Dienstag, 4. September 2018

Gedächtnis des Menschen, echt leistungsstark, wohl eher nicht digital und ohne Algorithmen

Kaum ein Wissenschaftler hat mich so fasziniert mit seinen grundlegenden Erkenntnissen über unser Gedächtnis wie Eric Kandel (*1929). Er erhielt dafür mit Recht im Jahre 2000 den Nobelpreis für Medizin. Martin Korte (*1964) ist ein Neurobiologe an der TU Braunschweig und tritt in Eric Kandels Spuren. Sein Buch Wir sind Gedächtnis (2017, 277 S.) basiert auf dem neuesten Stand der Gedächtnisforschung. Es beschreibt eine Welt, in der Unmengen an Informationen gespeichert und verarbeitet werden. Die Repräsentation geschieht dabei eher nicht digital, sondern analog. Es ist dies zumindest der heutige Stand unseres Wissens. Die Verarbeitung erfolgt mal sequentiell, mal parallel, oft assoziativ. Es werden mächtige Fähigkeiten angeboten, ohne die zugrundeliegenden Algorithmen im Einzelnen anzugeben oder gar zu kennen. Die Leistungsfähigkeit dieses Organs ist außergewöhnlich. Vergleiche mit digitalen Maschinen und Medien drängen sich mir auf. Das ist eine Folge meiner beruflichen Voreingenommenheit und Einseitigkeit als Informatiker.

Struktur und Leistung des Gedächtnisses

Es ist der Inhalt des Gedächtnisses, der unsere Persönlichkeit prägt. Er ist weit mehr bestimmend als die genetische Veranlagung. Auch unsere Wahrnehmung als eigene und ein Leben lang existierende Person, d.h. unser Ich-Gefühl, beruht auf dem Gedächtnis. Man nennt diesen Teil unser autobiografisches Gedächtnis. Es markiert bestimmte Episoden als selbsterlebt. Dies geschieht dadurch, dass wir Episoden immer mit Gefühlen zusammen abspeichern, die wir im Moment des Erlebens hatten. Dabei gehen die ersten drei Jahre des Lebens verloren (kindliche Amnesie). Vergangenheit gibt es nur im Gedächtnis oder weil es ein Gedächtnis gibt.

Den Speicherungsvorgang nennen wir Lernen, die Abruffunktion heißt Erinnern. Für jedes Speichern läuft ein Prozess ab, der mehrere Teile des Gehirns involviert. Von einem Speicherort (oder einer Speicherzelle) zu reden, ist nicht sinnvoll. Jede Speicherung verändert das Gehirn gleichzeitig an verschiedenen Stellen. Auch jeder Abruf von Gespeichertem verändert das Gehirn an mehreren Stellen(!).


Hierarchie nach Speicherdauer

Im zeitlichen Verlauf der Speicherung unterscheidet man drei Stufen einer Hierarchie. Die Sinne (Augen, Ohren, Nase) speichern zuerst lokal, ehe die Information ins Gehirn gelangt. Wir nehmen nur einen Teil der Signale wahr, die uns erreichen, z. B. keinen Ultraschall. Pro Sekunde erreichen uns rund 400.000 Signale.

Im Gehirn unterscheidet man zwischen einer Kurzzeitspeicherung in einer Art von Arbeitsspeicher und der Langzeitspeicherung im Nervensystem. Der Arbeitsspeicher, meist Kurzzeitgedächtnis (KZG) genannt, ist sowohl was seinen Umfang betrifft wie auch bezüglich der Speicherdauer begrenzt. Lernen bedeutet Überführung ins Langzeitgedächtnis (LZG). Das LZG gilt als praktisch unbegrenzt. Seine Kapazität liegt vermutlich im Bereich von Petabytes (10 hoch 15 Bytes). Die Maßeinheit Byte ist hier zwar unzutreffend, da die Speicherung nicht in Bits oder Bytes erfolgt. Bei der Art der gespeicherten Objekte unterscheidet man zwischen Fakten, Ereignissen (Episoden) und Prozeduren. Es wird angenommen, dass es für jeden Typ ein anderes Speicherverfahren gibt.

Das Faktenwissen ist explizites Wissen. Die Überführung vom KZG ins LZG erfolgt durch Wiederholung. Der Inhalt des prozeduralen Gedächtnisses ist uns größtenteils unbewusst, es wird gelernt und ist damit weg aus dem Bewusstsein. Es ist zur Gewohnheit geworden. Als implizites Wissen ist es der Sprache nicht zugänglich; anders als Faktenwissen. Zu den im prozeduralen Gedächtnis abgespeicherten Fertigkeiten  gehören vor allem motorische Abläufe (Fahrradfahren, Schwimmen, Tanzen, Skifahren).

Das Erinnern besteht in der Rekonstruktion des explizit Gespeicherten, verbunden mit seiner Überführung ins Bewusstsein. Das Suchen erfolgt assoziativ anhand weniger inhaltlicher Eckpunkte. Da die Fragmente eines Wissensbegriffs oder einer Episode immer in verschiedenen Gehirnzonen abgelegt sind, werden sie beim Erinnern wieder zusammengefügt. Was dabei herangezogen wird, d. h. an welchen Teilaspekt wir uns erinnern, hängt von den Hinweisen ab, die beim Suchen mit dem Gespeicherten übereinstimmen. Das können auch Geräusche oder Gerüche sein. Unser Erinnerungsvermögen ist sehr beschränkt. So wurde in einem Experiment nachgewiesen, dass Experten eines Fachgebiets sich zwei Wochen nach einer Fachtagung gerade noch an 8% des Gesagten erinnern, davon war die Hälfte falsch.

Zuordnung von Funktionen zu Organismen

Die Mediziner versuchen seit Generationen die Funktionen des Gehirns und des Gedächtnisses bestimmten anatomischen Bauelementen und Strukturen zuzuordnen. Eine große Hilfe lieferten dabei in der Vergangenheit – ungewollt − Erkrankte oder Verletzte. Sehr bekannt wurde auf diese Weise der Arzt Paul Broca (1824-1880). Er entdeckte das Sprachzentrum des Gehirns, das heute als Broca-Areal bekannt ist Es liegt in der dritten Gehirnwindung des Frontallappens der linken Gehirnhälfte. Außerdem beschrieb er 1878 erstmals den Teil des Gehirns, der heute als limbisches System bezeichnet wird.


Gesamtansicht des Gehirns

Als Schwerpunkt oder Hauptsitz unseres Gedächtnisses gilt die Hirnrinde (Cortex). Das wird offensichtlich durch den Vergleich mit Lebewesen, die evolutionär älter sind als der Mensch (z. Bsp. Fische, Reptilien). Fähigkeiten, die zur Routine geworden sind, werden offensichtlich von der Gehirnrinde weg zu den Basalganglien verlagert. Sie bilden dort Chunks, d.h. zusammenhängende Klumpen. Die Basalganglien liegen unterhalb der Großhirnrinde. Sie sind für wichtige Regelungen von großer Bedeutung, beispielsweise für Spontaneität, Affekt, Initiative, Willenskraft, Antrieb, schrittweises Planen, sowie vorweggenommenes Denken und Erwartungen.


Limbisches System

Auch andere Regionen spielen eine signifikante Rolle. So steuert die Amygdala (auch Mandelkern genannt) die Gefühle. Der Hippocampus (deutsch Seepferdchen) ordnet Ereignisse im Raum. Der Hippocampus bestimmt, was wichtig ist fürs Überleben. Fällt der Hippocampus aus, so findet keine neue Langzeitspeicherung statt; altes Wissen bleibt jedoch erhalten. Der Praecuneus, ein Teil des hinteren Hirnlappens, verbindet Vergangenheit mit Zukunft. Bei seinem Ausfall sind keine zielgerichteten Bewegungen mehr möglich. Er arbeitet beim Lernen mit dem Hippocampus zusammen.


Einzelne Nervenzelle (Neuron)

Die eigentliche Informationsspeicherung bewirkt immer eine Veränderung der Kontaktstellen von Synapsen. Synapsen können verstärkt, geschwächt, vermehrt oder abgebaut werden. An jedem Speicherungsvorgang sind Gruppen von Synapsen beteiligt. Es können dies bis zu 10.000 sein. Beim Speichern werden neue Moleküle gebildet. Nicht die Moleküle speichern Information, sondern die von ihnen gebildeten neuen Netze. Bei Bedarf wachsen auch zusätzliche Neuronen nach, aber selten. Man spricht daher auch von der neuronalen Plastizität des Gehirns.

Die fundamentale Erkenntnis, zu der Eric Kandel gelangte, war, dass alle Lebewesen, die lernen können, dazu dieselben chemischen Bausteine und Verfahren benutzen. Das gilt für die Meeresschnecke Aplysia mit gerade 20.000 Neuronen bis zum Menschen mit 10 hoch 11 Neuronen.


Nervenbahnen im Gehirn

Gerüche spielen für das Gedächtnis eine interessante Sonderrolle. Die Geruchsnerven gehen von der Nase direkt zur Gehirnrinde. Sie gehen am Thalamus vorbei. Es lässt sich ein bestimmter Duft mit dem Inhalt des deklarativen Gedächtnisses assoziieren – und das über Jahrzehnte hinweg.

Die Vorstellung des Gedächtnisses, die Korte suggeriert, ist die eines Fußballfeld großen Teppichs von Leuchtdioden (LEDs). Diese leuchten in Spuren auf und ändern sich laufend. Neue LEDs können jederzeit an beliebigen Stellen des Teppichs eingefügt werden, sobald neues Wissen untergebracht wird. Es wundert daher nicht, dass das Gehirn  20% der Energie verbraucht, die der Körper des Menschen aufnimmt.

Über Schlafen und Träumen

So wie der Mensch, so verbringen alle höheren Lebewesen fast die Hälfte ihres Lebens im Schlaf. Er dient – so glaubt die Wissenschaft heute – primär dem Hausputz im Gehirn. Es werden neue Assoziationen geknüpft und bestehende verstärkt. Es erfolgt eine Umspeicherung vom Hippocampus in die Hirnrinde.

Typisch ist, dass der Schlaf einer Nacht in 4-5 REM-Phasen (engl. rapid eye movement) aufgeteilt ist; dazwischen findet Tiefschlaf statt. Es ist wichtig, seinen Schlafrhythmus beizubehalten. Wer durchschlafen kann, vergisst weniger. Schlafentzug kann zur Amnesie führen. Im Schlaf durchlaufen wir die Tagesereignisse im  Schnellverfahren. Das kann zu verbesserten Leistungen am Folgetag führen, etwa bei einem Musiker. Damit verwandt, jedoch nicht gleichzusetzen, sind Träume. Träume sind Nachbilder oder Schattenbilder von Erlebtem. Sie können sich auf lange zurückliegende Ereignisse beziehen oder auf die vergangenen Tage. Diese Ereignisse werden von Gefühlen bewertet und verzerrt.

Kreative und Experten

Kreativität wird oft als Leistung angesehen, die unabhängig vom Gelernten, also vom Gedächtnis ist. Von einem kreativen Menschen werden unkonventionelle Lösungen erwartetet. Sie müssen jedoch neu und nützlich sein. Dazu bedarf es Expertenwissen. Kindern fehlt meist das Wissen, um kreativ zu sein. Erwachsenen fehlt oft der Mut und die Phantasie. Kreative Persönlichkeiten gelten oft als komplex. Sie müssen konvergentes Denken besser beherrschen als der Normalbürger.

Ein Experte strukturiert sein Weltwissen anders als ein Laie. Gute Schachspieler haben ein besonderes Gedächtnis für Spielsituationen. Räumliche Vorstellungen und Kreativität werden meist der rechten Gehirnhälfte zugeordnet, das Sprachvermögen der linken (bei Linkshändern umgekehrt).

Beeinflussung der Gedächtnisfunktion

Als chemischer Ansatz zur Steigerung der Gedächtnisleistung gilt die Einnahme von Dopamin. Es wird als ‚Mutter der Innovation‘ vermarktet. Viele der anderen Mittel, die empfohlen werden, fördern lediglich die Durchblutung. Nach Korte bewirken sie weniger als Kaffee und Tee.

Korte erinnert daran, dass bereits die antiken Griechen (Simonides) wussten, dass man lange Gedichte oder Vorträge besonders gut memorieren kann, indem man einzelne Strophen oder Abschnitte bekannten Örtlichkeiten zuweist. Etwa Strophe 1 = Tür, Strophe  2 = Treppe, Strophe 3 = Wohnzimmer, usw. Heute wissen wir, dass so der Hippocampus involviert wird.

Korte diskutiert – allerdings nur am Rande – den Einfluss neuer Techniken und neuer Werkzeuge auf das Gedächtnis. Wir verlernen Fähigkeiten, also Inhalte, die nicht mehr benötigt werden. So verdrängen Taschenrechner das Kopfrechen. Ein Navi reduziert die Fähigkeit, sich in der Landschaft oder in einer Stadt zu orientieren. Das Wissen, wo etwas im Internet zu finden ist, tritt an die Stelle von Faktenwissen. Wo ich Korte nicht folgen kann, ist bei seiner Aussage, dass ein papierbasiertes Gedächtnis besser sei als ein elektronisches, da es unveränderbar bleibe. Er übersieht einfach die vielen Vorteile, die sich ergeben – ob bewusst oder unbewusst, das weiß ich nicht.

Gewolltes und krankhaftes Vergessen

Bei Personen, die unter post-traumatischen Belastungen leiden, wie Katastrophenopfer, Retter und Soldaten, kann ein gewolltes Vergessen hilfreich sein. Hier können gezielte Übungen Abhilfe schaffen.

Der graduelle Verlust des Gedächtnisses (Amnesie) durch Alzheimer ist eine Krankheit, die derzeit sehr viel Aufmerksamkeit erfährt. Mit ihr verbunden ist die Angst zu vergessen, wer man ist.

Alzheimer-Diagnose mittels PET und MRT

Alzheimer ist heute verantwortlich für 70% aller Demenzerkrankungen. Insgesamt gibt es zurzeit 1,6 Millionen Demenzfälle in Deutschland, mit steigender Tendenz. Es sollen 30% aller über 85 Jahre alten Menschen von Alzheimer-Demenz befallen sein. Sie kann wesentlich früher ausbrechen. Die gute Nachricht ist, dass dabei geistig aktive Menschen und Musiker weitgehend verschont bleiben.

Die Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) erlaubt es heute das lebende Gehirn bei der Arbeit zu beobachten. Dabei werden Wasserstoff-Atome mithilfe eines starken Magneten angeregt und richten sich unter einem externen Magnetfeld geordnet aus. Dabei senden die Atomkerne spezielle Signale aus, die während der Untersuchung gemessen und dann vom Computer zu Schnittbildern zusammengesetzt werden. Die Erregungsimpulse sind für den Patienten als Klopfen hörbar. Bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) wird eine schwach radioaktiv markierte Substanz im Organismus sichtbar gemacht.

2 Kommentare:

  1. Peter Hiemann aus Grasse schrieb: Ich finde es toll, dass Sie versuchen, IT-Experten auf Grenzen der Computertechnologie hinzuweisen. Ich orientiere mich nach wie vor an dem von uns beiden geschätzten Antonio Damasio. In meinem Essay 'Einsicht ins Ich' hatte ich mich auf dessen Erkenntnisse bezogen:

    Damasio ist überzeugt, dass Menschen die überwiegenden geistigen Eigenschaften ihrer Fähigkeit des Erinnerns verdanken: „Betrachten wir einmal dieses Wunder der Erinnerung und denken wir daran, welche Ressourcen das Gehirn besitzen muss, um es hervorzubringen. Neben den wahrgenommen Bildern in verschiedenen sensorischen Bereichen muss das Gehirn über eine Möglichkeit verfügen, die jeweiligen Muster irgendwie irgendwo zu speichern, und es muss über einen Weg verfügen, um die Muster irgendwie von irgendwo abzurufen; nur dann funktioniert irgendwie irgendwo die beabsichtigte Reproduktion. Wenn das alles geschieht und wenn außerdem das Geschenk des Selbst hinzukommt, wissen wir, dass wir gerade dabei sind, uns an etwas zu erinnern.“ Antonio Damasio vermutet, dass das Phänomen der organischen Selbstregulation – Homöostase – für Selbstbewusstsein eine wesentliche Rolle spielt. Damasio weist auf einen grundlegende Unterschied biologischer und sozialer Regulation hin: „Sowohl die grundlegende Homöostase (die unbewusst reguliert wird) als auch die soziokulturelle Homöostase (die durch den reflektierenden, bewussten Geist erschaffen wird) wirken als Verwalter des biologischen Wertes.“
    (Antonio Damasio: “Selbst ist der Mensch – Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins“)

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    1. Korte zitiert Damasios Arbeiten bezüglich der Rekonstruktion von Gedächtnisinhalten. Er erwähnt die Konvergenzzonen, in denen Sinneserfahrungen miteinander und mit vorhandenem Fakten- und Erfahrungswissen kombiniert werden.

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