen (engl. ‚non-competitive) Umfeld arbeiten zu müssen. Das
war für uns wertlos, denn wir befanden uns zu 100% im Wettbewerb mit allem, was
wir taten! Es gab Ausnahmen: Mit Professoren der Universitäten Bonn, Stuttgart,
München und Berlin haben wir gute gemeinsame Projekte, die wir finanzierten,
durchgeführt. Ein früherer Bereichsleiter aus der Software-Entwicklung (Manfred
Roux) leitete die Funktion Universitäts-Beziehungen. Relativ wenig Kontakt
hatten wir zu Fachgesellschaften wie der Gesellschaft für Informatik (GI) und der
Informationstechnischen Gesellschaft (ITG).
Etwas Sorge macht mir die
Rolle, die Deutschland in der Digitalisierung spielt. Die Spitzenunternehmen
und deren Produkte kommen fast alle aus den USA, die Hardware aus Asien. Da wir
die digitalen Hardware- und Software-Lösungen in Deutschland nicht entwickeln
und produzieren, bleibt für Deutschland nur die Chance, jetzt führend in der
Nutzung dieser Technologien zu sein, um damit die Wettbewerbsfähigkeit aller
Branchen zu erhalten und zu steigern. Nur dann besteht die Möglichkeit, die
Erfolgsgeschichte der deutschen Wirtschaft und unseres Wohlstands
fortzuschreiben.
BD: Vielen Dank, Herr Kircher, dass Sie einen so
offenen Einblick in die Probleme gaben, mit denen Sie zu kämpfen hatten. Es ist
alles andere als selbstverständlich, dass es das Böblinger Labor weiterhin
gibt. Dessen waren wir uns schon länger bewusst.
NB: Außer den beiden
erwähnten (Wittkopp, Strassemeyer) wurden in diesem Blog weitere Interviews mit
folgenden heutigen und früheren Mitarbeitern des Böblinger IBM Labors
veröffentlicht: Andreas Arning, Herbert Bellem, Namik Hrle, Kristof Klöckner, Manfred Roux und Edwin Vogt. Zu erwähnen sind auch die Nachrufe auf Karl Ganzhorn und Wilhelm Spruth. Vier Interviews und die zwei Nachrufe
sind auch gedruckt in einem Buch [1] erschienen.
Referenzen
- Endres, A., Gunzenhäuser, R.: Menschen machen Informatik. Begegnungen und Erinnerungen. Berlin 2015. 216 Seiten, ISBN 978-3-89838-703-3.
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