Zurzeit verfolgt die Welt, wie britische Politiker massiv den
Interessen ihrer Jugend und ihrer Wirtschaft zuwiderhandeln. Der vor zwei
Jahren aus Versehen und mit knapper Mehrheit zustanden gekommene
BREXIT-Beschluss, den Boris Johnson und Nigel Farage mit Lügen herbeigeführt
hatten, wird gerade durchgezogen. Der mühsam mit Brüssel ausgehandelte
Scheidungsvertrag umfasst zwar über 500 Seiten. Er erklärt im Wesentlichen aber
nur, dass alles zunächst so bleibt, wie es ist, Das meiste muss später geregelt
werden. Früher hatten die Briten einmal den Ruf, die Dinge mit Vernunft und
Realitätssinn anzugehen. Gefühle und Ideologien überließen sie gerne andern. In
dieser Stimmung las ich die englische Ausgabe des Buchs Die kürzeste Geschichte
Deutschlands (2018, 336 S.) von James
Hawes (*1960). So wie Rheinländer und Bayern ist auch er sehr bemüht,
Deutsche bzw. Deutschland nicht mit Preußen gleichzusetzen. Ein früherer Blog-Beitrag beleuchtete
meine Sicht von Preußens Rolle.
Erstes Halbjahrtausend – Germanen (8 vor Chr. – 526 nach Chr.)
Über die Germanen gab es seit 500 vor Chr. die ersten Gerüchte und
Erzählungen. Sie sollen wild und unzivilisiert sein. In ihrer Sprache hatte es
gegenüber den Bewohnern des Mittelmeerraums eine Lautverschiebung gegeben (pater-father,
frater-brother, labia-lip, usw.). Einen etwas präziseren Bericht gab Julius
Caesar in seinem Gallischen Krieg. Er trieb einen germanischen Heerführer
namens Ariovist, der mit seinen über 100.000 Gefolgsleuten in Gallien
eingefallen war, nach einer vernichtenden Schlacht über den Rhein zurück.
Später überschritt Caesar selbst den Rhein anhand einer Holzbrücke, konnte sich
aber nicht festsetzen.
Germanien
nach Ptolemaeus-Karte
Die Schlacht im Teutoburger Wald (9 vor Chr.) hielt die Römer
nicht davon ab, weitere Versuche zu machen, das Gebiet zwischen Rhein und Elbe
unter Kontrolle zu bekommen. Der Erfolg blieb aus. Hawes vergleicht den Rhein mit
der Sykes-Picot-Linie (wie sie Engländer und Franzosen im Nahen Osten zogen).
Die Römer als Besatzer versuchten sie als Grenze zu erzwingen. Die Germanen
dachten nicht daran, sich daran zu halten. Selbst ein so imposantes Bauwerk wie
der Limes schreckte sie nicht ab. Händler überquerten ihn, Siedler sickerten
durch. Die Römer selbst beschäftigten ganze Heerscharen von Germanen als
Soldaten und Offiziere.
Ab dem Jahre 300 begann eine Migrationswelle, welche später die
Bezeichnung Völkerwanderung erhielt. In Sprache und Sitten passte man sich den
Römern an, da vorwiegend junge Männer beteiligt waren und nur wenige Frauen. Schließlich
übernahm eine Auswanderergruppe auch die Verwaltung des römischen Reiches,
nämlich Theodorich und die Ostgoten. Im Jahre 525 machten sie Ravenna zur
Hauptstadt.
Zweites Halbjahrtausend – Reich der Franken (526-983)
Der germanische Stamm der Franken dachte nicht daran, auf
Wanderschaft zu gehen. Sie blieben in der Gegend und lernten Latein. Sie
vergrößerten jedoch ihr Siedlungsgebiet vom Niederrhein bis nach Paris. Im
Jahre 754 kam Papst Stephan II. nach St. Denis (bei Paris) und salbte Pepin uns
seine beiden minderjährigen Söhne. Einer von ihnen ging als Karl der Große
(frz. Charlemagne, 747-814) in die Geschichte ein. Ab dem Jahre 800 befasste er
sich mit der Neugründung des Römischen Kaiserreiches. Vor allem aber bemühte er
sich, es von der Rheingrenze bis zur Elbe auszudehnen. Auch die Bayern band er
ein.
Karls Nachfolger überquerten auch die Elbe. Sie wurden jedoch im
Jahre 983 durch einen Aufstand der Slawen (auch Wenden genannt) zurückgedrängt.
Im Jahre 1147 rief dann Bernhard von Clairvaux, der Gründer des
Zisterzienser-Ordens, zu einem Kreuzzug gegen die Wenden auf. Karls
berühmtester Nachfolger war Friedrich Barbarossa (1122-1190), der zur
Sagengestalt wurde.
Drittes Halbjahrtausend – ein Kampf um Deutschland (983-1525)
Im Jahre 1226 erließ Friedrich II. (1194-1250), Barbarossas Enkel, die Goldene
Bulle von Rimini. Darin übertrug er dem Deutschen Orden (engl. teutonic knights) die Missionierung und
Erschließung des Gebietes östlich der
Elbe. Zusammen mit dem Händlerverband Hanse verbreiteten sie deutschen Einfluss
und deutsche Siedler über das gesamte Baltikum.
In dem zum Deutschen Orden gehörenden Gebiet lag auch die Gegend
des späteren Ostpreußens. Hier erlitten im Jahre 1410 die Ordensritter eine
Niederlage (bei Tannenberg), von der sie sich nur mühsam erholten. Der Anführer
der Slawen war Jan Zizka, der später Jan Hus in Prag unterstützte. Ostpreußen
blieb zwar Ordensbesitz, kam jedoch unter die Oberhoheit der polnischen Könige.
Von der Elbe bis zum Baltischen Meerbusen herrschte eine deutsche Oberschicht
als Gutsbesitzer über verschiedene slawische Ethnien. Ihre Ideologie war die
eines adeligen Junkertums. Die deutschen Herren mussten das Baltikum erst nach
den beiden Weltkriegen verlassen. Ihre Herrenhäuser wurden teilweise restauriert
und werden heute von Touristen bestaunt.
Viertes Halbjahrtausend – Deutschlands zwei Wege (1525- heute)
Durch Luthers Reformation wurde Deutschland zweigeteilt. Luther
verkündete, dass nur Gottes Gnade die Erlösung bringt und nicht die guten Werke
eines Menschen. Die Fürsten sahen eine Chance, an das Geld und den Besitz der
römischen Kirche zu gelangen. Luther sah, dass ihm die Fürsten nützlich sein
würden und schlug sich auf ihre Seite im Bauernaufstand.
Der Großmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg,
säkularisierte 1525 das Ordensgebiet und nannte sich fortan Herzog von Preußen.
Später erbten seine Nachfahren auch die Mark Brandenburg und den damit
verbundenen Kurfürstentitel. Obwohl im Augsburger Frieden von 1555 die Frage
der Religion zugunsten der Fürsten entschieden worden war (lat. cuius regio, eius religio). gab sich
Kaiser Ferdinand damit nicht zufrieden. Er beauftragte seine Heerführer mit der
gewaltsamen Rekatholisierung. Es kam 1618 zum 30-jährigen Krieg. Als des
Kaisers Söldnerführer (Tilly, Wallenstein) zu viel Erfolg zu haben schienen,
schaltete sich das katholische Frankreich und das protestantische Schweden ein.
Es kam 1648 zum Friedensschluss, allerdings war Deutschland nur noch ein
Trümmerfeld mit halbierter Bevölkerung.
Auf dem früheren Reichsgebiet entstanden 1800 Kleinstaaten, 50 freie
Städte und 60 kirchliche Besitztümer. Eine verbindende staatliche Einheit
existierte kaum mehr. Es herrschte die Willkür (engl. failed state).
Gleichzeitig entstand in Frankreich ein starkes Staatsgebilde, das 72 Jahre
lang von einer Person (Ludwig XIV.) beherrscht wurde. In Preußen konnte sich Kurfürst Friedrich Wilhelm 1657 aus der
polnischen Lehensabhängigkeit lösen. Da Preußen außerhalb der Reichsgrenzen
lag, war er dort nunmehr ein souveräner Herrscher. Dies nutzte sein Sohn
Kurfürst Friedrich III., um sich 1701 selbst als Friedrich I. zum König in Preußen zu krönen.
Überall in Deutschland strahlte ein Jahrhundert lang der Einfluss
Frankreichs in vielfältiger Weise aus. Man baute französisch und sprach
französisch. Preußens König Friedrich II. (genannt der Große) traf sich mit
Voltaire. Nach der Revolution von 1789 kam der Korse Napoléon in Frankreich an
die Macht. Er besiegte die Preußen bei Jena und Auerstedt vernichtend. Er hätte
es von der Landkarte verschwinden lassen, wenn nicht der russische Zar sich
1807 im Frieden von Tilsit für sein Überleben eingesetzt hätte. Es wurde auf
das Gebiet östlich der Elbe beschnitten und wurde ein Satrap Russlands.
Preußen war ein Staat, in dem das Militär einen hohen Stellenwert
hatte. ‚Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen
Staat besitzt‘. So soll es der Marquis de Mirabeau ausgedrückt haben. Die
ostelbischen Junker sahen in der Armee ihre Aufstiegsmöglichkeiten. Auch beim Wiener Kongress von 1815 erhielt Preußen die
Unterstützung des russischen Zaren. Auf Wunsch Englands erhielt es auch wieder
Besitz am Rhein. Man wollte ein Bollwerk gegen Frankreich schaffen. Preußen
erhielt dadurch nicht nur eine starke katholische Volksgruppe, sondern auch ein
Gebiet, das sich industriell entwickelte. Für Preußen wie für das habsburgische
Österreich gab es neben Deutschen stets noch weitere Volksgruppen, die es
beherrschte. Ein deutsches Nationalbewusstsein war daher für beide ein Problem.
Preußens Kanzler Otto von Bismarck erkannte dies und strebte eine
spezielle, d.h. preußische Lösung an. Wie er 1862 dem englischen Premier Benjamin
Disraeli anvertraute, müsse er Österreich mit Gewalt aus Deutschland hinausdrängen
und die deutschen Kleinstaaten an Preußens Leine nehmen. Für letzteres brauche
er einen Krieg mit Frankreich. Im Jahre 1871 war es soweit. Die Frage war nur,
nennt sich Wilhelm I. deutscher Kaiser oder Kaiser in Deutschland. Jetzt war
ganz Deutschland in den Händen einer ostelbischen Macht. Bismarck wollte einen protestantischen Nationalstaat errichten,
was im Rheinland zum Kulturkampf führte. Im Jahre 1879 vollzog er eine Kehrtwende
und verbündete sich mit Österreich, 1880 streckte er Fühler nach St. Petersburg
aus. Kaiser Wilhelm II. wollte mit England konkurrieren und träumte von
überseeischen Kolonien und einer Flotte. Die ostelbischen Junker zogen jedoch den
Ausbau des Heeres vor.
Wilhelms militärischer Berater Helmuth Graf von Moltke meine 1912:
‚Je früher wir Russland angreifen, desto besser‘. Nach dem Attentat von Sarajewo
erteilte der deutsche Kaiser Österreich eine Blankovollmacht. Deutschland war
nahe dran, den Ersten Weltkrieg zu gewinnen. Es hatte die besseren Waffen und
bessere Heerführer (Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff). Im Frieden von
Brest-Litowsk wurde Preußen um große Teile Litauens, Lettlands und Polens
erweitert. Ludendorff wollte die Bolschewiken vertreiben und den Zar als Vasall
Preußens wiedereinsetzen. Dummerweise hatte die Heeresleitung nicht mit den
Amerikanern gerechnet, die sich durch die deutschen U-Boote provoziert fühlten.
Außerdem brachten die Engländer neue Tanks an die Front bei Amiens, die im
August die deutschen Linien durchbrachen.
In Weimar gaben sich die Parlamentarier (angeführt von Hugo
Preuss) eine echte demokratische Verfassung, noch ehe der Friedensvertrag von
Versailles vorlag. Sozialisten und Zentrum versuchten es, aus der schwierigen
Situation das Beste zu machen. Der preußische Adel kochte vor Wut. Sie konnten viele
ihrer Söhne auf den verbliebenen Offiziersposten der Reichswehr unterbringen.
Man testete neue Waffen heimlich in Russland, zusammen mit der Roten Armee. Die
Nachkommen der Ordensritter operierten als Freikorps im ganzen Baltikum. Im
Jahre 1920 eroberten sie vorübergehend die Stadt Riga. Politisch sammelte man sich in der
Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), angeführt von Alfred Hugenberg und Franz von
Papen.
Ergebnisse
für Reichstagstagswahlen 1930 und 1932
Mit Hilfe der DNVP kam Hitler an die Macht. Zusammen erhielten DNVP und Nazis 1932 über 60% der Stimmen, allerdings nur in Ostdeutschland. Im Westen und Süden Deutschland, wo die Bevölkerung vorwiegend katholisch ist, kam Hitler nie über 35% (siehe Grafik). Dem Ermächtigungsgesetz, das Hitler zur Festigung seiner Diktatur nutzte, stimmte das katholische Zentrum zu − aus Angst als Verräter hingestellt zu werden, meint Hawes.
Preußische
Heldentradition 1933
Nur die Nicht-Kenner preußischer Geschichte wunderten sich, als
Hitler 1939 einen Vertrag mit Stalin schloss, der zur dritten Aufteilung Polens
führte. Dennoch griff Hitler zwei Jahre später Russland an, wobei er sich
kräftig übernahm. Nachdem er zuerst Hunderttausende nicht für lebenswert
erachtete deutschstämmige Bürger getötet hatte, richtete sich sein
darwinistischer Groll vor allem gegen Millionen von Juden in Europa. Das wiederum rief die
Amerikaner auf den Plan. Sein Reich war untergegangen in dem Moment, als sich
Amerikaner und Russen 1945 in Torgau an der Elbe die Hände reichten.
Konrad Adenauer (1876-1967), der während der Zeit der Weimarer Republik das
Rheinland von Preußen trennen wollte, erreichte für die Bundesrepublik, die nur
die Gebiete westlich der Elbe umfasste, eine eindeutige Bindung an den Westen.
Bei der Währungsreform 1948 wurden alle Schulden Deutschlands auf einen Schlag
gestrichen, Die Wirtschaft konnte sich erholen und wieder Güter aller Art
produzieren.
Dort wo einst Luther und die Junker lebten, entstand die DDR, die
sich als das bessere Deutschland auffasste. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse
und der Vietnamkrieg trieben Teile der westdeutschen Jugend auf die Straße. Die
von der Roten Armeefraktion (RAF) verursachten Morde führten zum Deutschen
Herbst des Jahres 1977. Die Sympathie weiter Bevölkerungskreise für die RAF war ebenso
störend wie die Hilfe durch den Geheimdienst der DDR (Stasi).
Helmut Schmidt (1918-2015), ein von der SPD gestellter Kanzler, setzte den
NATO-Doppelbeschluss durch und die Installation von Mittelstrecken-Raketen (Pershing).
Es folgte 1989 der Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche
Wiedervereinigung. ‚Entweder kommt die DM zu uns oder wir gehen zu Ihr‘,
skandierten die Ostdeutschen. Der Umtausch der Ostmark erfolgte im Verhältnis 1:1
mit katastrophalen Folgen für die DDR-Wirtschaft. Den Franzosen zuliebe führte
Helmut Kohl den Euro ein. Der Bundestag wählte mit knapper Mehrheit Berlin zur
neuen Hauptstadt. Da die Hauptstadt von den süddeutschen Bundesländern mit
Milliardenbeträgen subventioniert wird, blüht sie auf. Touristen und
Unternehmensgründer fühlen sich angezogen.
Das Land östlich der Elbe verliert immer mehr Menschen. Eigentlich
möchte niemand dort leben. Anstatt DNVP und Nazis wählt man jetzt Linke und
AfD. Die Milliarden, die als Hilfe flossen, können daran nichts ändern. Es
fehle das Vertrauen in eine demokratische Zukunft. Die Staaten Osteuropas,
denen weniger Hilfe zufließt als der ehemaligen DDR, staunen nur. Warum hilft
ihnen denn niemand?
Nachgedanken zum Buch
Am Schluss des Buches wundert sich Hawes doch darüber, dass er mit
seinem Schema nicht alles erklären kann. Als er im Jahre 2017 sein Buch
abschließt, kandidiert ein katholischer Sozialdemokrat aus dem äußersten Westen
(Martin Schulz) gegen eine protestantische Pfarrerstochter aus dem Osten
(Angela Merkel).
Überhaupt fiel so Manches der Kürze zum Opfer. Wo bleiben Johann
Gottfried Herder (in Mohrungen geboren, später in Riga und Weimar tätig) und Immanuel Kant (aus Königsberg)? Was ist
mit den Gebrüdern Humboldt (aus Berlin)? Wer kennt nicht den Arzt Rudolf Virchow
(aus Hinterpommern)? Was ist mit Günter Grass (aus Danzig)? Ostelbien ist zweifellos
ein Teil Deutschlands, sowohl in der Geschichte wie auch heute. Ich halte es
sogar für einen sehr interessanten und wichtigen Teil.
Gerhard Schimpf aus Pforzheim schrieb: Der Begriff "Ostelbien" ist seit kurzem bei uns zu Hause in den Sprachschatz aufgenommen und erklärt bequem und historisch belegt, warum Chemnitz anders tickt als Karlruhe.
AntwortenLöschenKlaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb: Aber geht es nicht vielen so, dass sie Berlin etwas kritisch sehen, zumal Westberlin ja nicht gerade im wirtschaftlichen Fokus der Altbundesrepublik lag. Mit „Hauptstadt Berlin“ tue ich mich in der Aussprache immer noch etwas schwer, ganz im Gegensatz natürlich zu den früheren alten Kollegen in Jena.
AntwortenLöschen