Richard David Precht (*1964) ist
Deutschlands bekanntester, derzeit lebender Philosoph und Publizist. Mehrere seiner
Bücher sind Bestseller, er fehlt in keiner Talkshow. Wer ihn einmal gesehen
hat, wird ihn kaum mehr vergessen. Er trägt mit Abstand die längsten Haare. Er
stammt aus Solingen und ist an der Universität Lüneburg und an der Hochschule
für Musik in Berlin tätig. Sein neuestes Buch heißt Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft (2018,
288 S). Der Titel ist aus einem Zitat aus dem Buch Die Klassenlose Gesellschaft von Karl Marx und Friedrich Engels aus
dem Jahre 1845 abgeleitet.
Utopien
und Dystopien
Eine Utopie ist eine meist positive Beschreibung einer fiktiven
Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle
Rahmenbedingungen gebunden ist. Der Wortstamm wird von dem griechischen Wort tópos
für „Ort“ gebildet. Dagegen bezeichnet die Dystopie ein pessimistisches Zukunftsbild, das
auf bedenklichen Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam macht und vor deren
Folgen warnt. Die Weltliteratur ist voll von utopischen Romanen und Erzählungen,
beginnend mit Thomas Moores Utopia von
1516 bis zu Stefan Andres‘ Wir sind
Utopia von 1942. Eine bekannte Dystopie ist George Orwells 1984, verfasst im Jahre 1948.
Obwohl
Precht sein Buch im Untertitel als Utopie ankündigt, ist es in Wirklichkeit
eine Dystopie. Nur ganz am Schluss gesteht er ein, dass er es eigentlich anders
gemeint hatte. ‚Der Nährboden für den Pessimismus ist gut und reichhaltig
gedüngt [auch von ihm]. Doch wenn alle Pessimisten sind, darf man sicher sein,
dass am Ende die Dystopie steht, weil niemand sich bemüht, den Lauf der Welt
zum Besseren zu wenden. … Während der Optimist Mut braucht, kann es sich der
Pessimist in seiner Feigheit bequem machen. … Pessimismus ist [jedoch] keine
Lösung!‘
Kurze Wirtschaftsgeschichte
In der
Gesellschaftskunde, auch Soziologie genannt, durchlief die Geschichte der
Menschheit mehrere Phasen. Nach dem paradiesischen Zustand der Sammler und
Jäger kamen im vorderen Orient Gruppen von Menschen auf die Idee, Tiere zu
züchten und Nahrungsfrüchte anzubauen. In Europa, in großen Teilen Asiens, im
nördlichen Afrika und in Mittel- und Südamerika wurde der sesshafte Bauer
kulturbestimmend. Im viktorianischen England entsprang irgendwann etwas Neues,
nämlich die Erzeugung von Energie und die Fertigung von Textilien mit industriellen
Methoden, also mittels Maschinen. Das zog fast alle auf ihre Lohnarbeit
angewiesen Kräfte aus der Landwirtschaft ab in die angeblich viel besseren Arbeitsverhältnisse
in der Industrie. Die Arbeiter ordnen sich dem die Maschinen und Materialien
besitzenden Unternehmer unter. Der Manchester-Kapitalismus war geboren.
Wie von
Marx und Engels diagnostiziert, führte dieser zur Entfremdung und zu Klassenkämpfen.
Gleichzeitig sagten sie seinen Untergang voraus, lagen dabei aber falsch. Der Gedanke
des Privateigentums und die dezentrale Planung bewirkten, dass der Kapitalismus
überleben konnte. Besonders in Westdeutschland bewährte sich der sogenannte
Rheinische Kapitalismus. Hier wurde zum Beispiel die Mitbestimmung erfunden.
Automation
und Digitalisierung
In den
letzten 20 Jahren sehen Publizisten eine neue Form der Wirtschaft entstehen,
die auf Automation und Digitalisierung basiert. Wie bei den oben beschriebenen
Umbrüchen werden alte Tätigkeiten durch neue ersetzt. Wurden einst Landarbeiter
zu Fabrikarbeitern, so werden jetzt Lohnempfänger zu Kleinunternehmern. Die Wertschöpfung,
aber besonders die Güterverteilung erfolgt immer mehr ohne Mittelsmänner. Es
wird dezentralisiert, viele Prozesse laufen schneller und effizienter. Es
werden Unternehmen und Lebensweisen infrage gestellt. Berufe entfallen ober
werden in ihrer Bedeutung verändert. Startups werden zu globalen Firmen
innerhalb weniger Jahre.
Die Digitalisierung
stelle einen Anschlag auf die Freiheit des Individuums dar, so diagnostiziert Precht. Unsere Politiker fühlten
sich nicht dazu berufen, neue Strategien zu entwerfen. Sie hätten Angst vor den
Anwälten der GAFA (siehe unten). Anstatt Stress und Beschäftigungsangst müsse die Digitalisierung
bei den Nutzern auch positive Wirkungen hervorrufen. Vor allem müsse sie entschleunigen.
Sie müsse zu einer Kultur der Achtsamkeit führen, zu langfristigem Denken.
Kapitalistische
Dystopie
Die
Automatisierung wird zwar sehr stark von der deutschen Industrie getragen, etwa
in Form des Einsatzes von Robotern. Bei der Digitalisierung geht der stärkere
Impuls eindeutig von Kalifornien aus. Das Silicon Valley hat in den letzten 10
Jahren vier Firmen hervorgebracht, die hier die Spitzen darstellen. Ihre Namen
als Großbuchstaben abgekürzt, symbolisieren die neue Wirtschaftsmacht der Welt:
GAFA für Google, Apple, Facebook und Amazon. [Andere Autoren rechnen auch
Microsoft (wie Amazon aus Seattle) hinzu, und sprechen dann von GAFAM]. Nach
der nahe gelegenen Universitätstadt Stanford wurde die neue Wirtschaftsform
gleich zum Palo-Alto-Kapitalismus umgedeutet. Dass inzwischen auch drei
chinesische Firmen zur Spitze aufgeschlossen haben, ändert nichts an der Terminologie. Zu
GAFA gesellt sich halt BAT (Baidu, Alibaba, Tencent). Weitere Mitspieler
erwartet man aus Russland.
Die
Bedrohung, die Precht und andere Autoren sehen, ergibt sich aus einer
vermuteten Mesallianz der besagten Internetkonzerne mit den Geheimdiensten
ihrer Länder. Die Freiheit aller ist dann in Gefahr. Wir alle werden dann
manipuliert, da die benutzten Algorithmen einen besser kennen als man selbst. Orwells
1984 lässt grüßen. Außerdem werden
viele menschliche Fähigkeiten rückentwickelt, so zum Beispiel das Autofahren.
Schließlich übernehmen die Transhumanisten und reden uns die Singularität ein.
Prechts Sorge drückt er so aus: ‚Techniker haben Menschen noch nie verstanden,
warum sollten wir ihnen daher alles überlassen?‘
Sozialistisch
verbrämte Utopie
Wenn Maschinen
immer mehr Arbeit übernehmen − was nicht zu leugnen ist − entstünde eine Welt
ohne Lohnarbeit. Das hat Karl Marx‘ Schwiegersohn Paul Lafargue (1842-1911)
bereits beschäftigt, aber auch den Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900).
Sie plädierten einst für ein Recht auf Faulheit. Auch die inzwischen
untergegangene Piratenpartei dachte in diese Richtung. Bei 400 Mrd. € vererbtem
Vermögen sei das Wort Leistungsgesellschaft für Deutschland nur noch ein Euphemismus,
eine Beschönigung.
Wir
müssten endlich dahin kommen, Bildung nicht nur als Befähigung für den Arbeitsmarkt
zu verstehen, sondern als Befähigung, um seinem Leben Sinn zu geben. Wir müssten
wieder zur ,Vita contemplativa‘ des griechischen Mannes kommen, wo bekanntlich
Frauen und Sklaven die Arbeit machten. Die Lösung heißt Bedingungsloses
Grundeinkommen (BGE). Precht schätzt, dass dies mindestens 1500 € pro Monat sein müssen. Es muss höher liegen als Hartz IV inkl. Mietzuschuss. Das sind nämlich 950 bis 1200 €, je nach
Stadt. Nur wenige Leute seien dagegen, so der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge (*1951) und der linke
Politiker Gregor Gysi
(*1948). Für den einen sei es nicht bezahlbar, der andere möchte es nicht auch an
Vermögensmillionäre geben.
Da er
immer wieder gefragt würde, wo denn das Geld herkommen solle, schlägt er jetzt
dafür eine CO2-Steuer und die Finanztransaktionssteuer vor. Das
müsse reichen, meint er. Bezahlen sollten auf jeden Fall die Leute, die eh zu viel
Geld haben und damit an der Börse spielen. Die Möglichkeit Kryptowährungen wie
Bitcoin zur Finanzierung heranzuziehen, schließt Precht aus ökologischen
Gründen aus. Bitcoin allein verbrauche bereits so viel Strom wie das EU-Land Dänemark.
Wem das
BGE zu wenig ist, soll halt eine private Zusatzrente abschließen. Endlich gäbe
es dann eine angstfreie Arbeitskultur. Selbst Kloputzen würde ordentlich
bezahlt werden. Es sei keine Frage, ob das BGE kommt, es sei nur eine Frage
wann. Wenn es demnächst mehr als fünf Millionen Arbeitslose gibt, sei die Zeit
reif.
Gutes
und schlechtes Verhalten
Entscheidend
für alle wirtschaftlichen Überlegungen sei das zugrunde liegende Menschenbild. Dass
der Mensch sich selbst verwirklichen muss, ist vielen Menschen noch gar nicht
eingefallen. Über lebenslanges Lernen zu reden, sei meist zynisch (!). Der Trend
gehe ohnehin von einer guten Beschäftigung zum schlechten Job. Der Anteil
selbständig, aber prekär Beschäftigter steige an (Stichwort: Gig economy).
Am
glücklichsten seien Norweger vor Dänen, Isländern und Schweizern. Die USA seien
auf Position 14, Deutschland 16, Singapur 39 und China 79 (Quelle: World
Happiness Report). Dass Glück mehr ist als nur Wohlstand, das sei offensichtlich,
sogar für Amerikaner.
Man
sollte nicht immer mehr Geld in MINT-Ausbildung stecken, sondern mehr Wert auf Empathie-Berufe
legen wie Ökobauer, Sozialarbeiter und Musiker. Anstatt für Noten sollte man für
intrinsische Werte lernen. Auf die Herzensbildung käme es an. Das Internet
vernichte urbanes Leben. Es müsse nicht alles perfekt sein. Vor allem sollte
man nicht die Leute ruinieren, die von der Seele etwas verstehen, nämlich
Geistliche und Künstler. Schon Robert Musil (1880-1942) habe gesagt,
logisches Denken schadet der Seele.
Probleme
und Lösungen
Alle
reden von Lösungen, nur Philosophen und Künstler nicht. Einige Probleme gibt
Precht schon zu, die nicht von der Digitalisierung verursacht wurden. Dass es
in Deutschland im Jahre 2017 über 3.000 Verkehrstote gab und über 400.000
Verletzte im Straßenverkehr, sollten wir nicht einfach hinnehmen. Ihnen standen
337 Morde gegenüber. Hierzu müssen auch technische Lösungen gesucht werden. In
der von der EU verabschiedeten neuen Datenschutzverordnung (DSGVO) sieht er einen ersten Schritt zur Eindämmung
der GAFAs.
Die
Künstliche Intelligenz (KI) und das Internet der Dinge (IoT) könnten zu neuen
Geschäftsmodellen führen, auch für Europäer. Wenn wir dank des Einsatzes von
Robotern wieder Fertigungsaufgaben zurück nach Deutschland verlagern, kann dies
in Asien und Osteuropa Ängste verursachen und eventuell neue Migrationsströme
auslösen. Es sei denn, dass neue Aufgaben oder Geschäfte hinzukommen. Die
Vorstellung, dass es ein fest vorgegebener Kuchen ist, der immer nur
neuaufgeteilt wird, scheint auch bei Precht vorzuherrschen. Selbst wenn es Precht (und
vielen linken Publizisten) entgangen zu sein scheint, ist dies aber
glücklicherweise nicht der Fall.
Schließlich
hätten Politiker die Aufgabe, das Menschenbild der Aufklärung zu retten gegen
Algorithmen und Maschinen. Der Staat müsse eine Grundversorgung anbieten.
Außerdem seien Open-Source-Projekte erforderlich, die der Wiederbelebung einer Almende-Wirtschaft
dienen. So und ähnlich träumen heute viele. Lassen wir sie doch weiterträumen!
Ich habe Schwierigkeiten zu erkennen, dass ein einziger von der Digitalisierung überflüssig gemachter Beruf es verdient, erhalten und durchgepäppelt zu werden.
AntwortenLöschenDass dieser Beitrag sehr viele Leser fand, wundert mich kaum. Keiner von ihnen fand es jedoch cool, einen Kommentar zu schreiben. Vielleicht befinden sich alle im geistigen Ruhestand, dem Nirvana.
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