Donnerstag, 20. September 2018

Eulenspiegel, ein Gaukler zwischen Mittelalter und Neuzeit – nacherzählt von de Coster, Kehlmann, u.a.

Till Eulenspiegel (ndl.: Tyll Uilenspiegel; niederdeutsch: Dil Ulenspiegel) ist eine bekannte Figur der deutschen und der niederländischen Erzähltradition und der verschrifteten Literatur. Er ist bereits im 14. Jahrhundert als umherstreifender Schalk nachgewiesen. Eine erste gedruckte Sammlung seiner Schwänke erschien 1510 in einem Straßburger Verlag. Er galt als gewitzt und verstand es, seine Mitmenschen zu verblüffen. Oft vertrat er anarchistische Positionen. Seine Masche bestand darin, Redewendungen wörtlich zu nehmen. Sein Name soll besagen, dass er als Eule der Weisheit seine Zeitgenossen in den Spiegel blicken ließ. Über seine tatsächlichen Lebensdaten besteht Unklarheit. Die Stadt Mölln zeigt den angeblichen Grabstein aus dem späten 14. Jahrhundert.

Alte belgische Bearbeitung des Stoffs

In den letzten Wochen las ich zwei voluminöse Bearbeitungen des Eulenspiegel-Stoffes, eine belgische sowie eine deutsche. Charles de Coster (1827-1879) war ein belgischer Schriftsteller. Sein Ulenspiegel gilt als belgisches Nationalepos. Es beschreibt den Freiheitskampf der Flamen gegen die spanische Unterdrückung und begründete die moderne französischsprachige Literatur Belgiens. Das Buch heißt Tyll Ulenspiegel und Lamm Goedzak. Legende von ihren heroischen/lustigen und ruhmreichen Abenteuern im Lande Flandern und anderen Orts. (Frz.: La légende et les aventures héroiques joyeuses et glorieuses d'Ulenspiegel et de Lamme Goedzak au pays des Flandres et ailleurs (1867, 416 Seiten). Das Original ist in einem altertümlichen Französisch verfasst.

Ulenspiegel ist hier Flame. Er ist geboren um 1530 in der Stadt Damme, unweit von Brügge. Sein Vater Claas war ein einfacher Arbeiter, ein Kohleträger, der durch seinen Bruder mit den Ideen der protestantischen Holländer in Berührung gekommen war. Er erbte von diesem Bruder eine größere Summe Bargeld. Das veranlasste einen neidischen Nachbarn, ihn wegen Irrglauben zu verklagen. Er wurde zum Tode durch Verbrennen verurteilt. Sein Sohn Tyll wanderte zunächst als Gaugler durch die Lande. Er kam bis nach München und Nürnberg. Seine Nachbarstochter Nele verehrte ihn, konnte ihn aber nicht für sich gewinnen.

Wieder zuhause, schloss er sich den Geusen an. Der Name ist aus dem französischen Wort für Bettler (frz.: geux) abgeleitet. So bezeichnete ein Höfling die Abgesandten protestantischer Gemeinden, die bei Margarethe von Parma (1522-1586), der Statthalterin der spanischen Niederlande, erschienen waren, um Freiheitsrechte einzufordern. Als der Herzog von Alba (1507-1582) im Jahre 1567 ihr Nachfolger wurde, war es vorher zu einem calvinistischen Bildersturm gegen die katholischen Kirchen gekommen. Alba erhielt vom spanischen König Philipp II. den Auftrag, die öffentliche Ordnung und die Vormachtstellung der katholischen Kirche wiederherzustellen. Er richtete in Brüssel ein Sondergericht ein, das Tausende von Ketzern des  Hochverrats beschuldigte und zum Tode verurteilte. Zwei der bekanntesten Opfer waren die Grafen Egmont und Hoorn, die auf dem Brüsseler Rathausplatz enthauptet wurden.

Wilhelm von Oranien (1533-1584), mit dem Beinamen der Schweiger, entzog sich 1572 der Bestrafung durch den Rückzug nach Norden. Zusammen mit Truppen aus seinem Stammlande Nassau-Dillenburg, verteidigte er die Provinzen Holland und Seeland. Nach mehreren blutigen Kämpfen, in denen Alba auch seine Residenzstadt Delft eroberte und zerstörte, kam es 1576 zur „Genter Pazifikation“, dem Zusammenschluss aller niederländischen Provinzen gegen die Spanier. Später zerfiel diese Union in einen nördlichen, protestantischen Teil, genannt die „Utrechter Union“, und einen südlichen, hauptsächlich katholischen Teil, die Union von Arras. Wilhelm wurde 1580 von Philipp II. geächtet und zog sich weiter nach Norden in Richtung Friesland zurück. Er wurde 1584 von einem katholischen Fanatiker ermordet.

Ulenspiegel und sein Freund Lamme Goedzak unterstützen den Kampf der Geusen, vorwiegend durch geheime Nachrichtenübermittlung und Aufwieglung. Als er gefangen worden war und hingerichtet werden sollte, fiel ihm Nele um den Hals und befreite ihn. Zum Schluss des Krieges erhielt Ulenspiegel als Kapitän das Kommando über ein Kriegsschiff. Lamme Goedzak wurde sein Koch. Erst der westfälische Friede von 1648 beendete den Krieg, teilte aber die spanischen Niederlande in zwei Teile. Flandern kam zu Belgien. Ulenspiegel und Nele lebten schließlich in ihrer Heimatstadt Damme. Als sie nach ihrem Tode in den Dünen beigesetzt wurden, verschwanden sie und wurden zu Geistern.

Hier zwei Stückchen aus dem de Coster-Buch. Beide betreffen Ulenspiegels frühe Wanderjahre. In Darmstadt möchte der Landgraf von Hessen gerne porträtiert werden. Tyll besteht darauf, dass möglichst viele Höflinge mit aufs Bild kommen. Nach 60 Tagen, während der er in Saus und Braus lebte, zeigte er feierlich das fertige Werk. Das könnten allerdings nur echte Adelige wirklich sehen, sagte er. Zu sehen war nichts. Alle außer dem Landgraf hielten den Mund. Der Landgraf jagte Tyll davon. In Nürnberg stellte er sich im dortigen Spital als Wunderheiler vor. Er würde es schaffen, innerhalb von nur 24 Stunden alle Patienten auf die Beine zu bringen. Den Patienten sagte er, dass er denjenigen, der am nächsten Tag noch im Bett liege, zu einem heilenden Pulver verbrennen würde. Am nächsten Tag verließen alle Kranken freiwillig das Spital. Tyll kassierte 200 Dukaten vom Betreiber des Spitals und zog davon.

Neue deutsche Bearbeitung des Stoffs

Daniel Kehlmann (*1975) ist einer der bekanntesten zeitgenössischen deutschen Schriftsteller. Er wurde in München geboren und lebt derzeit in New York. Sein Erstlingswerk Die Vermessung der Welt ist mit rund 2,3 Millionen allein im deutschsprachigen Raum verkauften Exemplaren Kehlmanns erfolgreichster Roman. Auf einer Liste der international bestverkauften Bücher des Jahres 2006 kam der Roman auf Platz zwei. Er erzählt die um zahlreiche Erfindungen angereicherten Lebensgeschichten der beiden Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. Es ist ein Roman über die Entstehung der modernen Wissenschaft und über die Deutsche Klassik.

Das Buch Tyll (2017, 480 Seiten) ist sein jüngstes Werk. Er erzählt eine fiktive Lebensgeschichte Till Eulenspiegels. Unter anderem greift Kehlmann auf die zwei oben erwähnten Anekdoten zurück. Er bettet sie allerdings in einen anderen Zusammenhang ein. Die Handlung spielt rund 100 Jahre später als bei de Coster. Er konzentriert sich auf Schlüsselszenen und Personen des Dreißigjährigen Krieges.

Sein Ulenspiegel wird als Müllersohn Anfang des 17. Jahrhunderts in einem kleinen süddeutschen Dorf geboren. Sein Vater Claus stammt aus Mölln, hat auf seiner Wanderung in dieser Mühle als Knecht gearbeitet und die Müllertochter geheiratet. Nebenher beschäftigt  sich Claus mit naturwissenschaftlichen Fragen, vor allem aber mit der Heilkunst. Er kennt die einschlägigen Sprüche und alle magischen Zeichen. Unter anderem besitzt er ein Buch in Latein, das er nach einem Brand aus einem Trierer Pfarrhaus mitgenommen hatte. Es hat 765 Seiten.

Eine als Hexe angeklagte Frau gab an, dass der Müller sie verleitet habe. Darauf wurde dieser von zwei Jesuiten verhört. Als Hexer wurde er zum Tode verurteilt. Die beiden Jesuiten sind historisch bekannte Persönlichkeiten. Die Verhandlung führte ein Oswald Tesimond (1563-1636). Der stammte aus York und war mit der so genannten Pulververschwörung (engl.: gunpowder plot) in Verbindung gebracht worden. Die Verschwörung war am 5.11.1605 aufgedeckt worden. Neben dem Anführer Guy Fawkes wurden alle Beschuldigten außer Tesimond zum Tode verurteilt. Der Beisitzende und Protokollführer des Prozesses war der jugendliche Athanasius Kircher  (1602-1680). Der stammte aus der Gegend von Fulda und wurde später zu einem bekannten Gelehrten. Er beschäftige sich mit Geologie, Medizin und Mathematik und versuchte es, die altägyptischen Hieroglyphen zu übersetzen. Tesimond, der sich vorwiegend in Süditalien aufhielt, starb in Neapel. Kircher, der Jahrzehnte lang als Lehrer und Forscher an der päpstlichen Akademie (Gregoriana) wirkte, starb in Rom.

Der Sohn Tyll und die die Nachbarstochter Nele flohen aus ihrer Heimat und betätigten sich zunächst als Bänkelsänger und Seiltänzer. Alsbald gerieten sie in der Nähe von Augsburg an einen Gaugler, namens Pirmin, der sie äußerst grausam behandelte. Außerdem plagte der Hunger.

Irgendwie gelangte Ulenspiegel in den Dienst von Friedrich V. von der Pfalz (1596-1632) und seiner Frau Elisabeth Stuart (1596-1662), genannt Liz. Nach dem Verlust Böhmens, wo man ihn zum König gewählt hatte, und seiner Heimat der Pfalz mit dem Heidelberger Schloss lebte er im Exil in Den Haag. Als der Schwedenkönig Gustav Adolf auf dem Schlachtfeld erschien, machte er sich Hoffnungen, wieder seinen früheren Besitz und seine Ämter zurückzuerlangen. Durch Gustav Adolfs Tod 1632 bei Lützen zerschlugen sich alle Hoffnungen. Er selbst starb noch im gleichen Jahr. Seine Frau war eine Enkelin Maria Stuarts und Tochter Jakobs I. Sie hoffte vergebens auf die Unterstützung Englands für die protestantische Seite. Ulenspiegel schenkte Liz das oben erwähnte leere Bild mit der Bemerkung, dass unehelich geborene und Galgenvögel nichts sähen. Liz brachte damit die meisten der wenigen Besucher, die sie noch hatte, in Verlegenheit, ihren Gatten auch.

Ulenspiegels Gefährtin Nele nahm irgendwann das Angebot von Adam Olearius (1599-1671) an, dessen Frau zu werden. Olearius (auf Deutsch: Öhlschläger) hatte im Auftrage des Herzogs Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf Reisen durch Russland und Persien unternommen, die ich im Jahre 2014 in diesem Blog beschrieben habe. Nele erreichte ein hohes Alter und erlebte Kinder und Enkel. 

Bei der Belagerung von Brünn geriet Ulenspiegel in eine lebensbedrohliche Situation, als er als Tunnelbauer (Mineur) zur Abwehr gegen die Tunnelbauer der Belagerer eingesetzt wurde. Er wurde in einem Schacht zugeschüttet. Er entkam mit letzter Kraft. Gegen Ende des Krieges hielt sich Ulenspiegel im Kloster Andechs auf. Als der Kaiser ihn nach Wien holen ließ, wurde er Augenzeuge der Schlacht von Zusmarshausen bei Augsburg. Es war dies die letzte Schlacht des Dreißigjährigen Krieges. Sie war im Mai 1648. Bayern, Franzosen und Schweden kämpften vereint und bereiteten den Kaiserlichen eine Niederlage. Begleitet wurde Ulenspiegel von einem Gesandten des Kaisers, der sich Martin von Wolkenstein nannte. Er soll ein Nachfahre Oswald von Wolkensteins (1377-1445) gewesen sein, der als Minnesänger gilt. Später schickte der Kaiser ihn nach Osnabrück. Dort traf er einige der verhandelnden Diplomaten. Auch sah er Liz wieder, die ein letztes Angebot machte. Ihr Haus würde auf die böhmische Königskrone − die gar nicht erblich war − verzichten, wenn man ihm die Kurfürstenwürde wiedergeben würde. Man reagierte höflich, aber kühl. Sie bat Ulenspiegel mit nach England zu gehen, was dieser ablehnte.

Eulenspiegel in der Eifler Volkssage

Mir sind Eulenspiegel und seine Geschichten schon in frühester Jugend begegnet. Ich kenne einige Anekdoten, von denen ich nicht weiß, woher ich sie kenne. Eine Quelle, an die ich dachte, ist der Sammelband [1] eines bekannten Bonner Heimatforschers. Bei den acht Eulenspiegel-Erzählungen (Vertellchens), die das Buch enthalt, sind meine Geschichten nicht dabei. Mehrere Erzählungen verbinden sich mit dem Orten Dasburg und Dahnen nördlich von Prüm. Die Einwohner dieser beiden Dörfer genießen in der Eifel etwa den gleichen Ruf wie die berühmten Schildbürger, die Bürger der fiktiven Stadt Schilda. Eines Tages kam Eulenspiegel nach Dahnen. Er bat darum, einen Teil der Gemeindeflur beackern zu dürfen. Er würde die Hälfte des Ertrags an die Gemeinde abliefern. Die Dahnener stimmten freudig zu. Er pflanzte Weizen an. Als das Getreide reif war, schnitt er die obere Hälfte aller Halme ab. Den Dorfbewohnern überließ er den Rest. ‚Das müssen wir ändern‘, sagten die Dahnener. ‚Das nächste Jahr bekommen wir die obere Hälfte‘. Eulenspiegel stimmte zu und baute Kartoffeln an. 

Aus Neuerburg bei Bitburg erzählt Zender die folgende Geschichte. Es war Eselsmarkt. Die Bauern aus Vianden und Diekirch hatten eindeutig die fetteren Tiere. Die Eifler waren besorgt, dass sie für ihre mageren Tiere keine Gebote bekämen. Eulenspiegel beschloss, ihnen zu helfen. Er sah, dass im Nachbarhaus ein Kessel voll Schweinekartoffeln gekocht wurde. Er nahm diesen und band den Luxemburger Eseln je eine heiße Kartoffel unter den Schwanz. Daraufhin ergriffen diese das Weite. Den von auswärts angereisten Händlern blieb nichts weiter übrig, als die mageren Eifler Esel zu kaufen.

Nachtrag vom 23.9.2018

Außer von de Coster (1867) und Kehlmann (2017) gab es eine Reihe weiterer Bearbeitungen des Eulenspiegel-Stoffes durch andere bekannte Autoren. Erwähnt seien Hans Sachs (Mitte des 16. Jahrhundert, neubearbeitet von Georg Kellner 1908), Erich Kästner (1938) und Christa Wolf (1974). Einzelne Geschichten findet man heute sehr leicht im Internet. Beispiele sind Labbe, Kreudenstein, Projekt Gutenberg und Primolo. Mich selbst interessieren insbesondere alle Bearbeitungen mit Bezug zur Eifler Bevölkerung und dem Eifler Brauchtum. Eine ähnliche Rolle wie die Eulenspiegel-Stückchen, aber auf den Trierer Raum beschränkt, spielen die Erzählungen um den Fischers Maathes (1822-1879). Eine spezielle Kategorie bilden schließlich die Geschichten über die Luxemburger.

Referenz

1. Zender, M.: Volksmärchen und Schwänke aus Eifel und Ardennen. Bonn 1984

2 Kommentare:

  1. Hartmut Wedekind aus Darmstadt schrieb: Sehr schön! Ich habe mich daraufhin mal mit dem Unterschied von Sagen und Märchen beschäftigt. Beides uralte Kulturgüter.

    https://www.planet-schule.de/wissenspool/die-brueder-grimm/inhalt/hintergrund/maerchen-definition-abgrenzung-zur-sage-legende-fabel.html

    Das "Sagenhafte" ist schon was für Erwachsene. Obwohl die "Nibelungen" mit dem sagenhaften Siegfried wurden mir schon sehr früh in meiner Jugend (Nazizeit) verklickert.

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    1. Man müsste also von Legenden statt Sagen sprechen, wenn Personen im Mittelpunkt stehen und nicht ein Ereignis. Bei den beiden Eulenspiegeln, dem belgischen und dem deutschen, stehen die Ereignisse (Freiheitskampf der Niederlande, 30-jähriger Krieg) fast auf gleicher Ebene zur Person des Helden. Beide Bezeichnungen wären daher zutreffend.

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