Freitag, 30. November 2018

Deutschland und sein ostelbisches Trauma – von einem Briten erzählt

Zurzeit verfolgt die Welt, wie britische Politiker massiv den Interessen ihrer Jugend und ihrer Wirtschaft zuwiderhandeln. Der vor zwei Jahren aus Versehen und mit knapper Mehrheit zustanden gekommene BREXIT-Beschluss, den Boris Johnson und Nigel Farage mit Lügen herbeigeführt hatten, wird gerade durchgezogen. Der mühsam mit Brüssel ausgehandelte Scheidungsvertrag umfasst zwar über 500 Seiten. Er erklärt im Wesentlichen aber nur, dass alles zunächst so bleibt, wie es ist, Das meiste muss später geregelt werden. Früher hatten die Briten einmal den Ruf, die Dinge mit Vernunft und Realitätssinn anzugehen. Gefühle und Ideologien überließen sie gerne andern. In dieser Stimmung las ich die englische Ausgabe des Buchs Die kürzeste Geschichte Deutschlands (2018, 336 S.) von James Hawes (*1960). So wie Rheinländer und Bayern ist auch er sehr bemüht, Deutsche bzw. Deutschland nicht mit Preußen gleichzusetzen. Ein früherer Blog-Beitrag beleuchtete meine Sicht von Preußens Rolle.

Erstes Halbjahrtausend – Germanen (8 vor Chr. – 526 nach Chr.)

Über die Germanen gab es seit 500 vor Chr. die ersten Gerüchte und Erzählungen. Sie sollen wild und unzivilisiert sein. In ihrer Sprache hatte es gegenüber den Bewohnern des Mittelmeerraums eine Lautverschiebung gegeben (pater-father, frater-brother, labia-lip, usw.). Einen etwas präziseren Bericht gab Julius Caesar in seinem Gallischen Krieg. Er trieb einen germanischen Heerführer namens Ariovist, der mit seinen über 100.000 Gefolgsleuten in Gallien eingefallen war, nach einer vernichtenden Schlacht über den Rhein zurück. Später überschritt Caesar selbst den Rhein anhand einer Holzbrücke, konnte sich aber nicht festsetzen. 


Germanien nach Ptolemaeus-Karte

Die Schlacht im Teutoburger Wald (9 vor Chr.) hielt die Römer nicht davon ab, weitere Versuche zu machen, das Gebiet zwischen Rhein und Elbe unter Kontrolle zu bekommen. Der Erfolg blieb aus. Hawes vergleicht den Rhein mit der Sykes-Picot-Linie (wie sie Engländer und Franzosen im Nahen Osten zogen). Die Römer als Besatzer versuchten sie als Grenze zu erzwingen. Die Germanen dachten nicht daran, sich daran zu halten. Selbst ein so imposantes Bauwerk wie der Limes schreckte sie nicht ab. Händler überquerten ihn, Siedler sickerten durch. Die Römer selbst beschäftigten ganze Heerscharen von Germanen als Soldaten und Offiziere.

Ab dem Jahre 300 begann eine Migrationswelle, welche später die Bezeichnung Völkerwanderung erhielt. In Sprache und Sitten passte man sich den Römern an, da vorwiegend junge Männer beteiligt waren und nur wenige Frauen. Schließlich übernahm eine Auswanderergruppe auch die Verwaltung des römischen Reiches, nämlich Theodorich und die Ostgoten. Im Jahre 525 machten sie Ravenna zur Hauptstadt.

Zweites Halbjahrtausend – Reich der Franken (526-983)

Der germanische Stamm der Franken dachte nicht daran, auf Wanderschaft zu gehen. Sie blieben in der Gegend und lernten Latein. Sie vergrößerten jedoch ihr Siedlungsgebiet vom Niederrhein bis nach Paris. Im Jahre 754 kam Papst Stephan II. nach St. Denis (bei Paris) und salbte Pepin uns seine beiden minderjährigen Söhne. Einer von ihnen ging als Karl der Große (frz. Charlemagne, 747-814) in die Geschichte ein. Ab dem Jahre 800 befasste er sich mit der Neugründung des Römischen Kaiserreiches. Vor allem aber bemühte er sich, es von der Rheingrenze bis zur Elbe auszudehnen. Auch die Bayern band er ein.

Karls Nachfolger überquerten auch die Elbe. Sie wurden jedoch im Jahre 983 durch einen Aufstand der Slawen (auch Wenden genannt) zurückgedrängt. Im Jahre 1147 rief dann Bernhard von Clairvaux, der Gründer des Zisterzienser-Ordens, zu einem Kreuzzug gegen die Wenden auf. Karls berühmtester Nachfolger war Friedrich Barbarossa (1122-1190), der zur Sagengestalt wurde.

Drittes Halbjahrtausend – ein Kampf um Deutschland  (983-1525)

Im Jahre 1226 erließ Friedrich II. (1194-1250), Barbarossas Enkel, die Goldene Bulle von Rimini. Darin übertrug er dem Deutschen Orden (engl. teutonic knights) die Missionierung und Erschließung  des Gebietes östlich der Elbe. Zusammen mit dem Händlerverband Hanse verbreiteten sie deutschen Einfluss und deutsche Siedler über das gesamte Baltikum.

In dem zum Deutschen Orden gehörenden Gebiet lag auch die Gegend des späteren Ostpreußens. Hier erlitten im Jahre 1410 die Ordensritter eine Niederlage (bei Tannenberg), von der sie sich nur mühsam erholten. Der Anführer der Slawen war Jan Zizka, der später Jan Hus in Prag unterstützte. Ostpreußen blieb zwar Ordensbesitz, kam jedoch unter die Oberhoheit der polnischen Könige. Von der Elbe bis zum Baltischen Meerbusen herrschte eine deutsche Oberschicht als Gutsbesitzer über verschiedene slawische Ethnien. Ihre Ideologie war die eines adeligen Junkertums. Die deutschen Herren mussten das Baltikum erst nach den beiden Weltkriegen verlassen. Ihre Herrenhäuser wurden teilweise restauriert und werden heute von Touristen bestaunt.

Viertes Halbjahrtausend – Deutschlands zwei Wege (1525- heute)

Durch Luthers Reformation wurde Deutschland zweigeteilt. Luther verkündete, dass nur Gottes Gnade die Erlösung bringt und nicht die guten Werke eines Menschen. Die Fürsten sahen eine Chance, an das Geld und den Besitz der römischen Kirche zu gelangen. Luther sah, dass ihm die Fürsten nützlich sein würden und schlug sich auf ihre Seite im Bauernaufstand.

Der Großmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, säkularisierte 1525 das Ordensgebiet und nannte sich fortan Herzog von Preußen. Später erbten seine Nachfahren auch die Mark Brandenburg und den damit verbundenen Kurfürstentitel. Obwohl im Augsburger Frieden von 1555 die Frage der Religion zugunsten der Fürsten entschieden worden war (lat. cuius regio, eius religio). gab sich Kaiser Ferdinand damit nicht zufrieden. Er beauftragte seine Heerführer mit der gewaltsamen Rekatholisierung. Es kam 1618 zum 30-jährigen Krieg. Als des Kaisers Söldnerführer (Tilly, Wallenstein) zu viel Erfolg zu haben schienen, schaltete sich das katholische Frankreich und das protestantische Schweden ein. Es kam 1648 zum Friedensschluss, allerdings war Deutschland nur noch ein Trümmerfeld mit halbierter Bevölkerung.

Auf dem früheren Reichsgebiet entstanden 1800 Kleinstaaten, 50 freie Städte und 60 kirchliche Besitztümer. Eine verbindende staatliche Einheit existierte kaum mehr. Es herrschte die Willkür  (engl. failed state). Gleichzeitig entstand in Frankreich ein starkes Staatsgebilde, das 72 Jahre lang von einer Person (Ludwig XIV.) beherrscht wurde. In Preußen konnte sich Kurfürst Friedrich Wilhelm 1657 aus der polnischen Lehensabhängigkeit lösen. Da Preußen außerhalb der Reichsgrenzen lag, war er dort nunmehr ein souveräner Herrscher. Dies nutzte sein Sohn Kurfürst Friedrich III., um sich 1701 selbst als Friedrich I. zum König in Preußen zu krönen.

Überall in Deutschland strahlte ein Jahrhundert lang der Einfluss Frankreichs in vielfältiger Weise aus. Man baute französisch und sprach französisch. Preußens König Friedrich II. (genannt der Große) traf sich mit Voltaire. Nach der Revolution von 1789 kam der Korse Napoléon in Frankreich an die Macht. Er besiegte die Preußen bei Jena und Auerstedt vernichtend. Er hätte es von der Landkarte verschwinden lassen, wenn nicht der russische Zar sich 1807 im Frieden von Tilsit für sein Überleben eingesetzt hätte. Es wurde auf das Gebiet östlich der Elbe beschnitten und wurde ein Satrap Russlands.

Preußen war ein Staat, in dem das Militär einen hohen Stellenwert hatte. ‚Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt‘. So soll es der Marquis de Mirabeau ausgedrückt haben. Die ostelbischen Junker sahen in der Armee ihre Aufstiegsmöglichkeiten. Auch beim Wiener Kongress von 1815 erhielt Preußen die Unterstützung des russischen Zaren. Auf Wunsch Englands erhielt es auch wieder Besitz am Rhein. Man wollte ein Bollwerk gegen Frankreich schaffen. Preußen erhielt dadurch nicht nur eine starke katholische Volksgruppe, sondern auch ein Gebiet, das sich industriell entwickelte. Für Preußen wie für das habsburgische Österreich gab es neben Deutschen stets noch weitere Volksgruppen, die es beherrschte. Ein deutsches Nationalbewusstsein war daher für beide ein Problem.

Preußens Kanzler Otto von Bismarck erkannte dies und strebte eine spezielle, d.h. preußische Lösung an. Wie er 1862 dem englischen Premier Benjamin Disraeli anvertraute, müsse er Österreich mit Gewalt aus Deutschland hinausdrängen und die deutschen Kleinstaaten an Preußens Leine nehmen. Für letzteres brauche er einen Krieg mit Frankreich. Im Jahre 1871 war es soweit. Die Frage war nur, nennt sich Wilhelm I. deutscher Kaiser oder Kaiser in Deutschland. Jetzt war ganz Deutschland in den Händen einer ostelbischen Macht. Bismarck wollte einen protestantischen Nationalstaat errichten, was im Rheinland zum Kulturkampf führte. Im Jahre 1879 vollzog er eine Kehrtwende und verbündete sich mit Österreich, 1880 streckte er Fühler nach St. Petersburg aus. Kaiser Wilhelm II. wollte mit England konkurrieren und träumte von überseeischen Kolonien und einer Flotte. Die ostelbischen Junker zogen jedoch den Ausbau des Heeres vor.

Wilhelms militärischer Berater Helmuth Graf von Moltke meine 1912: ‚Je früher wir Russland angreifen, desto besser‘. Nach dem Attentat von Sarajewo erteilte der deutsche Kaiser Österreich eine Blankovollmacht. Deutschland war nahe dran, den Ersten Weltkrieg zu gewinnen. Es hatte die besseren Waffen und bessere Heerführer (Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff). Im Frieden von Brest-Litowsk wurde Preußen um große Teile Litauens, Lettlands und Polens erweitert. Ludendorff wollte die Bolschewiken vertreiben und den Zar als Vasall Preußens wiedereinsetzen. Dummerweise hatte die Heeresleitung nicht mit den Amerikanern gerechnet, die sich durch die deutschen U-Boote provoziert fühlten. Außerdem brachten die Engländer neue Tanks an die Front bei Amiens, die im August die deutschen Linien durchbrachen.

In Weimar gaben sich die Parlamentarier (angeführt von Hugo Preuss) eine echte demokratische Verfassung, noch ehe der Friedensvertrag von Versailles vorlag. Sozialisten und Zentrum versuchten es, aus der schwierigen Situation das Beste zu machen. Der preußische Adel kochte vor Wut. Sie konnten viele ihrer Söhne auf den verbliebenen Offiziersposten der Reichswehr unterbringen. Man testete neue Waffen heimlich in Russland, zusammen mit der Roten Armee. Die Nachkommen der Ordensritter operierten als Freikorps im ganzen Baltikum. Im Jahre 1920 eroberten sie vorübergehend die Stadt Riga. Politisch sammelte man sich in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), angeführt von Alfred Hugenberg und Franz von Papen.


Ergebnisse für Reichstagstagswahlen 1930 und 1932

Mit Hilfe der DNVP kam Hitler an die Macht. Zusammen erhielten DNVP und Nazis 1932 über 60% der Stimmen, allerdings nur in Ostdeutschland. Im Westen und Süden Deutschland, wo die Bevölkerung vorwiegend katholisch ist, kam Hitler nie über 35% (siehe Grafik). Dem Ermächtigungsgesetz, das Hitler zur Festigung seiner Diktatur nutzte, stimmte das katholische Zentrum zu − aus Angst als Verräter hingestellt zu werden, meint Hawes.


Preußische Heldentradition 1933

Nur die Nicht-Kenner preußischer Geschichte wunderten sich, als Hitler 1939 einen Vertrag mit Stalin schloss, der zur dritten Aufteilung Polens führte. Dennoch griff Hitler zwei Jahre später Russland an, wobei er sich kräftig übernahm. Nachdem er zuerst Hunderttausende nicht für lebenswert erachtete deutschstämmige Bürger getötet hatte, richtete sich sein darwinistischer Groll vor allem gegen Millionen von Juden in Europa. Das wiederum rief die Amerikaner auf den Plan. Sein Reich war untergegangen in dem Moment, als sich Amerikaner und Russen 1945 in Torgau an der Elbe die Hände reichten.

Konrad Adenauer (1876-1967), der während der Zeit der Weimarer Republik das Rheinland von Preußen trennen wollte, erreichte für die Bundesrepublik, die nur die Gebiete westlich der Elbe umfasste, eine eindeutige Bindung an den Westen. Bei der Währungsreform 1948 wurden alle Schulden Deutschlands auf einen Schlag gestrichen, Die Wirtschaft konnte sich erholen und wieder Güter aller Art produzieren.

Dort wo einst Luther und die Junker lebten, entstand die DDR, die sich als das bessere Deutschland auffasste. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und der Vietnamkrieg trieben Teile der westdeutschen Jugend auf die Straße. Die von der Roten Armeefraktion (RAF) verursachten Morde führten zum Deutschen Herbst des Jahres 1977. Die Sympathie weiter Bevölkerungskreise für die RAF war ebenso störend wie die Hilfe durch den Geheimdienst der DDR (Stasi).

Helmut Schmidt (1918-2015), ein von der SPD gestellter Kanzler, setzte den NATO-Doppelbeschluss durch und die Installation von Mittelstrecken-Raketen (Pershing). Es folgte 1989 der Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche Wiedervereinigung. ‚Entweder kommt die DM zu uns oder wir gehen zu Ihr‘, skandierten die Ostdeutschen. Der Umtausch der Ostmark erfolgte im Verhältnis 1:1 mit katastrophalen Folgen für die DDR-Wirtschaft. Den Franzosen zuliebe führte Helmut Kohl den Euro ein. Der Bundestag wählte mit knapper Mehrheit Berlin zur neuen Hauptstadt. Da die Hauptstadt von den süddeutschen Bundesländern mit Milliardenbeträgen subventioniert wird, blüht sie auf. Touristen und Unternehmensgründer fühlen sich angezogen.

Das Land östlich der Elbe verliert immer mehr Menschen. Eigentlich möchte niemand dort leben. Anstatt DNVP und Nazis wählt man jetzt Linke und AfD. Die Milliarden, die als Hilfe flossen, können daran nichts ändern. Es fehle das Vertrauen in eine demokratische Zukunft. Die Staaten Osteuropas, denen weniger Hilfe zufließt als der ehemaligen DDR, staunen nur. Warum hilft ihnen denn niemand?

Nachgedanken zum Buch

Am Schluss des Buches wundert sich Hawes doch darüber, dass er mit seinem Schema nicht alles erklären kann. Als er im Jahre 2017 sein Buch abschließt, kandidiert ein katholischer Sozialdemokrat aus dem äußersten Westen (Martin Schulz) gegen eine protestantische Pfarrerstochter aus dem Osten (Angela Merkel).

Überhaupt fiel so Manches der Kürze zum Opfer. Wo bleiben Johann Gottfried Herder (in Mohrungen geboren, später in Riga und Weimar tätig) und Immanuel Kant (aus Königsberg)? Was ist mit den Gebrüdern Humboldt (aus Berlin)? Wer kennt nicht den Arzt Rudolf Virchow (aus Hinterpommern)? Was ist mit Günter Grass (aus Danzig)? Ostelbien ist zweifellos ein Teil Deutschlands, sowohl in der Geschichte wie auch heute. Ich halte es sogar für einen sehr interessanten und wichtigen Teil.

2 Kommentare:

  1. Gerhard Schimpf aus Pforzheim schrieb: Der Begriff "Ostelbien" ist seit kurzem bei uns zu Hause in den Sprachschatz aufgenommen und erklärt bequem und historisch belegt, warum Chemnitz anders tickt als Karlruhe.

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  2. Klaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb: Aber geht es nicht vielen so, dass sie Berlin etwas kritisch sehen, zumal Westberlin ja nicht gerade im wirtschaftlichen Fokus der Altbundesrepublik lag. Mit „Hauptstadt Berlin“ tue ich mich in der Aussprache immer noch etwas schwer, ganz im Gegensatz natürlich zu den früheren alten Kollegen in Jena.

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