In einem der letzten SPIEGEL-Hefte (40/2018)
las ich eine Besprechung des soeben erschienenen historischen Romans ‚Gott
der Barbaren‘ von Stephan
Thome. Der Autor, Jahrgang 1972, heißt mit bürgerlichem Namen Stephan
Schmitt und stammt aus Biedenkopf in Nordhessen. Er wohnt in Taiwan. Weniger
der Preis von 18,99 Euro als die 720 Seiten hielten mich davon ab, das Buch
sofort zu lesen. Inzwischen habe ich dies nachgeholt. Ich gebe hier zunächst
nur den historischen Rahmen der Handlung wieder und stelle einige der
Handelnden vor, soweit sie historisch belegt sind. Damit gehe ich auch ganz
kurz auf die Romanhandlung ein. Sie steigert das, was an sich schon spannend
und reichlich verworren war, und stellt einen Bezug zur deutschen Geschichte
her.
Hongkong und der erste Opiumkrieg
Im Ersten
Opiumkrieg (1839-1842) machte England den ersten Versuch, das China der Mandschu-Dynastie
für den westlichen Handel zu öffnen. Unter Handel wurde vor allem der Import
von Opium gesehen, das in Indien angebaut wurde. Englische Händler im Verband
mit der Ostindienkompanie bedrängten das Parlament. Eine Flotte, bestehend aus 16
Kriegsschiffen (mit 500 Kanonen und 4000 Mann an Bord) besetzte die Insel Hongkong als
Operationsbasis. Die Briten besetzten außer Hongkong noch drei Häfen: Ningbo
und Zhoushan am Jangtsekiang und Tianjin am Beihai. Ein in Tianjin
abgeschlossener Vertrag, in dem China auf Hongkong verzichten und hohe
Reparationen zahlen sollte, lehnte der Kaiser ab. Daraufhin setzten die
Engländer den Krieg fort und eroberten Nanjing. Der dort 1842 abgeschlossene
Vertrag gilt in China als der erste der ‚Ungleichen Verträge‘. Er verpflichtete
die Chinesen zur Öffnung der Handelshäfen Kanton, Xiamen, Fuzhou, Shanghai und
Ningbo für Ausländer, zur Duldung weitgehend unbeschränkten Handels mit Opium,
zur Abtretung Hongkongs sowie zu Reparationszahlungen. Die Insel Hongkong (chinesisch
für Duftender Hafen) wurde erst im Jahr 1997 an China zurückgegeben. Seitdem
ist es eine Sonderverwaltungszone unter Beibehaltung einer freien
Marktwirtschaft und hoher innerer Autonomie.
Zweiter Opiumkrieg und Besetzung Bejings
Der Zweite
Opiumkrieg (1856-1860) brach aus mit der Beschlagnahme eines unter
englischer Flagge segelnden Schiffes, das Opium und andere Schmuggelware nach
Kanton brachte. Als die vorwiegend chinesischen Besatzungsmitglieder von den
Behörden nicht freigelassen wurden, erklärten die Briten den Krieg. Um die
angebliche Hinrichtung eines französischen Missionars zu rächen, schloss sich
Frankreich an. Im Grunde suchten beide Staaten eine Erweiterung ihrer
Einflusssphäre in China.
Im Jahre 1857 wurde Kanton eingenommen und im Jahr darauf die
Dagu-Festungen in der Nähe von Tianjin. Es kam zur Unterzeichnung des Vertrags
von Tianjin, welcher gleichzeitig auch von Frankreich, Russland und den USA verhandelt
wurde. Dieses Abkommen öffnete elf weitere Häfen für den Handel mit dem Westen.
Als China zögerte, diesen zweiten der „Ungleichen Verträge“ anzuerkennen,
rüsteten 1860 Briten und Franzosen zum Angriff auf Bejing. Beteiligt waren 11.000
Briten (zum großen Teil Inder) und 6.700 Franzosen. Die Truppen besetzten die
Stadt und verwüsteten anschließend den Sommerpalast des Kaisers. Auch die
Russen griffen ein, mit der Folge, dass China Gebiete in der Mandschurei, am
Usuri und am Amur an das Zarenreich verlor. Als im darauf folgenden Jahr der
Kaiser starb, übernahm Prinz Gong die Macht, zusammen mit der Kaiserwitwe Ci Xi.
Diese hat China 42 Jahre lang regiert und trat vor allem während des Boxeraufstands
1899-1901 in Erscheinung. An seiner Niederschlagung war auch das deutsche
Kaiserreich beteiligt.
Taiping-Aufstand
Genau zur gleichen Zeit, als China sich gegen britische und
französische Angriffe zu wehren hatte, wurde es durch innere Unruhen
erschüttert. Hóng
Xiùquán (1814-1864), der aus einer bäuerlichen Familie der Provinz
Guandong im Süden Chinas entstammte, war mehrmals bei den staatlichen Prüfungen
durchgefallen. Er verfiel in geistige Wahnvorstellungen, während der er
Visionen gehabt haben soll. Diese basierten auf Vorstellungen, auf die ihn ein
deutscher protestantischer Theologe gebracht hatte, dessen Übersetzungen ins
Chinesische er gelesen hatte. Hauptberuflich arbeitete er für ein britisches
Unternehmen, das im Opiumhandel tätig war. Er gründete 1837 eine dem
Christentum nahe stehende religiöse Gemeinschaft, die er ‚Großes Reich des
Himmlischen Friedens’ (chinesisch: tàipíng tiānguó) nannte. Er selbst bezeichnete
sich als ‚Himmlischer König’ (chinesisch: tiānwang) und jüngeren Bruder Jesu.
Man verteilte Bibeln gratis und predigte die Zehn Gebote. Man zeigte keinerlei
Toleranz gegen andere Glaubensbekenntnisse. Hong war ein Hakka und gehörte
damit einer benachteiligten Volksgruppe an. Er wollte zunächst gegen die
Mandschu-Herrscher kämpfen.
Aufstandsgebiet
der Taiping
Hans Magnus Enzensberger hat im SPIEGEL
3/2015 dem Taiping-Aufstand ein mehrseitiges Essay gewidmet. Die
Überschrift lautete ‚Der vergessene Gottesstaat‘. Es sei einer der größten
Bürgerkriege der Weltgeschichte gewesen. Der himmlische König habe sich wie
später die Kommunistische Partei Chinas, der modernsten Techniken bedient, um
seine Ziele zu erreichen. Ich zitiere Enzensberger für einige Details:
Am kaiserlichen Hof wollte niemand etwas von solchen Innovationen
wissen. Hong Xiuquan knüpfte zur Verbreitung seiner Botschaft ein engmaschiges
Netz von Kurieren und gründete Druckereien, um Flugschriften und Anweisungen
unter das Volk zu bringen. Für die Kranken ließ er Spitäler bauen. Um für den
Nachschub zu sorgen, legte er Straßen an. Sogar den Bau von Eisenbahnen soll er
geplant haben. … Obwohl Plünderungen ihnen verboten waren, fielen seine Truppen
über die Dörfer her. Sie konfiszierten das Vieh und nahmen die Vorräte der
widerspenstigen Bauern in Beschlag. Doch Beutezüge und Lösegeldzahlungen
reichten nicht hin, um Hongs Kriegskasse zu füllen. Dazu war er auf Geschäfte
mit fremden Waffenhändlern, Schmugglern, Abenteurern und Schiebern angewiesen.
Und was die Frauen betraf: So streng er sie zum Gehorsam anhielt, so gern
brauchte er sie als Hilfstruppen und setzte sie als Attentäterinnen ein. … Klar
ist auch, dass das Reich der Taiping nicht von außen besiegt worden, sondern an
seinen inneren Widersprüchen zugrunde gegangen ist. … Je erfolgreicher und
selbstsicherer die Taiping anfangs waren, desto brüchiger wurde ihre
Herrschaft. Ihr Anführer ernannte immer mehr Vizekönige, "Prinzen",
"Minister" und "Gouverneure", die miteinander rivalisierten
und ihm die Herrschaft streitig machten. Zerwürfnisse, Niederlagen und
Hungersnöte häuften sich. Vetternwirtschaft, Bestechlichkeit, Gier und
Grausamkeit der Kämpfer taten ein Übriges. Hong selbst zog sich von seinen
Anhängern zurück und setzte sich über seine eigenen Regeln hinweg, indem er
sich einen Harem von 88 Beischläferinnen hielt und einem absurden Luxus frönte.
Zwanzig bis dreißig Millionen Todesopfer soll diese Erhebung gefordert haben, mehr als 600 Städte
wurden von ihr eingenommen und achtzehn Provinzen beherrscht. So viele Menschen
kamen ums Leben, dass die Kämpfe schließlich aus Mangel an Kämpfern endeten. Beim
Lesen der Gräueltaten der Taiping-Rebellen hatte ich dieselbe Idee, die auch
Enzensberger zum Ausdruck bringt. ‚Die Parallelen zum Dschihad des
"Islamischen Staates", der sich heute zwischen dem Mittelmeer und
Pakistan ein gewaltbereites Imperium zu errichten sucht, sind unübersehbar.‘ Ob
man vom Zusammenbruch der Taiping-Bewegung auf das Ende des IS hoffen darf, sei
dahingestellt.
Romanfiguren und andere
Dem Charakter eines Romans entsprechend sind in Thomes Buch mehrere
Figuren sehr nuancenreich beschrienen. Einige davon sind historisch, andere
nicht.
Der General Zeng Guofan (1811-1872)
vertrat das alte China. Er stammte aus einer alten, nicht sehr wohlhabenden
Familie der Provinz Hunan und hatte alle Prüfungen des Hofes bestanden. Er war
Anhänger der konfuzianischen Lehre und liebte besonders die Schriften eines
Dichters aus seiner Heimatprovinz. Er verfasste Gedichte und philosophische
Essays. Als die langhaarigen Anhänger Hongs, die dem Gott der Barbaren huldigen
und die Ahnentafeln zerstörten, in die Provinz Hunan einfielen, organisierte er
den Widerstand. Mit seiner halb-privaten Hunan-Armee befreite er die Hauptstadt
Changsha. Anschließend belagerte er die Stadt Anqing am Jangtsekiang und
verhinderte das weitere Vordringen der Aufständischen nach Westen. Ab dem Jahre
1860 belagerte er Nanjing mit 20.000 Soldaten. Die Belagerung dauerte vier
Jahre lang (bis Juli 1864) und bereitete der Taiping-Bewegung ein blutiges Ende.
Der stets im Namen der
Königin Victoria und des Parlaments auftretende Brite war Lord
Elgin (1811-1863). Sein voller Name lautete James Bruce, 8. Earl of
Elgin und 12. Earl of Kincardine. Sein Vater hatte die Friese der Akropolis aus
Athen ins Britische Museum nach London gebracht. Lord Elgin verkörperte in
China den englischen adeligen Diplomaten, der stets langfristigere Ziele im
Kopf hatte als die Generäle ihrer Majestät. Als Anhänger des Philosophen Hegel
sah er sich als ‚Weltgeist auf dem Wasser‘. Eigentlich träumte er stets von
seinem schottischen Landgut und seiner Frau, bei denen er viel lieber sein
wollte als im verworrenen China. Dass englische Missionare in Hongs Theologie
eine Frühform des Christentums, den Arianismus, entdeckten, steigerte die
politische Verwirrung.
Die folgende Person ist frei erfunden. Sie heißt Philipp Johann
Neukamp. Vielleicht wurde sie eingefügt, um den Stoff für deutsche Leser
interessanter zu machen. Jedenfalls stellt er einen Bezug zur deutschen
Geschichte her. Er hatte in Berlin mit Robert Blum
(1807-1848) zusammengearbeitet. Blum war ein prominenter Abgeordneter des
Frankfurter Paulskirchen-Parlaments, der 1848 in Wien standrechtlich erschossen
wurde. Im Auftrage der Basler Mission ging Neukamp nach Hongkong. Hier lernte
er Vertreter der Taiping-Rebellion kennen. Mehrere Versuche, nach Nanjing zu
gelangen, schlugen fehl. Als er es schließlich geschafft hatte, wurde er dort
sehr bewundert und verehrt. Kurz vor der Eroberung Nanjings gelang es ihm, der
Belagerung zu entkommen und nach Amerika zu fliehen.
Wen ich in dem Buch erwartet habe, aber nur in einem Nebensatz
erwähnt fand, war Charles
George Gordon (1833-1885). Er hatte sich bereits im Krimkrieg gegen die Türkei
ausgezeichnet. In China leitete er das Söldnerheer, das zuerst die Stadt
Shanghai gegen einen Angriff der Taiping-Rebellen erfolgreich verteidigte. Da
das offizielle England sich neutral verhielt, zog Gordon mit 4.000 indischen
und chinesischen Söldnern in Nanjing ein. Bekanntlich übernahm Gordon viel später
nochmals eine riskante Mission, als er 1885 im Sudan gegen den Aufstand des
Mahdi kämpfte und in Karthum sein Leben verlor.
Schlussgedanken
Zweifellos gelingt es Thome den vielen politischen, sozialen, religiösen
und weltanschaulichen Themen und Überzeugungen, die hier zur Diskussion
standen, einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Wir wissen immer noch viel
zu wenig über den langen Weg, den China ging, bis es zu seiner heutigen Rolle
in der Welt fand. Chinesen sind sich dessen durchaus bewusst. Dass auch bei uns
ein Interesse an romanhaften Darstellungen von Geschichte besteht, ist nicht zu
leugnen. An die sprachliche Klasse eines Daniel Kehlmann kommt Thome jedoch
nicht heran.
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