Kaum ein Wissenschaftler hat mich so fasziniert mit seinen grundlegenden
Erkenntnissen über unser Gedächtnis wie Eric
Kandel (*1929). Er erhielt dafür mit Recht im Jahre 2000 den Nobelpreis
für Medizin. Martin
Korte (*1964) ist ein Neurobiologe an der TU Braunschweig und tritt in Eric
Kandels Spuren. Sein Buch Wir sind Gedächtnis
(2017, 277 S.) basiert auf dem neuesten Stand der Gedächtnisforschung. Es
beschreibt eine Welt, in der Unmengen an Informationen gespeichert und
verarbeitet werden. Die Repräsentation geschieht dabei eher nicht digital, sondern
analog. Es ist dies zumindest der heutige Stand unseres Wissens. Die
Verarbeitung erfolgt mal sequentiell, mal parallel, oft assoziativ. Es werden mächtige
Fähigkeiten angeboten, ohne die zugrundeliegenden Algorithmen im Einzelnen anzugeben
oder gar zu kennen. Die Leistungsfähigkeit dieses Organs ist außergewöhnlich.
Vergleiche mit digitalen Maschinen und Medien drängen sich mir auf. Das ist eine
Folge meiner beruflichen Voreingenommenheit und Einseitigkeit als Informatiker.
Struktur und Leistung des Gedächtnisses
Es ist der Inhalt des Gedächtnisses, der unsere Persönlichkeit
prägt. Er ist weit mehr bestimmend als die genetische Veranlagung. Auch unsere
Wahrnehmung als eigene und ein Leben lang existierende Person, d.h. unser
Ich-Gefühl, beruht auf dem Gedächtnis. Man nennt diesen Teil unser
autobiografisches Gedächtnis. Es markiert bestimmte Episoden als selbsterlebt.
Dies geschieht dadurch, dass wir Episoden immer mit Gefühlen zusammen
abspeichern, die wir im Moment des Erlebens hatten. Dabei gehen die ersten drei
Jahre des Lebens verloren (kindliche Amnesie). Vergangenheit gibt es nur im
Gedächtnis oder weil es ein Gedächtnis gibt.
Den Speicherungsvorgang nennen wir Lernen, die Abruffunktion heißt
Erinnern. Für jedes Speichern läuft ein Prozess ab, der mehrere Teile des
Gehirns involviert. Von einem Speicherort (oder einer Speicherzelle) zu reden,
ist nicht sinnvoll. Jede Speicherung verändert das Gehirn gleichzeitig an verschiedenen
Stellen. Auch jeder Abruf von Gespeichertem verändert das Gehirn an mehreren
Stellen(!).
Hierarchie
nach Speicherdauer
Im zeitlichen Verlauf der Speicherung unterscheidet man drei
Stufen einer Hierarchie. Die Sinne (Augen, Ohren, Nase) speichern zuerst lokal,
ehe die Information ins Gehirn gelangt. Wir nehmen nur einen Teil der Signale
wahr, die uns erreichen, z. B. keinen Ultraschall. Pro Sekunde erreichen uns
rund 400.000 Signale.
Im Gehirn unterscheidet man zwischen einer Kurzzeitspeicherung in
einer Art von Arbeitsspeicher und der Langzeitspeicherung im Nervensystem. Der
Arbeitsspeicher, meist Kurzzeitgedächtnis (KZG) genannt, ist sowohl was seinen
Umfang betrifft wie auch bezüglich der Speicherdauer begrenzt. Lernen bedeutet
Überführung ins Langzeitgedächtnis (LZG). Das LZG gilt als praktisch
unbegrenzt. Seine Kapazität liegt vermutlich im Bereich von Petabytes (10 hoch 15
Bytes). Die Maßeinheit Byte ist hier zwar unzutreffend, da die Speicherung
nicht in Bits oder Bytes erfolgt. Bei der Art der gespeicherten Objekte
unterscheidet man zwischen Fakten, Ereignissen (Episoden) und Prozeduren. Es
wird angenommen, dass es für jeden Typ ein anderes Speicherverfahren gibt.
Das Faktenwissen ist explizites Wissen. Die Überführung vom KZG
ins LZG erfolgt durch Wiederholung. Der Inhalt des prozeduralen Gedächtnisses
ist uns größtenteils unbewusst, es wird gelernt und ist damit weg aus dem Bewusstsein.
Es ist zur Gewohnheit geworden. Als implizites Wissen ist es der Sprache nicht
zugänglich; anders als Faktenwissen. Zu den im prozeduralen Gedächtnis abgespeicherten Fertigkeiten gehören vor allem motorische Abläufe
(Fahrradfahren, Schwimmen, Tanzen, Skifahren).
Das Erinnern besteht in der Rekonstruktion des explizit Gespeicherten,
verbunden mit seiner Überführung ins Bewusstsein. Das Suchen erfolgt assoziativ
anhand weniger inhaltlicher Eckpunkte. Da die Fragmente eines Wissensbegriffs
oder einer Episode immer in verschiedenen Gehirnzonen abgelegt sind, werden sie
beim Erinnern wieder zusammengefügt. Was dabei herangezogen wird, d. h. an
welchen Teilaspekt wir uns erinnern, hängt von den Hinweisen ab, die beim
Suchen mit dem Gespeicherten übereinstimmen. Das können auch Geräusche oder
Gerüche sein. Unser Erinnerungsvermögen ist sehr beschränkt. So wurde in einem
Experiment nachgewiesen, dass Experten eines Fachgebiets sich zwei Wochen nach einer
Fachtagung gerade noch an 8% des Gesagten erinnern, davon war die Hälfte
falsch.
Zuordnung von Funktionen zu Organismen
Die Mediziner versuchen seit Generationen die Funktionen des
Gehirns und des Gedächtnisses bestimmten anatomischen Bauelementen und
Strukturen zuzuordnen. Eine große Hilfe lieferten dabei in der Vergangenheit –
ungewollt − Erkrankte oder Verletzte. Sehr bekannt wurde auf diese Weise der Arzt
Paul
Broca (1824-1880). Er entdeckte das Sprachzentrum des Gehirns, das heute
als Broca-Areal bekannt ist Es liegt in der dritten
Gehirnwindung des Frontallappens der linken Gehirnhälfte. Außerdem beschrieb er
1878 erstmals den Teil des Gehirns, der heute als limbisches
System bezeichnet wird.
Gesamtansicht
des Gehirns
Als Schwerpunkt oder Hauptsitz unseres Gedächtnisses gilt die
Hirnrinde (Cortex). Das wird offensichtlich durch den Vergleich mit Lebewesen,
die evolutionär älter sind als der Mensch (z. Bsp. Fische, Reptilien). Fähigkeiten, die
zur Routine geworden sind, werden offensichtlich von der Gehirnrinde weg
zu den Basalganglien
verlagert. Sie bilden dort Chunks, d.h. zusammenhängende Klumpen. Die
Basalganglien liegen unterhalb der Großhirnrinde. Sie sind für wichtige
Regelungen von großer Bedeutung, beispielsweise für Spontaneität, Affekt,
Initiative, Willenskraft, Antrieb, schrittweises Planen, sowie vorweggenommenes
Denken und Erwartungen.
Limbisches
System
Auch andere Regionen spielen eine signifikante Rolle. So steuert
die Amygdala (auch
Mandelkern genannt) die Gefühle. Der Hippocampus (deutsch
Seepferdchen) ordnet Ereignisse im Raum. Der Hippocampus bestimmt, was wichtig ist
fürs Überleben. Fällt der Hippocampus aus, so findet keine neue
Langzeitspeicherung statt; altes Wissen bleibt jedoch erhalten. Der Praecuneus,
ein Teil des hinteren Hirnlappens, verbindet Vergangenheit mit Zukunft. Bei seinem
Ausfall sind keine zielgerichteten Bewegungen mehr möglich. Er arbeitet beim Lernen
mit dem Hippocampus zusammen.
Einzelne
Nervenzelle (Neuron)
Die eigentliche Informationsspeicherung bewirkt immer eine
Veränderung der Kontaktstellen von Synapsen. Synapsen können verstärkt,
geschwächt, vermehrt oder abgebaut werden. An jedem Speicherungsvorgang sind
Gruppen von Synapsen beteiligt. Es können dies bis zu 10.000 sein. Beim Speichern
werden neue Moleküle gebildet. Nicht die Moleküle speichern Information, sondern
die von ihnen gebildeten neuen Netze. Bei Bedarf wachsen auch zusätzliche Neuronen
nach, aber selten. Man spricht daher auch von der neuronalen Plastizität des Gehirns.
Die fundamentale Erkenntnis, zu der Eric Kandel gelangte, war, dass
alle Lebewesen, die lernen können, dazu dieselben chemischen Bausteine und
Verfahren benutzen. Das gilt für die Meeresschnecke Aplysia mit gerade 20.000
Neuronen bis zum Menschen mit 10 hoch 11 Neuronen.
Nervenbahnen
im Gehirn
Gerüche spielen für das Gedächtnis eine interessante Sonderrolle.
Die Geruchsnerven gehen von der Nase direkt zur Gehirnrinde. Sie gehen am
Thalamus vorbei. Es lässt sich ein bestimmter Duft mit dem Inhalt des
deklarativen Gedächtnisses assoziieren – und das über Jahrzehnte hinweg.
Die Vorstellung des Gedächtnisses, die Korte suggeriert, ist die
eines Fußballfeld großen Teppichs von Leuchtdioden (LEDs). Diese leuchten in Spuren auf und
ändern sich laufend. Neue LEDs können jederzeit an beliebigen Stellen des
Teppichs eingefügt werden, sobald neues Wissen untergebracht wird. Es wundert
daher nicht, dass das Gehirn 20% der
Energie verbraucht, die der Körper des Menschen aufnimmt.
Über Schlafen und Träumen
So wie der Mensch, so verbringen alle höheren Lebewesen fast die
Hälfte ihres Lebens im Schlaf. Er dient – so glaubt die Wissenschaft heute –
primär dem Hausputz im Gehirn. Es werden neue Assoziationen geknüpft und
bestehende verstärkt. Es erfolgt eine Umspeicherung vom Hippocampus in die Hirnrinde.
Typisch ist, dass der Schlaf einer Nacht in 4-5 REM-Phasen (engl. rapid eye movement) aufgeteilt ist;
dazwischen findet Tiefschlaf statt. Es ist wichtig, seinen Schlafrhythmus
beizubehalten. Wer durchschlafen kann, vergisst weniger. Schlafentzug kann zur
Amnesie führen. Im Schlaf durchlaufen wir die Tagesereignisse im Schnellverfahren. Das kann zu verbesserten
Leistungen am Folgetag führen, etwa bei einem Musiker. Damit verwandt, jedoch
nicht gleichzusetzen, sind Träume. Träume sind Nachbilder oder Schattenbilder von
Erlebtem. Sie können sich auf lange zurückliegende Ereignisse beziehen oder auf
die vergangenen Tage. Diese Ereignisse werden von Gefühlen bewertet und verzerrt.
Kreative und Experten
Kreativität wird oft als Leistung angesehen, die unabhängig vom
Gelernten, also vom Gedächtnis ist. Von einem kreativen Menschen werden unkonventionelle
Lösungen erwartetet. Sie müssen jedoch neu und nützlich sein. Dazu bedarf es
Expertenwissen. Kindern fehlt meist das Wissen, um kreativ zu sein. Erwachsenen
fehlt oft der Mut und die Phantasie. Kreative Persönlichkeiten gelten oft als komplex.
Sie müssen konvergentes Denken besser beherrschen als der Normalbürger.
Ein Experte strukturiert sein Weltwissen anders als ein Laie. Gute
Schachspieler haben ein besonderes Gedächtnis für Spielsituationen. Räumliche
Vorstellungen und Kreativität werden meist der rechten Gehirnhälfte zugeordnet,
das Sprachvermögen der linken (bei Linkshändern umgekehrt).
Beeinflussung der Gedächtnisfunktion
Als chemischer Ansatz zur Steigerung der Gedächtnisleistung gilt
die Einnahme von Dopamin. Es wird als ‚Mutter der Innovation‘ vermarktet. Viele
der anderen Mittel, die empfohlen werden, fördern lediglich die Durchblutung.
Nach Korte bewirken sie weniger als Kaffee und Tee.
Korte erinnert daran, dass bereits die antiken Griechen (Simonides)
wussten, dass man lange Gedichte oder Vorträge besonders gut memorieren kann, indem
man einzelne Strophen oder Abschnitte bekannten Örtlichkeiten zuweist. Etwa Strophe
1 = Tür, Strophe 2 = Treppe, Strophe 3 =
Wohnzimmer, usw. Heute wissen wir, dass so der Hippocampus involviert wird.
Korte diskutiert – allerdings nur am Rande – den Einfluss neuer
Techniken und neuer Werkzeuge auf das Gedächtnis. Wir verlernen Fähigkeiten,
also Inhalte, die nicht mehr benötigt werden. So verdrängen Taschenrechner das
Kopfrechen. Ein Navi reduziert die Fähigkeit, sich in der Landschaft oder in einer
Stadt zu orientieren. Das Wissen, wo etwas im Internet zu finden ist, tritt an
die Stelle von Faktenwissen. Wo ich Korte nicht folgen kann, ist bei seiner
Aussage, dass ein papierbasiertes Gedächtnis besser sei als ein elektronisches,
da es unveränderbar bleibe. Er übersieht einfach die vielen Vorteile, die sich
ergeben – ob bewusst oder unbewusst, das weiß ich nicht.
Gewolltes und krankhaftes Vergessen
Bei Personen, die unter post-traumatischen Belastungen leiden, wie
Katastrophenopfer, Retter und Soldaten, kann ein gewolltes Vergessen hilfreich
sein. Hier können gezielte Übungen Abhilfe schaffen.
Der graduelle Verlust des Gedächtnisses (Amnesie) durch Alzheimer ist eine
Krankheit, die derzeit sehr viel Aufmerksamkeit erfährt. Mit ihr verbunden ist
die Angst zu vergessen, wer man ist.
Alzheimer ist heute verantwortlich für 70% aller
Demenzerkrankungen. Insgesamt gibt es zurzeit 1,6 Millionen Demenzfälle in
Deutschland, mit steigender Tendenz. Es sollen 30% aller über 85 Jahre alten
Menschen von Alzheimer-Demenz befallen sein. Sie kann wesentlich früher
ausbrechen. Die gute Nachricht ist, dass dabei geistig aktive Menschen und Musiker weitgehend verschont bleiben.
Die Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) erlaubt
es heute das lebende Gehirn bei der Arbeit zu beobachten. Dabei werden Wasserstoff-Atome
mithilfe eines starken Magneten angeregt und richten sich unter einem externen
Magnetfeld geordnet aus. Dabei senden die Atomkerne spezielle Signale aus, die
während der Untersuchung gemessen und dann vom Computer zu Schnittbildern
zusammengesetzt werden. Die Erregungsimpulse sind für den Patienten als Klopfen
hörbar. Bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET)
wird eine
schwach
radioaktiv markierte Substanz im Organismus sichtbar gemacht.
Peter Hiemann aus Grasse schrieb: Ich finde es toll, dass Sie versuchen, IT-Experten auf Grenzen der Computertechnologie hinzuweisen. Ich orientiere mich nach wie vor an dem von uns beiden geschätzten Antonio Damasio. In meinem Essay 'Einsicht ins Ich' hatte ich mich auf dessen Erkenntnisse bezogen:
AntwortenLöschenDamasio ist überzeugt, dass Menschen die überwiegenden geistigen Eigenschaften ihrer Fähigkeit des Erinnerns verdanken: „Betrachten wir einmal dieses Wunder der Erinnerung und denken wir daran, welche Ressourcen das Gehirn besitzen muss, um es hervorzubringen. Neben den wahrgenommen Bildern in verschiedenen sensorischen Bereichen muss das Gehirn über eine Möglichkeit verfügen, die jeweiligen Muster irgendwie irgendwo zu speichern, und es muss über einen Weg verfügen, um die Muster irgendwie von irgendwo abzurufen; nur dann funktioniert irgendwie irgendwo die beabsichtigte Reproduktion. Wenn das alles geschieht und wenn außerdem das Geschenk des Selbst hinzukommt, wissen wir, dass wir gerade dabei sind, uns an etwas zu erinnern.“ Antonio Damasio vermutet, dass das Phänomen der organischen Selbstregulation – Homöostase – für Selbstbewusstsein eine wesentliche Rolle spielt. Damasio weist auf einen grundlegende Unterschied biologischer und sozialer Regulation hin: „Sowohl die grundlegende Homöostase (die unbewusst reguliert wird) als auch die soziokulturelle Homöostase (die durch den reflektierenden, bewussten Geist erschaffen wird) wirken als Verwalter des biologischen Wertes.“
(Antonio Damasio: “Selbst ist der Mensch – Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins“)
Korte zitiert Damasios Arbeiten bezüglich der Rekonstruktion von Gedächtnisinhalten. Er erwähnt die Konvergenzzonen, in denen Sinneserfahrungen miteinander und mit vorhandenem Fakten- und Erfahrungswissen kombiniert werden.
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