Nicht nur Europa macht sich derzeit große Sorgen, ob sich das erreichte
geistige und wirtschaftliche Niveau aufrechterhalten lässt. Oft trifft man auf
Leute, für die hat die Geschichte der Menschheit nur eine Interpretation, es
geht immer aufwärts. Je nach dem Maßstab, den man verwendet, mag dies auch
zutreffen. Rechnet man weit genug zurück, so gab es nur primitivere Formen des
Lebens. Das betrifft nicht nur den Menschen, sondern jede Form des Lebens,
angefangen bei den Einzellern. Für Darwin war dies ein Teil seiner Erkenntnis. Bei
den kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen der Menschheit ist jedoch eine
lineare Weiterentwicklung nicht so klar erkennbar.
Zeit vor der Völkerwanderung
Als Rheinländer wird man fast täglich daran erinnert, dass es
schon mal eine Kultur- und Wirtschaftsstufe gab, die das was wir heute haben,
in mancher Hinsicht übertraf. Im Eifeldorf Otrang wurde z.B. ein Bauerngehöft aus
der Römerzeit wiederentdeckt, dessen Wohnkomplex mehr als 60 Zimmer umfasste. Die
von Pferden gezogenen Ackergeräte sahen genauso aus wie einige heutige Geräte. In
Köln und Trier gab es damals Unterflurheizung und warme und kalte Bäder in
jedem ordentlichen Haus. Körperpflege und Kosmetik, Kleidung und Schmuck hatten
einen hohen Stellenwert.
Dieser materiellen Seite der Kultur stand die immaterielle Seite
nicht nach. Viele Leute konnten Lesen und Schreiben, und zwar in einer
Sprache, die man in London und Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, gleichermaßen
verstand. Man aß Austern aus Arcachon und trank Wein von der Rhone. In der Trierer Palastschule lasen Schüler aus Algerien und Dalmatien die Schriften des Euklid,
des Vergil und des Ovid. Die Erziehung der kaiserlichen Erben oblag einem
Hauslehrer namens Ausonius aus
Bordeaux, der auch dichtete. In der Trierer Pferderennbahn gewann der aus
Griechenland stammende, jugendliche Polydus mehrere Wagenrennen und wurde im
Mosaikfußboden eines Bürgerhauses in Siegerpose verewigt.
Germanen des Tacitus
Der römische Schriftsteller Tacitus (58-102 nach Chr.) bezeichnete
alle Leute rechts des Rheins als Germanen. Sie lebten in dörflichen
Gemeinschaften mit sehr sporadischen Kontakten nach außen. Die Männer betrieben
Fischfang und Jagd, die Frauen kümmerten sich um Gärten und Felder. Die Schaf-
oder Hühnerzucht oblag beiden. Das Römerland westlich des Rheins wirkte wie ein
Magnet, besonders für die Ubier, die Vorfahren der Kölner. Sie migrierten einzeln
oder in Gruppen über den Rhein, suchten und fanden Arbeit in Haushalten oder
betrieben Handel. Einer, der zur Bekämpfung und Vertreibung der Römer aufrief,
war Armin, der Sohn eines Cheruskerfürsten, der in Rom erzogen worden war. Er
organisierte im Jahre 9 nach Chr. den Überfall auf eine römische Legion beim
Zug durch den Teutoburger Wald.
Franken Chlodwigs
Ab dem Ende des vierten Jahrhunderts wanderten große
Familienstämme vom Niederrhein über das heutige Belgien Richtung Westen. Ihr bekanntester
Anführer hieß Chlodwig. Er übernahm römische Verwaltungsfunktionen, nannte sich
König (lat.: rex) und residierte in
Soissons. Nachdem er seine innerfränkische Konkurrenz brutal beseitigt hatte,
verlegte er seine Residenz ins Pariser Becken (frz. Ile de France). Sofern andere Stammesgruppen ihnen den
Siedlungsraum streitig machten, wurden sie bekämpft und meist besiegt, so die
Alemannen um 496 bei Zülpich. Erst nach dieser Schlacht ließ sich Chlodwig,
gleichzeitig mit 4000 Getreuen, in Reims zum Christen taufen. Der Bischof
Remigius, der die Taufe vollzog, vertrat die von Rom und Konstantinopel offiziell
adoptierte Version des Christentums. Sie war 325 im Konzil von Nizäa als
Staatsreligion festgelegt worden. Chlodwig starb im Jahre 511. Das Frankenreich
wurde auf vier Söhne aufgeteilt. Childebert bekam Paris.
Die Gefolgsleute der fränkischen Eroberer bildeten eine Waffen
tragende Oberschicht. Sie beschränkten sich auf Ackerbau und Viehzucht. Die
früher hier lebenden keltischen Bewohner wie die Treverer wurden in Flusstäler und auf weniger
ertragreiches Ackerland zurückgedrängt. Städtische Zentren blieben intakt,
wurden aber von dem ländlichen Hinterland getrennt. Sie verloren rasch an
Bevölkerung.
Goten als Sprach- und Siedlergemeinschaft
Die Goten traten ins Blickfeld der antiken Welt, als sie
vorübergehend in Südrussland gesiedelt hatten. Sie sollen ursprünglich in
Schweden gewohnt haben. Die Insel Gotland und die Stadt Gotenburg erinnern
heute noch an sie. Zwei Familienverbände hatten sich gebildet, die Balthen und
die Amaler, denen sich die Auswanderer zuordneten. Später wurden daraus die
West- und die Ostgoten.
Vom römischen Kaiser Konstantin I. übernahmen sie das Christentum
in der Form des Arianismus. Nach
Meinung des Theologen Arius (ca. 260–327 n. Chr.) aus Alexandrien sei Gott
ungeworden und ungezeugt, anfangslos und ewig, unwandelbar und transzedent. Jesus
dagegen sei geschaffen und damit nicht göttlich, nicht wesensgleich mit Gott.
Zudem habe nur ein Mensch leidend am Kreuz sterben können, kein Gott. Im Konzil
von Nizäa wurde der Arianismus 325 zur Irrlehre erklärt und durch die noch
heute gültige Trinitätslehre ersetzt. Die Goten behielten den Arianismus (in der Form des Homöismus) bei. Ebenso taten dies die Burgunder, die Gepiden,
Langobarden und die Vandalen.
Als einzige der im damaligen Europa umherziehenden Siedlergruppen
besaßen die Goten eine Schrift und eine Literatur. Ihr Schöpfer war Bischof Wulfila
(311-388). Er lebte in Nicopolis in der Provinz Moesia (im heutigen Bulgarien) und
gilt als Verfasser einer umfassenden Bibelübersetzung aus dem Griechischen ins
Gotische. Erhalten ist davon nur der Teil des Neuen Testaments. Als
Illustration der gotischen Sprache wird immer das Vaterunser-Gebet zitiert. Es
sei hier wiedergegeben.
atta
unsar thu ïn himinam
weihnai
namo thein
qimai
thiudinassus theins
wairthai
wilja theins
swe
ïn himina jah ana airthai
hlaif
unsarana thana sinteinan gif uns himma daga
jah
aflet uns thatei skulans sijaima
swaswe
jah weis afletam thaim skulam unsaraim
jah
ni briggais uns ïn fraistubnjai
ak
lausei uns af thamma ubilin
(Hochdeutsch um 1950: Vater unser, der du bist im Himmel,
geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im
Himmel, also auch auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns
unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern, Und führe uns nicht in
Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel)
Wulfilas Schreibweise ist ans Griechische angelehnt. Wie das
Gotische gesprochen wurde, ist nicht überliefert. Die Wulfila-Bibel ist das
älteste schriftliche Zeugnis eines größeren Textes in einer germanischen
Sprache. Ansonsten besitzen wir lediglich fragmentarische Runeninschriften.
Wanderzüge durch Europa
Zunächst zogen die Goten zusammen durch Westeuropa. Sie plünderten
410 die Stadt Rom. Ihr Anführer Alarich I. starb in Süditalien. August Graf von
Platen dichtete über ein sagenhaftes Grab in Kalabrien: ‚Nächtlich am Busento
lispeln bei Consenza dumpfe Lieder‘. Als Alarich II. in Richtung Gallien
weiterzog, gingen nur die Westgoten mit ihm. Sie besetzten Aquitanien und
machten Toulouse zu ihrer Hauptstadt. Später wurden sie von den Franken unter Chlodwig
über die Pyrenäen gedrängt. Toledo wurde die neue Hauptstadt. Die Ostgoten zog
es nach Osten zurück.
Als Attila und seine Hunnen um 450 über Köln nach Orleans zogen, begleiteten
sie Gepiden und Ostgoten. Bei der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern
kämpften 451 auf der Gegenseite Alanen, Burgunder, Franken und Westgoten unter
dem Kommando des römischen Feldherrn Aetius. Die Schlacht ging unentschieden
aus, aber Attila (das Väterchen) war so geschwächt, dass er sich zurückzog.
Mit Theoderich in Ravenna
Die Hunnen hatten inzwischen das frühere Siedlungsgebiet der Goten
in Pannonien (im heutigen Ungarn) übernommen, so dass diese in den heute serbischen
Teil des Donauraums auswichen. Zum Anführer erkoren sie Theoderich (453-526),
der vom siebten bis zum 17. Lebensjahr als Geisel am kaiserlichen Hofe in
Konstantinopel, dem früheren Byzanz, gelebt hatte. Außer gotisch sprach er perfekt Latein und
Griechisch. Zunächst übernahm dieser für Kaiser Zenon in Konstantinopel die
Verwaltung der Provinz Thrakien mit der Hauptstadt Thessaloniki. Anschließend
ließ er sich den Auftrag geben, nach Italien zu ziehen und den dort wirkenden
Odovaker zur Raison zu bringen.
Im Jahre 488 zog Theoderich mit rund 100.000 Gefolgsleuten
Richtung Italien, darunter waren 20.000 Reiter. Die entscheidende Schlacht war am
Isonzo. Im Jahre 493 war der Auftrag erledigt, als Odovakar persönlich von
Theoderich nach dessen Einzug in Ravenna ermordet worden war. Odovakar, ein im römischen Heer aufgestiegener Thüringer, hatte
476 den letzten Vertreter des römischen Kaisertums, den noch kindhaften Romulus
in die Verbannung geschickt. Die Ermordung des Odovakars geschah angeblich aus
Rache für den Mord an Anhängern oder Verwandten des Theoderich. Ein König der
Goten musste solche Geschäfte damals persönlich erledigen können. Die
Byzantiner beauftragten damit andere.
Anschließend gründete der starke Mann der Goten den römischen
Staat neu. Dabei verband er Kulturen und Religionen (katholisch, arianisch und
jüdisch). Er setzte römische Experten ein, wo nötig, besonders bei der Fiskal-Verwaltung,
Seine gotischen Gefährten übernahmen alle militärischen Funktionen. Sie waren
zuständig für die externe wie interne Sicherheit. Zur ihrer ökonomischen
Absicherung dienten Landgüter, die in Abwesenheit der Männer von Frauen und
Gesinde bearbeitet wurden.
Aufgrund seiner Erziehung am Hofe war Theoderich mit den dort
herrschenden Gepflogenheiten bestens vertraut. Er machte davon gezielt
Gebrauch, sei es in der Organisation, der Korrespondenz oder den
Handelsbeziehungen. In Cassiodor hatte er einen erfahrenen und versierten
Umsetzer und Organisator. Dem Senat in Rom erwies er die gebührende Reverenz,
ebenso dem Papst. Ennodius, der Bischof von Pavia, verfasste ein Lobpreisung (Panegyricus)
auf ihn. Theoderich regierte 33 Jahre lang und wurde als tolerant beurteilt. Er
hat nie versucht, für den arianischen Glauben zu missionieren. Selbst in
Ravenna bildeten die Arianer eine Minderheit gegenüber den Katholiken. Im Jahre
561 wurde ihr Vermögen durch Kaiser Justinian an die katholische Kirche
übertragen.
Das damalige Römische Reich war außerstande große Gruppen
bewaffneter Einwanderer zu integrieren. Stattdessen konnte es Steuern
eintreiben und Posten vergeben. Die Goten sollten das Land verteidigen, die Römer
Steuern zahlen. Eine Durchmischung war nicht vorgesehen. Theoderich wurde von den
Römern akzeptiert, weil er deren althergebrachten Vorteile schützte. Von Goten wurde
er geachtet wegen seiner Abstammung und seiner Leistung.
Theoderich war bemüht, über Italien hinaus die politische Lage zu
beeinflussen und zu stabilisieren. Deshalb hatte er Audefleda zur Frau genommen,
eine Schwester des Frankenkönigs Chlodwig. Sigismund von Burgund heiratete Ostrogotho,
eine Tochter Theoderichs, und der Vandale Thrasamund erhielt Amalafrieda, eine Schwester
Theoderichs. Außerdem versuchte er zwischen Alarich II. und Chlodwig zu vermitteln.
Trotzdem kam es im Jahre 507 zwischen Westgoten und Franken zur Schlacht von
Vouillé (bei Poitiers), in der Alarich II. getötet wurde. Ab 511 bis zu seinem
Tode wurde Theoderich auch König der Westgoten. Burgund verlor die Provence an
Theoderich, der damit auf einen Schlag insgesamt 29 Städte mit Bauten aus der Römerzeit gewann,
so z.B. Marseille und Arles. Theoderich besaß damit ein zusammenhängendes mediterranes
Großreich. Seine Erben konnte dieses
Gefüge jedoch nicht lange verteidigen.
Waren die Goten Germanen?
Während der Völkerwanderungszeit waren die Goten die aktivste und größte Bevölkerungsgruppe in ganz Europa. Sie
beherrschten den Balkan, den italienischen Stiefel und die iberische Halbinsel.
Sie selbst sahen sich nicht als Germanen an. Das waren für sie die Franken, ihre
vielleicht mächtigsten Gegenspieler. Sprachlich sowie konfessionell bildeten
die Goten eine Einheit mit Gepiden und Vandalen.
Als Germanen sieht man heute vor allem eine Sprachfamilie, und
zwar diejenige, die die erste
Lautverschiebung aufweist. Diese erfolgte um 500 vor Chr. Sie trennt die
germanischen Sprachen vom Griechischen und Lateinischen. Aus lat. pater wurde father und aus griech. kion Hund. Bis zur zweiten
Lautverschiebung um 700 nach Chr. konnte man sich gegenseitig verstehen. Wie
die Wulfila-Bibel beweist, hat das Gotische Gemeinsamkeiten mit germanischen
Sprachen.
Untergang der West- und Ostgoten
Im Jahre 712 fielen die Araber über die Meerenge von Gibraltar in Spanien ein. Sie zerstörten das
Westgotische Reich. Ihr Angriff auf das Frankenreich wurde 732 von Karl Martell
bei Tours und Poitiers zurückgeschlagen. Als letzter Germanenstamm tauchten die
Langobarden zunächst östlich von Wien auf. Um 730 setzten sie sich in Italien
fest. Als sie den Kirchstaat bedrohten, suchte der Papst Hilfe bei den Franken. Eine über Jahrhunderte währende Kooperation begann.
Franken Karls des Großen
Der siebenjährige Karl, den man später den Großen nennen wird, war
755 mit seinem Vater in der Abteikirche von Saint Germain des Prés, als die
sterblichen Reste des 200 Jahre zuvor verstorbenen Hl. Germanus nach dort
überführt wurden. Durch dieses Ereignis wurde Karls Geburtsjahr für
die Geschichtsforschung eindeutig bestimmt. An Karls Motto seiner späteren Jahre sei kurz erinnert: Es sei wichtiger das Schwert führen als
Lesen und Schreiben zu können.
Formell erfolgte die Wiedergeburt des Römischen Reiches
Weihnachten 800 durch die Krönung Karls zum Römischen Kaiser. Karolingische
Renaissance ist der Fachbegriff, der darauf hindeutet, dass man Altes zu
schätzen begann. Es war der Leiter seiner Hofschule, der mit Anweisungen an den
Klerus dafür sorgte, dass wieder richtiges Latein gesprochen und die alten
Texte wieder gelesen wurden. Gemeint ist Alchwin
von York (735-804), dem auch ein Beitrag dieses Blogs gewidmet ist. Da die
von Aachen ausgelöste Wiederbesinnung auf das Alte nicht umfassend war, gab es
eine nochmalige Renaissance
rund 600-700 Jahre später. Sie umfasste vor allem Italien und bezog sich primär
auf Architektur und Malerei, aber auch auf Philosophie und Literatur. Sie läutete
die Neuzeit ein.
NB: Als Quelle für die obige Information über die Goten diente vorwiegend das Buch Theoderich der Große von Hans-Ulrich Wiemer (2018, 782 Seiten).
Peter Hiemann schrieb: Hier meine Reaktion zu Ihrem Beitrag:
AntwortenLöschenDas Reichsschwert Karls des Großen trägt die lateinische Inschrift:
„BENEDICTVS · DO[minv]S DE[v]S QVI DOCET MANV[s]+“
„Gepriesen [sei mein] Herr [und] Gott, der [meine] Hände [kämpfen] lehrt.“
Der Klerus der Katholiken, vermutlich auch für die Anführer anderer Weltreligionen, agieren nach diese Devise auch heute. Für die Gläubigen und Ungläubigen dieser Welt gleichermaßen gilt auch die Devise: Gepriesen seien die Erfolgreichen, die uns lehren, dass man auch ohne unserer Hände Mühen gewinnen kann.
In einer gestrigen TV-Sendung wurde daran erinnert, dass zumindest ein Germanenstamm der Völkerwanderungszeit sich an die römische Kultur und Lebensweise anpasste. Das waren die Vandalen im heutigen Tunis. Da sie 455 von Afrika aus Rom plünderten, entstand der Begriff des Vandalismus. Erst 546 räumte Kaiser Justinian I. mit ihnen auf.
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