Mittwoch, 29. August 2018

Digitalisierung im eigentlichen Sinne des Wortes

Wahrscheinlich gibt es allein in Deutschland jeden Monat mehrere Tausend neue Veröffentlichungen zum Thema Digitalisierung. Es gibt kein Fachgebiet, keine Branche, wo das Thema nicht aktuell ist. Schaut man genau hin, so stellt man fest, dass viele der Beiträge das Thema sehr weit fassen. Alles, was früher mal unter elektronischer Informationsverarbeitung oder Automatisierung lief, heißt heute Digitalisierung. Die Digitalisierung im engeren Sinne begann mit dem Zurückdrängen von analogen Maschinen (Analogrechnern und andere analoge Werkzeuge), analogen Medien (Papier, Metall, Schellak) durch magnetische oder elektronische Medien und analogen Netzen (im Kommunikations- und Transportwesen) durch eine digitale Alternative, ein Prozess, der vor rund 50 Jahren einsetzte. Auch der Kollege Peter Mertens wies schon vor Jahren auf diese Begriffsverwirrung hin, geändert hat sich doch nichts.

Im Mai dieses Jahres gab ich Marc Oliver Pahl ein Interview im Rahmen der Feiern zum 50. Jahrestag der Gründung des deutschen ACM Chapters. Das Interview war auf der Webseite des Chapters veröffentlicht worden. Mit Erlaubnis des Autors gebe ich den Text (mit Bildern) hier ungekürzt wieder.

Mensch Sein mit Algorithmen: Marc-Oliver Pahl interviewt Albert Endres

Marc-Oliver Pahl (MOP): Lieber Herr Endres, ich freue mich ganz besonders, Sie als Gründungsmitglied des German Chapter of the ACM heute interviewen zu dürfen. Bitte stellen Sie sich unseren Lesern kurz vor.


Beim modernen Lesen 2016

Albert Endres (AE): Seit 1956 befasse ich mich mit Computern, und zwar zuerst mit der IBM 650 als Austauschstudent in den USA. Von 1957-1992 war ich bei der IBM in Deutschland tätig, zuerst im Rechenzentrums-, danach im Entwicklungsbereich. Ich war beteiligt an der Entwicklung von Programmiersprachen, Compilern, Betriebs- und Datenbanksystemen. Im ominösen Jahr 1968 gründete ich das deutsche Chapter der Association for Computer Machinery (ACM) und nahm an der berühmt gewordenen Software-Engineering-Tagung in Garmisch teil. Ich wurde 1976 an der Universität Stuttgart promoviert und wurde dort Honorarprofessor. In der Gesellschaft für Informatik (GI) leitete ich für 15 Jahre den Fachbereich Softwaretechnik und gab die Zeitschrift ‚Informatik Forschung und Entwicklung‘ heraus. Anfang 1993 übernahm ich eine Lehrverpflichtung in den Neuen Bundesländern (Uni Rostock) und ging danach für vier Jahre als ordentlicher Informatik-Professor an die TU München. Während dieser Zeit leitete ich ein großes Digitalisierungsprojekt.

MOP: Toll, wie vielfältig Sie sich in der Informatik und insbesondere in den beiden großen Verbänden engagiert haben! Welche Auswirkungen der fortschreitenden digitalen Transformation nehmen Sie wahr?

AE: In dem unten vorgestellten und von mir betreuten Blog äußerte ich mich immer wieder zum Thema Digitalisierung. Mein letzter diesbezüglicher Beitrag war im November 2017. Aus ihm stammt der nachfolgende Text nebst Skizze.


Fortschreiten der Digitalisierung

Die Skizze listet Erzeugnisse und Dienstleistungen, mit denen ich täglich persönlich arbeite oder die ich in Anspruch nehme. Vor 50 Jahren standen überall A‘s. Alle Erzeugnisse und Dienste waren analog, also meist auf Papier. Inzwischen gibt es bei mir keine papiernen Zeitungen, Zeitschriften, Fotos und neugekaufte Bücher mehr. Musik und Filme auf Vinylscheiben oder magnetischen bzw. photochemischen Trägern sind auch verschwunden. Die Spalte Verwaltung enthält Planung, Konzeption, Disposition und Abrechnung. Sie taucht fast überall auf. Selbst bei den als analog bezeichneten Diensten ist bei deren Verwaltung die Digitalisierung sehr weit fortgeschritten.

Ich lese wesentlich mehr digitale Bücher, Zeitungen und Zeitschriftenartikel als ich je an analogen Texten konsumierte. Meine ganze Korrespondenz, meine Einkäufe und meine Bankgeschäfte wickle ich rein elektronisch ab, von ganz wenigen Sonderfällen abgesehen. Sportsendungen, Nachrichten und Dokus schaue ich auf iPads oder iPhones an. Mein Gewicht und einige andere Körperdaten verfolgt eine iPhone-App.

MOP: Eine sehr interessante persönliche Perspektive auf die Digitalisierung. Wie wirken Sie selbst an der digitalen Transformation mit?

AE: Während meiner Zeit an der TU München von 1993 bis 1997 bot sich mir eine Gelegenheit, dem Thema Digitalisierung in Deutschland eine Starthilfe zu geben. Unter dem Projektnamen MeDoc, eine Abkürzung für Multimediale elektronische Dokumente, wurden mittels Fördermitteln des Bundesministers für Forschung und Technologie (BMFT) Verlage, Bibliotheken und Hochschulfachbereiche angeregt, ihre papiernen Veröffentlichungen durch elektronische Dokumente zu ersetzen und die Auswirkungen auf Lehre, Forschung und Geschäftsmodelle zu testen. Die Erfahrungen und Ergebnisse sind in einer Vielzahl von Veröffentlichen berichtet. Zwei Referenzen sind unten angegeben. In Zahlen ausgedrückt umfasste das Projekt neun Forschungspartner (mit je 3-4 Mitarbeitern), 24 Nutzerhochschulen und 14 Verlage. Es wurden 60 Bücher digitalisiert und 11 Zeitschriften elektronisch angeboten.


Auswahl von bei MeDoc angebotener eBücher

Rückblickend ist zu bemerken, dass wir uns zu sehr mit der Frage des optimalen Formats für eBücher und eZeitschriften befassten. Alle Verlage entschlossen sich für ein Format (PDF bzw. ePub), das die Ähnlichkeit mit dem gedruckten Text sicherstellte und keine neuen Funktionen zuließ. Man portierte gewohnte Prozesse und Produkte und vermied jedwede revolutionäre Neuerung. Die prototypischen Werkzeuge, die wir damals entwickelten, konnten sich nicht im Markt durchsetzen, da alle Nutzer, die internationale Kontakte hatten, sich für Werkzeuge entschieden, die aus dem US-Markt kamen. Bei meinen beiden Ko-Projektleitern, Andreas Barth vom FIZ Karlsruhe und Arnoud de Kemp, damals beim Springer-Verlag in Heidelberg, fand ich Anregungen und Unterstützung. Der engagierte Einsatz der über 100 Projektbeteiligten ermöglichte den Erfolg.



MeDoc-Vortrag vor Bibliothekaren 1996

Seit dem Jahre 2011 betreibe ich einen Blog, Bertals Blog genannt, zu dem ich die Mehrzahl der Beiträge selbst schreibe. Inzwischen liegen 524 Beiträge vor. Sie hatten bisher über 300.000 Leser. Mehrere Beiträge haben über 2.000 Leser. Die Spitze liegt bei über 5.000. Besonders interessant ist die geografische Verteilung der Leser. Etwa die Hälfte kommt aus Deutschland, der Rest aus etwa 30 anderen Ländern. An der Spitze liegen die USA, Russland, die Ukraine, Frankreich, Spanien und China. Einige Leser kommen aus so entfernten Ländern wie Chile, Tadschikistan und Vietnam. Da alle Beiträge des Blogs in Deutsch verfasst sind, vermute ich, dass es sich bei den ausländischen Lesern primär um folgende Personengruppen handelt: Studierende, Deutschlehrer, Touristen, Geschäftsleute, Diplomaten und Geheimdienstler.

MOP: Ich hoffe, dass wir auch bald so viele Leser haben und mit Ihrem Interview heute bin ich sicher werden es gleich ein paar mehr. Welche Chancen verbinden Sie mit der digitalen Transformation?

AE: Ich möchte vorwegschicken, dass sich die digitale Transformation bei weitem nicht auf das Bibliotheks-, Publikations- und Verlagswesen beschränkt. Bei ihnen sind jedoch alle wesentlichen Aspekte früh erkennbar. Außerdem verfüge ich dort über eigene Erfahrungen. Meine Ausführungen sind bewusst technisch gehalten unter Einbeziehung wirtschaftlicher und sozialer Erwägungen. Dabei stehen die unmittelbaren Nutzer im Fokus, nicht jedoch indirekt betroffene. Die Zukunftssicherheit der Arbeitsplätze eines Waldarbeiters oder eines Buchdruckers bleiben außer Betracht.



MeDoc-Projektbericht 1998 [1].

Über die Vor- und Nachteile digitaler Dokumente habe ich in einem Blog-Beitrag vom Januar 2017 ausführlich diskutiert. Ich will deshalb hier nur eine Zusammenfassung wiedergeben. Es wurden 10 Vorteile gelistet. Der Text selbst ist teilweise der Veröffentlichung [2] entnommen.

  • Benötigte Speicherkapazität: Abhängig vom jeweiligen Aufzeichnungsformat kann Information auf wesentlich kleinerem Raum gespeichert werden, als dies bei analogen Medien der Fall ist.
  • Schnelligkeit der Übertragung: Hat man ein Dokument lokalisiert, lässt es sich innerhalb von wenigen Minuten übertragen, abhängig von der zur Verfügung stehenden Übertragungskapazität. Man braucht weder selbst zur nächsten Bibliothek zu gehen, noch muss dort jemand das Dokument aus dem Regal oder dem Archiv holen.
  • Gleichzeitige Nutzung desselben Exemplars: Ein elektronisches Dokument ist nie ausgeliehen, sofern es entweder online ist oder aber jederzeit vom Offline- in den Online-Zustand gebracht werden kann, d.h. es muss auf einem Rechner angeboten werden, der das Dokument automatisch laden kann.
  • Selektive Informationsverteilung: Analoge Medien haben teilweise das Problem, dass sie Information nur in vorgegebenen, relativ großen Einheiten verteilen können. So erscheint ein Heft einer Zeitschrift erst, wenn eine genügende Anzahl von Artikeln vorliegt. Eine Tageszeitung verteilt Stellenanzeigen an alle ihre Leser, gleichgültig, ob sie am Anfang ihres Berufslebens stehen oder dieses bereits hinter sich haben. Digitale Information kann in beliebig kleinen Einheiten und zielgenau verteilt werden.
  • Weltweite Verfügbarkeit: Es spielt keine Rolle mehr, wo auf der Welt sich ein Dokument befindet. Es ist gleich schnell verfügbar, egal, ob es sich jenseits des Atlantiks oder in der lokalen Bibliothek im Stadtzentrum befindet. Es besteht kein Grund, ein Dokument wegen der geographischen Verfügbarkeit zu reproduzieren.
  • Weiterverarbeitbarkeit: Ein digitales Dokument lässt sich, falls die Codierung und die Formate bekannt sind, auf einem Rechner weiterverarbeiten. Zum Verarbeiten gehören Vergrößern und Verkleinern, Drehen und Wenden, Verbessern und Verdichten, Zerschneiden und Zusammenkleben (die beiden letzten natürlich im übertragenen Sinne).
  • Erschließbarkeit: Ein digitales Dokument kann inhaltlich ganz anders erschlossen werden als ein konventionelles Dokument. Das kann erfolgen entweder basierend auf einer vorgegebenen oder erkennbaren Struktur oder völlig frei, indem der Inhalt Bit für Bit analysiert wird..
  • Integrierte Darstellung verschiedener Medien: Texte und Graphiken lassen sich mit Bewegtbildern (Videos), Tonaufzeichnungen (Audios) und Computer-Simulationen und -Animationen verknüpfen und das in beliebig kleinen Mengen. Es können auf diese Weise pädagogisch optimale Ausdrucksformen kombiniert werden und auf denselben Geräten gespeichert, übertragen und dargestellt werden.
  • Gemeinsame Lagerung: Die bei analogen Medien erforderliche getrennte Lagerung entfällt. Für einen Vortrag oder eine Vorlesung können außer einem Text auch Videoausschnitte (Videoclips) und Animationen gespeichert werden, von einem Experiment werden außer Temperaturmesswerten auch Geräusche registriert und ein Röntgenbild wird mit gesprochenen Kommentaren versehen.
  • Mögliche Kostenersparnis: An die Stelle der Kosten für das Medium Papier oder der anderen Datenträger (Glas, Holz, Metall, Stein, Zelluloid), einschließlich ihrer Lagerung und ihres Transports, treten die Kosten für die Informatik-Infrastruktur.



Vorstellung von Buch [2] auf der GI-Jahrestagung 2000

Ich ergänzte diese Liste, um eigene Erfahrungen, die ich gemacht hatte. Dabei fallen Dinge ins Gewicht, die der Nutzung durch außerhalb einer Großstadt lebende ältere Menschen zugutekommen.

  • Verbesserte Such- und Auswahlmöglichkeit: Digitale Dokumente suche ich nicht nur nach Autor, Titel und Schlagworten. Ich kann direkt nach einzelnen Worten im Text oder im Inhaltsverzeichnis suchen. Ehe ich ein Dokument ganz herunterlade oder gar kaufe, kann ich 20-50 Probeseiten lesen.
  • Variation von Schriftart, Schriftgröße und Beleuchtung: Viele gedruckte Bücher kann ich heute nur noch mit Lupe unter der Schreibtischlampe lesen. Das gilt insbesondere für alle Formen von Taschenbüchern, also die Billigausgaben. eBücher oder der digitale SPIEGEL, die ich per Tablett lese, sind selbst leuchtend und können vergrößert oder verzerrt werden.
  • Nachträgliche Korrekturen, insbesondere Vorwärtsverweise auf später erschienene Dokumente: Digitale Dokumente sind lebende Dokumente. Sie sind nicht mit Tinte gezeichnet oder in Stein gehauen. Als Blog-Betreuer kann ich noch nach Wochen Korrekturen machen oder ergänzende Kommentare zulassen. Ich kann einen Jahre alten, früheren Beitrag mit einem Hinweis auf einen neueren Beitrag versehen.
  • Vollautomatisches Aktivieren aller Referenzen: Die klassische Referenz nur mit Autor und Titel kommt mir vor wie ein abgesägter Arm im Vergleich zu den Möglichkeiten eines Links im Internet. Ich schicke nicht mehr jemand auf eine Expedition in kilometerweit entfernte Bibliotheken, sondern ziehe das Dokument wie an einem Seil direkt zu mir.
  • Automatische Übersetzung in andere Sprachen: Dank der Fortschritte in der maschinellen Sprachübersetzung kann ich einen fünfseitigen deutschen Text in einer halben Stunde in passables Englisch übersetzen. Für Französisch benötige ich etwas länger. Die Hauptsache aber ist, der übersetzte Text ist im gleichen Medium (und anderen, so fern ich es will) sofort überall auf der Welt verfügbar.
  • Gleichbehandlung aller Dokumente unabhängig vom Alter: Es hat mich selbst vollkommen überrascht, dass der am häufigsten besuchte Text meines Blogs ein über fünf Jahre alter Beitrag ist. Wer kümmert sich schon um fünf Jahre alte Beiträge in papiernen Zeitschriften oder Büchern. Sie liegen irgendwo angestaubt in Kisten oder Bücherregalen.
  • Nicht abnutzbar durch Vielfachnutzung: Von der Papierausgabe eines meiner Bücher wollte ein Bekannter zwei Exemplare haben. Er möchte das eine Exemplar nämlich lesen (und dabei evtl. grob behandeln) und das andere weglegen, damit es auch nach Jahren noch unbeschadet ist.
  • Tatsächliche Kostenersparnisse für die Nutzer: Es hat länger gedauert als erwartet, bis die möglichen Preissenkungen im vollen Umfang sichtbar wurden. Seit über zwei Jahren besitze ich ein Abonnement (Skoobe = Umkehrung von ebooks) für 9,99 Euro pro Monat, in dessen Rahmen über 10.000 eBücher angeboten werden. 
Obwohl die obige Liste, wie sie sich aus der Sicht der Nutzer ergibt, schon recht lange ist, sollte nicht vergessen werden, welche Vorteile sich für die Umwelt ergeben. Mein eigener Haushalt und meine eigene Betriebseinheit verarbeiteten früher Berge von Papier, für die irgendwo Bäume starben, chemische Prozesse abliefen, meilenweit Lasten transportiert, die anschließend wieder tonnenweise entsorgt werden mussten. Mein persönlicher Verbrauch an Faservlies, auch Papier genannt, hat sich inzwischen auf Klo-Papier und Taschentücher reduziert. 
 


Im Heimkino 2016

MOP: Welche Risiken verbinden Sie mit der digitalen Transformation?

AE: Auch hier gebe ich zunächst den ursprünglichen Text wieder. Es wurden sechs Nachteile digitaler Dokumente angeführt.

  • Abhängigkeit von technischen Hilfsmitteln: Digitale Dokumente, insbesondere solche in binärer Darstellung, sind für Menschen nicht ohne technische Hilfsmittel zu erstellen und zu nutzen. Diese Abhängigkeit verlangt gewisse Investitionen und Grundkenntnisse, aber auch das Vorhandensein von elektrischer Energie.
  • Leichte Veränderbarkeit: Ein digitales Dokument ist veränderbar, ohne dass Spuren der Veränderung am Dokument sichtbar sind. Soll eine Veränderung verhindert werden oder sichtbar gemacht werden, müssen bestimmte Vorkehrungen getroffen werden.
  • Umfang digitaler Dokumente: Gegenüber einem analogen Dokument gleichen Inhalts kann der Umfang des entsprechenden digitalen Dokuments das 10- bis 100-fache ausmachen.
  • Gefahr von Beschädigung und Verlust: Da die laufende menschliche Sichtkontrolle nicht möglich ist, kann eine Beschädigung oder gar ein Verlust eines digitalen Dokuments eintreten, den man erst sehr spät festgestellt. Es kann durchaus vorkommen, dass man eine nicht-lesbare oder gar leere Diskette erhält.
  • Risiken bei Übertragung über offene Netze: Bei Versand von Briefen und anderen Papierdokumenten gibt der Umschlag eine gewisse Sicherheit gegen ein Mitlesen des Inhalts. Im Prinzip kann jeder Teilnehmer alle Nachrichten lesen, die über ein offenes Netz versandt werden. Die Gefährdung kann sich dadurch ergeben, dass Nachrichten mit empfindlichem Inhalt an Nutzer gelangen, die diese Nachrichten überhaupt nicht haben wollten oder an solche Teilnehmer, die mit Absicht fremde Nachrichten anzapfen.
  • Aufwand für Langfrist-Archivierung: Eine langfristige Archivierung erfordert eine laufende Anpassung an die jeweils nutzbaren Technologien und Formate. Wird dies nicht gemacht, kann es sein, dass bereits nach fünf bis sieben Jahren das Dokument nicht mehr lesbar ist.
Weitere Nachteile digitaler Dokumente kenne ich weniger aus eigener Erfahrung als aus Berichten in den Medien: 
  • Mangelndes haptisches Erlebnis: Offensichtlich sind eBücher (noch) nicht populär als Geschenk für ältere Leute. Deshalb lasse ich ausgewählte Beiträge aus meinem Blog als Sammelband auf Papier drucken. 
  • Verunsicherung traditioneller Geschäftspartner: Das Jammern von Zeitungsverlegern hält schon seit Jahren unvermindert an. 
  • Überhandnehmen von Hass, Polemik und Beschimpfungen: Waren lange Zeit Viren, Trojaner oder Blockierer (DDoS) das Hauptproblem, so sind der schlechte Sprachstil im Netz oder die Falschmeldungen (engl. fake news) heute der Hauptgesprächsstoff. 
Zu erwähnen sind bisher nicht eingetretene Befürchtungen und bisher nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten. Der von vielen befürchtete völlige Einbruch der kulturellen Aktivitäten von Autoren und Künstlern ist bisher ausgeblieben. Zwar hat Jaron Lanier, der Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels von 2014, auf die Gefahren hingewiesen, die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird und wenn Menschen, trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit, auf digitale Kategorien reduziert werden. Es käme darauf an, wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein und der digitalen Welt Strukturen vorzugeben, die die Rechte des Individuums beachten und die demokratische Teilhabe aller fördern. Die großen Verteiler (also die Dreckschleuderer) seien die wahren Gewinner im Internet und nicht die einzelnen kreativen Schöpfer, beklagt Lanier. Insgesamt scheint dies die Produktion von lesenswertem Material (noch) nicht gestoppt zu haben. Nur so ist zu erklären, dass auf Buchmessen jedes Mal mehr Neuerscheinungen vorgestellt werden als im Jahr davor. Die Möglichkeiten, die in digitalen Dokumenten stecken, sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Einer, der auch diese Meinung vertritt, ist Sascha Lobo. Sein Vorschlag mit dem Namen Social Books (Abk. sobooks) ist nur einer von Vielen. Lobo möchte, dass es bessere Möglichkeiten gibt, Feedback an den Autor zu geben. Außerdem ist er für eine freie Nutzung aller Materialien, weit über das Zitieren hinaus.

MOP: Viele praktische Vorteile und viele relevante Aspekte. Was bedeutet es für Sie, Mensch-Sein mit Algorithmen? 

AE: Der obige Slogan kommt mir fast banal vor. Die Umkehrung ‚Mensch-Sein ohne Algorithmen‘ dagegen hätte mich echt aufhorchen lassen. Es wäre nämlich schlimm, wenn wir plötzlich keine Verfahren mehr hätten, um in endlicher Zeit zu verlässlichen Ergebnissen zu gelangen. Genau das nennt man nämlich einen Algorithmus, und zwar in Anlehnung an Muḥammad Ibn-Mūsā al-Chwarizmi (* um 780; † zwischen 835 und 850) aus Chiwa in Usbekistan. Ich habe 1989 dort sein Standbild gesucht und auch gefunden. 


Bei Al-Chwarizmi in Chiwa 1989

Algorithmen sind neben Datenstrukturen ein Kernelement der Informatik. Nicht alle Algorithmen sind auf Computer übertragbar. Das gilt jedoch für alle mathematischen Algorithmen, wie dem des Euklid oder dem des Eratosthenes. Beide sind über 2000 Jahre alt. Mittels Programmiersprachen können sie heute von Fachleuten in Programme überführt und auf einem Computer ausgeführt werden. Das gilt (noch) nicht für andere Klassen von Algorithmen, z. B. für Kochrezepte. Ich frage mich, ob die Kollegen, die der ACM-Veranstaltung diesen Titel gaben, sich mit Köchen vergleichen und gar anfreunden wollen. Jedenfalls haben sie sich von dem leidigen und technisch anspruchsvollen Thema der Programmiermethoden und der Programmiersprachen freigemacht. Bei Algorithmen glauben auch Leute mitreden zu können, die von Informatik-Fachkenntnissen nicht belastet sind. Es könnte interessant sein zu erfahren, welche speziellen Algorithmen oder welche Gruppen oder Kategorien von Algorithmen heute von besonderer Bedeutung sind, welchen Schwierigkeitsgrad sie besitzen, wem und wo welche zugänglich sind, und vor welchen Algorithmen sich der Mensch in Acht nehmen muss. Mit Mensch sei Wissenschaftler, Fachmann und Laie gemeint. Das könnte sehr spannend werden. 

MOP: Lieber Herr Endres, ich danke Ihnen herzlich für dieses interessante Interview und freue mich, dass wir Sie zu unserem Symposium im September begrüßen dürfen. Ich bin mir sicher, dass einige unserer Leser dort gerne das Gespräch mit Ihnen suchen werden.

Referenzen 
  1. Barth, A., et al. (eds): Digital Libraries in Computer Science – The MeDoc Approach. LNCS 1392, Heidelberg: 1998; 237 Seiten; ISBN 3-540-64493-80 
  2. Endres, A., Fellner, D.W.: Digitale Bibliotheken. Heidelberg: 2000; 494 Seiten; ISBN 3-932588-77-0

Donnerstag, 23. August 2018

Die Brücke von Genua und die Schieflage der EU

Der italienische Innenminister Matteo Salvini, der bekanntlich etwas zum Populismus neigt, hat den Schuldigen für den Einsturz der Autobahnbrücke in Genua schnell identifiziert. Es sei die Europäische Union (EU). Sie habe Italien zu sehr zum Sparen angehalten angesichts seiner überbordenden Staatsschulden. Hier ist das Schema leicht zu erkennen, wie nicht nur in Italien – einem EU-Gründungsland − Stimmung gegen die EU gemacht wird. Es ist daher kein Wunder, dass allenthalben der EU mit großer Lethargie, ja oft mit Skepsis und Widerwillen begegnet wird. Die Brücke von Genua bietet einen Anlass, auch über dieses Problem nachzudenken. Ich bezeichne es als die Schieflage der EU.

Ingenieur-Debakel

Am Dienstag voriger Woche, am 14. August 2018, brach in Genua die von dem Ingenieur Riccardo Morandi (1902-1989) gebaute Autobahnbrücke auf einer Strecke von 200 Metern zusammen. Äußere Einflüsse waren nicht festzustellen. Kein übermäßig starker Sturm und kein Erdbeben waren Schuld. Infolge andauernden Regens standen mehrere Wasserpfützen auf der Fahrbahn. Die Brücke war 1967 in Form einer Hängeseil-Konstruktion erstellt worden. Eine Besonderheit war, dass die Hängeseile mit Beton umgossen sind, was sonst meist nicht geschieht. Sie sollten dadurch gegen Korrosion (Rost) geschützt werden. Wie erste Nachforschungen ergaben, scheint hier ein Problem gelegen zu haben, was den Experten nicht unbekannt geblieben war. Bei dem Einsturz stürzten rund ein Dutzend Last- oder Personenwagen in die Tiefe. Es kam zu mehr als 40 Toten und einer noch größeren Anzahl von Verletzten. Die Autobahnstrecke, die Genua mit dem Grenzort Ventimiglia verbindet, fällt bis auf weiteres aus.


Eingestürzte Morandi-Brücke

Die Frage ist zu klären, was den Einsturz verursachte. Waren es doch Rostschäden an den Seilen, die übersehen worden waren, oder hat sich einer der Pylonen verschoben oder geneigt, was ein Fahrbahnsegment zum Einsturz brachte. Die ganze Branche und die gesamte italienische Industrie stehen jetzt im Visier, bis dass diese Frage geklärt ist. Dass andere Politiker sich den Autobahnbetreiber vornehmen – so der Verkehrsminister Danilo Toninelli − liegt auf der Hand. Eine Brücke verlangt Wartung, soll sie nicht im Alter von gerademal 50 Jahren einstürzen. Dem Erbauer wird man nicht mehr ans Leder können, da er seit fast 30 Jahren tot ist. Jede Region außerhalb Italiens befleißigt sich darauf hinzuweisen, dass ein ähnliches Unglück bei ihnen nicht vorkommen kann. Hoffentlich nimmt man den Mund nicht zu voll. Darauf, dass die EU an möglichen weiteren ähnlichen Problemen die Schuld trägt, darauf muss man erst kommen.

Anfänge und Expansion der EU

Die EU kann dieses Jahr ihr 60-jähriges Bestehen feiern. Aus dem anfänglichen Bund aus sechs westeuropäischen Staaten ist ein mehr als viermal so großer Staatenverbund entstanden. Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede sind nicht mehr zu übersehen.  Der größte Bruch erfolgte im Jahre 2004 mit der gleichzeitigen Aufnahme von acht, ehemals zum kommunistischen Ostblock zählender Länder. Nach der inzwischen um drei weitere Staaten angereicherten Osterweiterung ist der Erweiterungsprozess Prozess noch lange nicht abgeschlossen. Vier Länder sind bereits als Kandidaten akzeptiert (Island, Mazedonien, Montenegro und Serbien). Weitere vier stehen an der Tür (Bosnien-Herzogewina, Albanien, Ukraine, Türkei).



Entwicklung der EU (nach Wirsching)

Das gemeinsame kulturelle Erbe ist in den Hintergrund getreten. Ganz andere Fragen stehen an. Die wirtschaftliche Entwicklung und die gemeinsamen Anstrengungen zur Landesverteidigung bestimmen die Tagesordnung. Zwar bewirkt die gleichzeitige Ostausdehnung der NATO, dass die EU sich in militärischer Hinsicht bedeckt halten kann. Die Politik von US-Präsident Donald Trump rüttelt aber deutlich an dieser bisherigen Selbstverständlichkeit.

Problematische Struktur der EU

Die EU wurde gegründet als Staatenbund und ist dies bis heute geblieben. Die Forderung, die EU in einen Bundesstaat umzuwandeln, stand seit Anbeginn im Raum. Sie wurde aber immer wieder mit einem klaren Nein beantwortet. Zuletzt geschah dies bei der Abstimmung über den Verfassungsvorschlag im Jahre 2005 (siehe unten). Martin Schulz, der ehemalige Präsident des EU-Parlaments und erfolglose Kanzlerkandidat der SPD, sprach nur ganz kurz davon, dass er die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ anstrebe. Er besann sich sehr schnell, dass er damit viele Wähler vergraulen würde und hielt fortan lieber den Mund.

Die Legislative und damit die Legitimation hatte ursprünglich nur eine einzige Quelle. Sie bestand aus zwei Teilen, dem Ministerrat und dem Europäischen Rat, wobei nur letzterer wirklich in Erscheinung tritt. Ihm gehören die Regierungschefs der Mitgliedsländer an. Er bekommt alle Aufmerksamkeit, wenn er einmal pro Quartal zusammentrifft. Das Parlament hatte anfangs nur eine rein beratende Funktion. Diese wurde in mehreren Schritten erweitert. So waren die EU-Abgeordneten anfangs Abgesandte der Länderparlamente, werden aber inzwischen direkt von den Bürgern gewählt. Die Stimmen in den kleinen Ländern zählen dabei mehr als die der großen Staaten. Ein Abgeordneter aus Malta wird mit erheblich weniger Stimmen gewählt als ein deutscher oder ein französischer. Das EU-Parlament hat inzwischen auch ein Vorschlagsrecht für den Kommissionsvorsitz, ein beschränktes Haushaltsrecht und ein Vetorecht gegenüber Verordnungen der Kommission.
Die eigentliche Exekutive ist die EU-Kommission. Daneben gibt es den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der alle Streifragen entscheiden soll. Sowohl die Exekutive wie die Judikative haben – nach Ansicht vieler Beobachter − ein klares Übergewicht.

Gescheiterter Verfassungsvorschlag

Nach der Osterweiterung erschien vielen Leuten die Zeit reif, um die EU juristisch auf eine bessere Basis zu stellen. Ein Europäischer Konvent unter Leitung des französischen Ex-Präsidenten Valerie Giscard d’Estaing erarbeitete einen Verfassungsentwurf aus, der im Oktober 2004 in Rom feierlich von den Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde. Er sollte im November 2006 in Kraft treten. Staaten wie Deutschland ratifizierten ihn mit großer Parlamentsmehrheit. In Frankreich und den Niederlanden, die eine Volksabstimmung durchführten, scheiterte er jedoch. Stattdessen schlossen im Dezember 2007 die europäischen Staats- und Regierungschefs den Vertrag von Lissabon ab, der im Dezember 2009 in Kraft trat. Er dient als die derzeitige Basis der EU. Ein erneutes französisches oder niederländisches Referendum fand nicht statt. Die Irländer, die zunächst dagegen votierten, stimmten nach einem Jahr Bedenkzeit zu.

Brexit und Sonstiges

Über den Brexit und seine möglichen Auswirkungen habe ich mich in Juli 2016 ausgelassen. Inzwischen sind zwei weitere Jahre vergangen, ohne dass wirklich Klarheit herrscht, was ab März 2019 genau passieren wird. Es besteht leider wenig Hoffnung, dass im Vereinigten Königreich (UK) plötzlich die Vernunft die Oberhand gewinnt. Vielleicht träumt man dort noch intensiver von der speziellen transatlantischen Beziehung, seit Donald Trump in den USA das Sagen hat.

Dass es weitere Beitritts-Kandidaten gibt, hatte ich bereits erwähnt. Ob mit und ohne Hoffnung, das sei dahingestellt. Dass die Schweiz und Norwegen weiter ihren eigenen Weg gehen werden, das ist anzunehmen. Die Erweiterung der jetzigen EU ist kein aktuelles Thema. Die Frage einer stärkeren finanziellen Verflechtung der Euro-Region ist davon als separat anzusehen. Ob dabei ein eigener Finanzminister von Nutzen ist, ist umstritten.

Von Lethargie zu Skepsis und Widerwillen

Im August 2012, also vor exakt sechs Jahren, ließ ich mich von den beiden Politikern Friedrich Merz und Wolfgang Clement zu einer Diskussion über Europa anregen. ‚Wieviel Europa soll es denn sein?‘ so lautete ihre Frage. Sie wollten damit falsche Erwartungen etwas zurechtrücken. Im Grunde ging es seither nur bergab. Die Situation, die heute herrscht, lässt sich in drei Stufen von Gefühlen ausdrücken, Lethargie, Skepsis und Widerwillen.

Die Lethargie drückt sich in einem geringen Interesse an dem Geschehen aus. Aus der Teilnahmslosigkeit folgt eine geringe Wahlbeteiligung. Es fehlen Stimulanzen, die Anreize für die Bürger darstellen. Die Skepsis basiert auf Misstrauen. Dafür sorgt die hyperaktive Exekutive. Eine Zahl soll dies ausdrücken: Die Gesamtzahl an Richtlinien und Verordnungen aus Brüssel umfasst bescheidene 60-70.000 Seiten (Fachausdruck: Aquis communautaire). Offener Hass gibt es bei nationalistischen Parteien und Gruppierungen, die es inzwischen in fast jedem EU-Land gibt.

Ernüchternde EU-Parlamentswahl 2014

Die letzte für das EU-Parlament durchgeführte Wahl hatte in einigen Ländern geradezu desaströse Ergebnisse. In Frankreich erzielte der Front National (FN) 25% der Stimmen und Sitze. In Großbritannien deklassierte die europafeindliche UK Independence Party (UKIP) mit 26,6% der Stimmen die beiden traditionellen Volksparteien Labour (24,4%) und Konservative (23,1%). In Deutschland erreichte die AfD zwar nur 7%. Seither wuchs sie weiter in den Bereich von 15-20%.

In meinem Blog-Beitrag zu Europa im Mai 2014, also kurz nach der Wahl, schrieb ich: ‚Ich halte übrigens Lucke, Le Pen, Farrage u. a. nicht für Europas Hauptproblem. Sie können sogar etwas Gutes bewirken. Dann nämlich, wenn sie Politiker aller Couleur zur Einsicht verhelfen, dass das Motto 'Mehr Europa' schlicht zu einfach ist. Es ist eine gedankliche Kapitulation, eine Ausrede von Faulenzern. Politiker müssen laufend darüber nachdenken, was sie nach oben wegdelegieren können oder sogar müssen, und was sie auf ihrer Ebene angehen müssen.‘ Ich glaube, das war reines Wunschdenken meinerseits.

Aktuelle Politik der EU und der Gliedstaaten

Die EU war einmal ein großes Versprechen. Der Inhalt des Versprechens wandelte sich, einmal in Folge der fortschreitenden Zeit, anderseits mit den neuen Mitgliedern. Für die ersten 15 ehemals zum freien, westlichen Teil Europas gehörenden Länder ging es um die Bestätigung und gegenseitige Absicherung eines erreichten Zustands. Durch die Osterweiterung kam etwa die gleiche Anzahl von Ländern hinzu, die das erreichen wollten, was die anderen schon lange besaßen. Die EU versucht, diese divergierenden Interessen unter einen Hut zu bringen. In 50 Jahren haben sich viele Mechanismen eingespielt und bedienen Dinge, auf die die Nutznießer ein Recht zu haben glauben.

Lokalpolitiker leiten oft ihre Daseinsberechtigung aus der Kritik an einer Zentrale ab. Nicht nur da, wo Rechtsradikale an der Regierung beteiligt sind, wird die EU gerne zum Sündenbock erklärt für alles, was schiefläuft. Wir kennen dies aus der Bundesrepublik. Geschieht in Bayern ein Unglück oder ein Verbrechen, so ist Berlin daran schuld. Die Reaktion des italienischen Innenministerns auf den Brückeneinsturz in Genua unterstreicht diesen Punkt.


Weitere Stimmen und Sichten zur EU-Situation

Europa kritisch zu kommentieren gehört seit längerem zum Lieblingssport vieler politischer Autoren. Mit einigen markanten Vertretern habe ich mich in den letzten Wochen befasst. Der ehemalige Verfassungsrichter und spätere Bundespräsident Roman Herzog (1934-2017) ist ein durchaus positives Beispiel. In seinem Buch Europa neu erfinden (2014, 160 S.) fasst er zusammen, was Bürger ihm berichteten. Er warnt vor einer Union, die sich zu einem Überstaat entwickelt und dadurch die Mitgliedstaaten und deren Parlamente entmachtet. Europa wird nur dann stark und lebensfähig sein, so Herzog, wenn es sich neu erfindet. Nur so wird es gelingen, die EU aus ihrer derzeitigen Krise zu führen und zu einer demokratischen und freien Union zu formen, die von den Menschen in allen Mitgliedsländern akzeptiert wird.

Herzog findet, dass die Probleme der EU alle nach 2008 entstanden sind, also fünf Jahrzehnte nach ihrer Gründung. Dazu rechnet er das Vorenthalten wichtiger Befugnisse durch die Mitgliedsstaaten, die Wahl schlechter Leute, Bürokratie, Engstirnigkeit, und vor allem die Normenhypertrophie. Als ein Demokratiedefizit empfindet auch er die Stellung des Parlaments. Schließlich verbinde sich mit dem Euro Angst ums liebe Geld – vor allem bei uns Deutschen. Erwartet würden primär eine Sicherung des Wohlstands und ein machtvolles Auftreten gegenüber dem Rest der Welt. Dazu könnten klarere Zuständigkeiten, weniger Verordnungen und eine generelle Verschlankung von Nutzen sein.

Ein anderer ehemaliger Verfassungsrichter ist Dieter Grimm (*1937). In seinem Buch  Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie (2016, 288 S.) argumentiert er vorwiegend juristisch. Er erklärt vor allem das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) zum Vertrag von Lissabon. Bekanntlich kam das BVG zu dem Ergebnis, dass der Vertrag unser Grundgesetz zwar stark berührt, aber gerade noch intakt lässt. Er findet, dass eine Ausstattung des EU-Parlaments mit mehr Rechten das allseits beklagte Demokratiedefizit nicht beseitigt. Es fehle die europäische Öffentlichkeit und die gesellschaftliche Substruktur (Medien, Polizei). Daher fordert er (a) Europäische Parteien, die ihre Wahlkämpfe mit europäischen Themen bestreiten (b) eine Vergemeinschaftung nach Sachgebieten und (c) eine Rückführung der Verträge auf Ziele, Organe, Kompetenzen, Verfahren und Grundrechte. Grimms Augenmerk richtet sich sehr stark auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser interpretiere die Rechte der EU großzügig, die der Mitgliedstaaten jedoch eng. Er sei neben der Kommission die treibende Kraft der Integration. Der EuGH sei kein Schiedsrichter, sondern ein Gericht mit einer Agenda.

Der ehemalige Außenminister und Vorsitzender der Grünen Joschka Fischer (*1948) ahmt den großen Henry Kissinger nach. In seiner weltpolitischen Tour d’Horizon betitelt Der Abstieg des Westens. Europa in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts. (2018, 240 S.) wiederholt er seine Meinung, dass man die Türkei als zukünftigen Teil der EU ansehen sollte. Damit bekäme Europa ein Tor in den Nahen Osten und zusätzliche Militärmacht. Durch die seit 2008 ausgebrochene Finanzkrise sei für den politischen Einigungsprozess ein ganzes Jahrzehnt verloren gegangen.


Eine geradezu wohltuende Lektüre bietet der Münchner Historiker Andreas Wirsching (*1959) an. In seiner Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert (4. Auflage 2018, 128 S.) zeigt er den mäandrierenden Weg auf, den Europa in den letzten 50 Jahren ging. Das als westeuropäische Einigung gestartete Nachkriegsprojekt der Friedenssicherung ist beendet. Europa benötige eine neue Narration. Das kann die Wahrung der Umwelt betreffen, die Bedrohung durch die Immigration aus Asien und Afrika oder gar der Schutz gegen Russland.


Parteien verlören allenthalben das Vertrauen der Bevölkerung, so in Italien und Frankreich. Diese machten sich nämlich vielfach den Staat zur Beute. Die traditionellen Arbeiterparteien sind betroffen vom Übergang von einer Industrie- zu einer post-industriellen Dienstleistungsgesellschaft. In fast allen Ländern bieten Populisten vereinfachte Lösungen an, die teilweise nur auf eine Gruppe bezogen sind. Leute wie Marine Le Pen, Jörg Haider, Pim Fortuyn und Christoph Blocher argumentieren gegen eine angeblich drohende ethnische Durchmischung durch Einwanderung. Auch Viktor Orban in Ungarn und die Brüder Kaczynski in Polen spielen diese Melodie.


Das Platzen der US-Immobilienblase riss mehrere europäische Länder in die Staats-Verschuldung, unter anderem beim Bemühen ihre Banken zu retten. Besonders betroffen waren Griechenland, Spanien und Portugal  Ihnen drohte der Staatsbankrott, verbunden mit einer Vertrauenskrise der EU. Die durch die EU-Partnerländer in die Wege geleiteten Rettungsmaßnahmen waren zwar schwierig, aber erfolgreich. Dank neu geschaffener Strukturen (Bsp. ESM) stehen heute alle EU-Länder besser da.

Das Verhältnis zu Russland verschlechterte sich abrupt als die EU einen Assoziierungs-Vertrag für die Ukraine mit der Regierung Janukowitsch abschließen wollte. Als dies von Putin blockiert wurde, kam es im Januar 2014 zum Maidan-Aufstand in Kiew und in deren Folge zur Session bzw. Annexion der Krim im Mai 2014. Trotzdem könne das Motto für Europa lauten: Frieden, Wohlstand, soziale Sicherheit, kulturelle Vielfalt, das alles verbunden mit Liberalität.

Schlussbetrachtung

Mit einer ausgesprochen positiven Stimme will ich den Beitrag beenden. Der Ulmer Informatiker und Weltpolitiker Franz Josef Radermacher sieht die EU als Muster für eine geglückte Entwicklung an. Sie brachte eine Region voran, indem Starke den Schwachen halfen. Ihre Aufnahmekriterien und Beitrittshilfen definieren Ziel und Weg einer rationalen und effektiven Politik. Den von ihm bevorzugten Weg bezeichnet Radermacher als Ökosoziale Marktwirtschaft. Im Juni 2016 schrieb er in diesem Blog: ‚In jedem Fall bleibt die EU eine Hoffnung für die Welt, denn das ist die Richtung, in die wir agieren müssen, wenn Balance das Ziel ist. Dass die EU Schwierigkeiten hat, spricht nicht dagegen, dass dies die Richtung ist, in die wir uns bewegen müssten. Aber es macht eben auch deutlich, dass das vielleicht nicht gelingen wird.‘

Dienstag, 7. August 2018

Adelsproben und Stammbäume am Beispiel eines rheinischen Rittergeschlechts

Vorbemerkung: Im Oktober 2016 stellte ich in diesem Blog das Barockschloss Niederweis vor. Es ist dies eine bauliche Hinterlassenschaft der früher dort lebenden Adelsfamilie. Heute stelle ich einige Mitglieder dieser Familie vor, und zwar anhand ihrer Stammbäume. Es zeigt dies primär die Einbettung der Familie in die Adelsgesellschaft ihrer Zeit. Dabei werden Beziehungen deutlich, die den luxemburgischen und den rheinischen Adel verbanden, aber auch die historischen Ereignisse, die ihre Zeit bestimmten. In unserem Falle sind es die Unruhen, die der Dreißigjährige Krieg über ganz Deutschland brachte, aber auch die Ambitionen Ludwigs XIV, der an den Strukturen unserer Gegend mächtig rüttelte. 

Diese Veröffentlichung erscheint parallel in einer Bitburger heimatkundlichen Zeitschrift. Dabei gibt es allerdings kein Äquivalent zu den Links, die auf die im Internet zugänglichen Quellen verweisen.

Einleitung

Die Adelsprobe (auch: Ahnenprobe) ist ein urkundlicher Nachweis der adligen Abstammung eines Geschlechts oder einer Person (Wikipedia). Seit langem besitze ich schöne bunte Grafiken aus dem Nachlass unserer lokalen Herrschaft, die ich zwar bestaunte, aber eigentlich nichts mit ihnen anfangen konnte. Neben echten Adelsproben existieren Stammbäume der vielfältigsten Art. Jetzt habe ich etwas nachgeforscht. Vier besonders interessante Fälle werden ausführlich behandelt. Sie betreffen alle die von mir schon mehrmals beschriebene frühere Herrschaft Niederweis [1]. Alle im Beitrag wiedergegebenen historischen Grafiken wurden mir von Matthias Schneider, dem jetzigen Eigentümer des Niederweiser Schlosses, zur Verfügung gestellt. Hierfür danke ich ihm sehr.

Historische Einordnung

Seit dem 12. Jahrhundert musste jemand, der an einem Ritterturnier teilnehmen wollte, nachweisen, dass er ‚vierschildrig‘ war. Er musste von vier adeligen Großeltern abstammen. Das gleiche galt für die Mitgliedschaft in einen geistlichen  Ritterorden, einem Domkapitel oder einem adeligen Frauenstift. Auch andere Privilegien, wie der Zutritt zum Königshof, waren oft an diesen Nachweis gebunden. Gewisse Institutionen verlangten sogar die 16-Ahnen-Probe (Nachweis, dass alle Ururgroßeltern adelig geboren waren). In frühen Zeiten wurde der Nachweis regelmäßig durch die sogenannte „Aufschwörung“ erbracht. In diesem Verfahren bestätigten andere Adlige die Richtigkeit aller Angaben auf der Ahnentafel. Später trat der Urkundenbeweis an die Stelle der Adelsprobe.

Noch bis 1918 verlangten zum Beispiel der Malteserorden und der Johanniterorden die Adelsprobe. Beim Malteserorden wurde ein Duplikat der Tafel nach Malta versandt. Mit der Aufschwörung waren normalerweise erhebliche Kosten verbunden, unter anderem Bewirtungskosten für die mit der Probe verbundenen Festlichkeiten. In der Fürstabtei Kempten wurde die Adelsprobe in die Ordensregel der dortigen Benediktiner integriert, um dadurch sicherzustellen, dass keine Nicht-Adeligen zu Mitgliedern wurden. Bei einigen Domkapiteln konnte ein Doktorgrad die Mitgliedschaft ermöglichen. Als besonders streng galt der Orden der Kanonissinnen. Bei der Einschwörung eines neuen Fräuleins im Stift Würzburg legten 1757 die vier zu diesem Zweck ernannten männlichen Aufschwörer einen Schwur ab auf den adligen Geburtsstand der vier Urgroßmütter, der zwei Großmütter und der Mutter.

Stammbaum der Maria Ursula Cob von Nüdingen von 1690

Maria Ursula Cob von Nüdingen (etwa 1640 - etwa 1710) entstammte der in Bitburg ansässigen Koben-Familie. Sie erbte das Schloss und den Grundbesitz in Niederweis von ihrem Bruder Philipp Christoph II., der kinderlos starb. Sie war mit Johann Hermann von der Heyden verheiratet.

Durch Heirat mit Margarethe Fock von Hubingen waren die Cob von Nüdingen an Besitz in Niederweis gelangt. Nach dem Tode ihres ersten Gatten, Christoph Cob von Nüdingen, einigte sich Margaretha von Hubingen mit ihrem Bruder Ernst Fock von Hubingen, dass Niederweis an ihren Sohn Johann Ernst kommt. Das Jahrgeding des Jahres 1599 in Niederweis wurde von Johann Ernst Cob von Nüdingen durchgeführt. Nach seinem Tode tritt seine Witwe, Anna von Sponheim, als Eigentümerin in Erscheinung. Sie lässt sich von Hans Georg von Nassau, ihrem Schwager, vertreten; so bei einem Jahrgeding im Jahre 1633, also während des Dreißigjährigen Krieges. Bekanntlich war dies eine sehr instabile Zeit. Mal hatten damals die Franzosen die Oberhand, mal die Kaiserlichen, d.h. die Habsburger. Die Besitzverhältnisse in Niederweis waren in dieser Zeit, gelinde gesagt, etwas undurchsichtig.


Darauf deutet folgender Akt: Im Jahre 1634 verkaufte Hermann-Fortunatus [1595-1665], Graf von Baden, Herr zu Rodemacher und Useldingen [eine mit dem Hause Luxemburg verwandte Nebenlinie der badischen Markgrafen], Herrn Alexander Silbricht von Diesdorf [vermutlich das heutige Distroff in Lothringen], Herrn von Burgrattich, und seiner Frau Claudine Faust de Stromberg seine „graue Burg“ zu Niederweis mit Einkünften für 11827 Taler und 24 Schilling. Möglicherweise erfolgte der besagte Kauf jedoch im Auftrag der Koben-Familie, da die im Vertrag genannte Familie Silbricht nie als Besitzer in Erscheinung trat. Der als Verkäufer auftretende Graf von Baden hatte offensichtlich Rechte des Vorbesitzers, des Fock von Hubingen, erworben oder geerbt. Das Haus Baden war quasi der Statthalter für Habsburgs Interessen im damaligen Luxemburg.

Durch Grabplatten in der Kirche zu Niederweis wird sowohl auf Philipp Christoph I., der 1671 starb, sowie auf seinen Sohn gleichen Namens verwiesen, der 1699 starb. Nach dem Frieden von Nimwegen reichte Philipp Christoph II. im Jahre 1681 König Ludwig XIV. ein Verzeichnis seiner Besitzungen ein, die ihm daraufhin als Lehen bestätigt wurden. Darin enthalten sind außer der Herrschaft Niederweis die davon abhängigen Orte Alsdorf, Kaschenbach und Meckel, dazu seine Häuser in Niederweis und Bitburg und der Hof Badenborn. Der Bitburger Landbesitz umfasste 40 Morgen Ackerland und 15 Morgen Grasland, sowie eine Bannmühle und einen Bannbackofen. Bei dieser ersten französischen Besetzung wurde an der Besitzstruktur des niederen Adels nichts geändert. Bei der Besetzung von 1794 im Zuge der Französische Revolution verloren bekanntlich alle Adeligen ihren Besitz.

Da Philipp Christoph II. kinderlos starb, wurde er von seiner Schwester Maria Ursula beerbt. Sie muss bereits ab 1672 das Schloss Niederweis besessen haben. Von diesem Jahre an ist nämlich ein Friedrich Tesch aus Vianden Amtmann der Freifrau Maria Ursula Cob von Nudingen und wohnt die folgenden zwölf Jahre im Schloss Niederweis. Neben den Cob von Nudingen wurden damals fünf weitere Adelsfamilien genannt, die Grundbesitz in Niederweis hatten. Ihre Namen sind Bourscheid, Falkenstein-Bettingen, Fels, Elter und Mohr vom Wald.

Stammbaum des Franz Eduard Anton von der Heyden von 1730

Franz Eduard Anton (1692-1755) war der Erbauer des heutigen Niederweiser Schlosses [3]. Er war das fünfte von elf Kindern, neben zehn Schwestern. Er wurde lokalpolitisch von Bedeutung als Vorsitzender des Luxemburger Rittergerichts. Das Schicksal der zehn Schwestern war das zentrale Thema des Beitrags [2]. 


Franz Eduard Anton wurde 1721 von Prinz Eugen von Savoyen zum 'Rat mit der kurzen Robe' berufen. Prinz Eugen war damals der kaiserliche Statthalter in den Österreichischen Niederlanden mit Sitz in Brüssel. Im Jahre 1731 wurde Franz Eduard Anton zum Einwohner der Stadt Luxemburg ernannt sowie zum Mitglied des Provinzialrates von Luxemburg gewählt (auch Rittergericht genannt). Als Illustration der familiären Verbundenheit kann das Beispiel dieser Wahl zum Ritterrichter dienen. Nicht nur waren ein Schwager (Heinrich von Schauenburg) und zwei Brüder von Schwägern (Matthias von Wopersnow, Albert Eugen von Schauenburg) wahlberechtigte Mitglieder. Ebenso war es ein Cousin väterlicherseits, der Sohn einer Tante (Johann Heinrich von Zievel). Bei der entscheidenden Sitzung im Jahre 1731, als die Wahl anstand, waren von zwölf die Wahl durchführenden Mitgliedern vier Verwandte. Es mussten lediglich drei Nicht-Verwandte auf seine Seite gezogen werden. Zwölf Jahre später, im Jahre 1743, wurde Franz Eduard Anton Präsident des Rittergerichts. Er galt damit als der höchste Vertreter des Luxemburger Adels. Gleichzeitig wurde er durch die Kaiserin Maria Theresia in den Baronstand erhoben.

Im Jahre 1702 begann die Abtei Echternach einen Prozess gegen den Freiherrn von der Heyden über die Jagd- und Fischereirechte zu Niederweis. Dieser Prozess, der bis 1772, also 70 Jahre dauerte, hatte das Ergebnis, dass die eher geringen Ansprüche der Willibrord-Abtei in Niederweis noch weiter zurückgedrängt wurden. Franz Eduard Anton schließt 1744 mit fünf Untertanen aus Niederweis den Vertrag zum Bau einer Mühle und baut 1751 das Schloss Niederweis von Grund auf neu. Er verstarb 1755 in Luxemburg.

Adelsprobe der Ferdinande Theodora Dorothee von der Heyden von 1757

Franz Eduard Anton und seine Frau Maria Wilhelmine von Eltz-Rodendorf hatten zwei Kinder. Schon im Ehevertrag hatte dieses Paar vereinbart, dass ihr Besitz nicht geteilt werden dürfte und nur ein männlicher Nachfahre erbberechtigt sein sollte. Obwohl ihre Tochter Ferdinande Theodora Dorothea (1734-1798) das ältere Kind war, war sie demnach bereits vor seiner Geburt enterbt. Sie trat daher 1758 in ein Kloster ein. Sie hatte das Reichsstift Münsterbilzen bei Maastricht gewählt. Das berühmte Frauenstift gehörte dem Ritterorden. Sie erreichte dort den Rang einer Dechantin. Das war die Stellvertreterin der Äbtissin.


Ferdinande war befreundet mit Marie Kunigunde von Sachsen (1740-1826), der jüngsten Schwester des letzten Trierer Kurfürsten und korrespondierte über Jahre hinweg mit ihr. Wie es sich für Adelige geziemte, war die Korrespondenz in Französisch abgefasst. Marie Kunigunde war von 1776 bis 1794 Fürstäbtissin in Essen und Thorn (in den Niederlanden). Sie war nicht nur sehr gebildet, sondern auch geschäftstüchtig. Der Aufstieg Essens vom Dorf zur Industriestadt geht auf ihr Wirken zurück. Die Stahl- und Kohleverarbeitung im Ruhrgebiet begann mit einem von ihr gegründeten Unternehmen, aus dem später die Gute-Hoffnungshütte hervorging. Auch ihre Klosterlaufbahn endete abrupt, als französische Revolutionstruppen ihre Klöster auflösten. Ferdinande ging nach Niederweis zurück, Maria Kunigunde zunächst zu ihrem Bruder nach Augsburg. Sie starb in Dresden, wo sie aufgewachsen war. Ferdinande starb 1798 in Schloss Niederweis.

In der oben abgebildeten Adelsprobe wird die adelige Abstammung der beiden Eltern von unterschiedlichen Leuten bescheinigt, Entscheidend war, wer die Familien kannte. Es wird angegeben, dass die Bescheinigung für den Eintritt in das Kloster Münsterbilzen dienen soll. Alle Texte des Dokuments sind in Französisch. 

Stammbaum des Philipp Karl von der Heyden von 1773

Philipp Karl von der Heyden (1748-1788) war der letzte Vertreter seines Geschlechts, der seine Funktion als Grundherr uneingeschränkt ausüben konnte. Philipp Karl war seit 1760 Kämmerer (vergleichbar einem Finanzminister) des Kurfürsten und Bischofs von Trier. Er hielt sich vorwiegend in Niederweis auf und gab 1782 dem Kloster Helenenberg zum wiederholten Male ein Darlehen.


Er starb im Jahre 1788 durch einen (etwas seltsamen) Unglücksfall. Er stürzte bei Nacht – auf dem Nachhauseweg aus der Dorfschenke – in einen Brunnen und kam dabei elend zu Tode. Er war sehr leutselig gewesen und im Dorf beliebt. Er nahm an Dorf- und Familienfesten teil und übernahm bei seinen Bauern die Patenschaft des ältesten Sohnes. In Adelskreisen war sein Ruf denkbar schlecht. Von ihm unterschriebene Urkunden beginnen mit folgender Aufzählung der Titel „Reichsfreiherr von der Heyden, Herr der Herrschaft Niederweis, etc., wirklicher Cammerer Ihrer Churfürstlichen Durchlaucht zu Trier“. Meine Familie verwahrt heute noch eine Urkunde von 1781 auf, in der der Baron sich seinem Hofmann gegenüber verpflichtet, ihm im Falle der Not zu helfen.


Umgeformte Ahnentafel des Philipp Karl von der Heyden

Seine Gattin war die letzte Niederweiser Baronin, Sophie Antoinette Walpurga von Hohenfeld (1747-1794). Sie entstammte einer Familie, die in früheren Jahrhunderten im Kurfürstentum Trier sehr bekannt war. Sie starb 1794, also im Jahr,  als die Franzosen kamen. Ihr damals 20-jähiger Sohn Clemens Wenzeslaus (1774–1840) floh zunächst nach Wien, kam aber alsbald zurück. Da er unverheiratet und kinderlos blieb, überführte er den Besitz bei seinem Tode 1840 in eine Stiftung. Diese besteht heute noch.

Kurzbeschreibung der erwähnten Adelsgeschlechter

Für alle in obiger Tabelle auftretenden Namen wird im Folgenden eine kurze Zuordnung und Erläuterung gegeben. Es gibt dabei allerdings eine Ausnahme, über die ich nichts finden konnte.

Breidbach zu Büresheim: Mit den Sayn und Sponheim verwandtes Geschlecht mit Stammsitz in Rheinbreitbach bei Bonn. Lehensleute des Erzstifts Köln.

Brömser von Rüdesheim: Die Brömserburg bei Bingen wurde im Dreißigjährigen Krieg von französischen Truppen gesprengt. Die Familie hatte ein Anwesen in Rüdesheim (den Brömserhof), in dem sie anschließend wohnte. Nach dem Aussterben der Familie ging der Besitz im 18. Jahrhundert an die Familie Metternich.

Cob von Nüdingen: Die Koben sind die bekannteste Bitburger Adelsfamilie. Der Kobenhof in Bitburg war das Stammhaus der Cob. In der Bitburger Liebfrauenkirche liegt Clas Cob (†1500) begraben. Den Beinamen von Nüdingen (oder de Nudange) erhielten die Cob durch die Belehnung mit dem heute gewüsteten Ort Nüdingen (Ortsgemeinde Messerich). Cob ist die Abkürzung für Jakob, aber auch das moselfränkische Wort für Krähe (lat. corvus). Daher erscheinen die Raben im Wappen.

Dehin: (unbekannte Familie, wahrscheinlich wallonischen oder böhmischen Ursprungs)

Eltz-Rodendorf: Diese Nebenlinie der Eltzer Familie besaß das Château-Rouge in Lothringen und wohnte in Freisdorf (Departement Moselle). Die Familie besaß von 1762 bis 1812 auch die Burg Bourscheid bei Diekirch in Luxemburg.

Fels: Burg Fels (frz. Larochette) ist eine der imposantesten Burgruinen Luxemburgs. Die Familie galt als treuer Vasall des Hauses Luxemburg. Sie hielten mehrfach Ämter inne wie Bannerträger, Truchsess oder Ritterrichter.

Heyden: Im Rheinland gibt es zwei Geschlechter mit diesem Namen. Die von der Heyden-Belderbusch besa8en Schloss Miel bei Euskirchen, die von der Heyden-Nechtersheim besaßen Schloss Stolzemburg nördlich von Vianden am luxemburgischen Ufer der Our, ehe Schloss Niederweis zum Stammsitz wurde. Schloss Stolzemburg wurde 1679 von französischen Truppen zerstört und 1898 im schottischen Stil wieder aufgebaut. Die Burg ist heute im Privatbesitz.

Kallenborn: Die Heimat dieser Familie lässt sich nicht ermitteln. Infrage kommt das Dorf Kaltenborn in der Nähe von Adenau oder Kallenborn, ein Stadtteil von Blieskastell.

Leyen zu Nickenich: Vom Rittersitz dieser Familie besteht in Nickenich nur noch das Burgtor. Es wurde vom Mainzer Dompropst Heinrich Ferdinand von der Leyen zu Nickenich im Jahre 1677 errichtet und mit dem Ehewappen seiner Eltern, Lothar Ferdinand von der Leyen und Maria Sophia Brömser von Rüdesheim, geschmückt. Die Familie stand im Dienste des Trierer Bischofs.

Metzenhausen: Ein  aus der gleichnamigen Hunsruckgemeinde stammendes Adelsgeschlecht. Ein bekanntes Mitglied war Johann II. von Metzenhausen, der von 1531 bis 1540 Erzbischof von Trier war.

Mohr vom Waldt: In Luxemburg ansässiges uraltaltes Adelsgeschlecht, dem unter anderem mehrere geistliche Würdenträger entstammten.

Morzheim: Heute ein Stadtteil von Landau in der Pfalz. Ursprünglich ein Lehen des Klosters Weißenburg im Elsass ging der Besitz später an das Bistum Speyer über.

Schilling von Lahnstein (oder Landstein): Bei dieser Familie gibt es mehrere Zweige. Diese waren sowohl in Österreich ansässig wie in Estland. Andere lebten in Hamburg und Braunschweig. Hier handelte es sich vermutlich um den Rheinlandstamm. Er ist seit dem 16. Jahrhundert in Köln und Andernach nachgewiesen. Diese Linie endete, als das letzte männliche Glied, Johann Konrad Schilling von Lahnstein, 1608 in Rom verstarb.

Sponheim (Bacherach): Die Sponheimer sind eines der in Deutschland am weitesten verbreiteten Adelsgeschlechter. Ausgehend von der Burg Sponheim bei Kreuznach wurde eine Seitenlinie Besitzer der Burg Stahleck bei Bacherach am Mittelrhein. Die sich von Birkenfeld bis Kreuznach und Kastellaun erstreckende Grafschaft Sponheim war Teil der Markgrafschaft Baden.

Worms (Dalberg): Aus dem Nahegau aufgestiegenes Geschlecht von Reichsrittern, das traditionell die Kämmererfunktion für den Bischof von Worms ausübte. Die Dalbergs hatten das Recht, nach einer Kaiserkrönung als erste zum Reichsritter geschlagen zu werden. Es entstand die Redensart: “Ist kein Dalberg da?“. Das Besitztum hatte seinen Schwerpunkt um Kreuznach und Worms. Später ging es an die Familie Salm-Salm über. Mehrfach hatten Familienangehörige Stellungen in hohen und höchsten Ebenen, als Bischöfe und Erzbischöfe, Äbte und Fürstäbte. Sehr bedeutend war Karl Theodor von Dalberg (1744–1817), Erzbischof und letzter Kurfürst von Mainz, Reichserzkanzler, Fürst- und Erzbischof von Regensburg und Aschaffenburg, Großherzog von Frankfurt und Fürstprimas von Deutschland.

Referenzen 
  1. Endres, A.: Die Niederweiser Schlossherren und ihr Anteil an der Geschichte des Nimstals. Beiträge zur Geschichte des Bitburger Landes, Heft 1/2004, (Nr. 54), 15-27
  2. Endres, A.: Frauenschicksale in Schloss Niederweis. Heimatkalender 2014 des Eifelkreises Bitburg-Prüm, 231-240
  3. Endres, A.: Barockschloss Niederweis. Beiträge zur Geschichte des Bitburger Landes, Heft 3/2015, (Nr. 100), 72-75