Montag, 20. April 2020

Politik außerhalb von Corona – Sigmar Gabriels Schwanengesang auf eine wenig bedeutsame Politik und eine notleidende Partei

Mehr Mut: Aufbruch in ein neues Jahrzehnt. So heißt das Buch, mit dem sich der frühere SPD-Vorsitzende kurz vor der Corona-Zeit zu Wort meldete (2020, 336 Seiten). Die Aufforderung des Titels ist offensichtlich an die früheren Wähler der SPD gerichtet. Beklagt wird in dem Buch das Schicksal einer Partei, die es schon vor der Corona-Krise nicht leicht hatte, ihre Anhänger zu mobilisieren. Ich befürchte, dass die inzwischen eingetretene Krise die Dinge nur noch schwieriger machte.  Obwohl es mir nicht leicht fiel, habe ich das Buch nach Ausbruch der Krise − die sich bei uns vielleicht auf Mitte Februar festlegen lässt – zu Ende gelesen. Es wäre schade, wenn wegen der Corona-Krise Sigmar Gabriels Gedanken keinerlei Beachtung mehr fänden.

Besorgnis erregende Szenenbilder

Gabriel besitzt eine ältere Tochter aus seiner ersten Ehe und zwei jüngere Töchter aus seiner zweiten Ehe. Angeblich macht er sich Sorgen um die Zukunft der letzteren. Deutschland sei natürlich zu klein, um eine eigene Stimme in der Welt zu haben. Europa täte aber nicht genug, um eine gemeinsame Stimme zu bekommen. Man könne Europa mit der Stadt Venedig nach 1500 vergleichen. Vorher war es ein Zentrum der Welt, danach ist es ein Freilichtmuseum. Es ist bei Touristen aus Asien sehr beliebt.

Schlimme Stürme ziehen sich gerade zusammen (von Corona war wie gesagt noch nicht die Rede). Die USA unter Donald Trump schotten sich ab. Das Wahlvolk will die endlosen Kriege beenden (Afghanistan, Irak). Dabei verrät die derzeitige Regierung die liberale Ordnung, unter der Deutschland und Europa erblühten. Trump scheint zu vergessen, wer immer die Partner der USA waren. Russland und die Türkei versuchen sich als Regionalmächte zu etablieren. Nur China geht das Ganze auf der Basis einer langfristigen Strategie an. Das Schlagwort heißt Neue Seidenstraße. Europa hat keine andere Wahl, als China als neuen Partner zu sehen und zu akzeptieren. Für unsere Linke war dies ja schon immer die bevorzugte Lösung.

Erwartungen an und in Deutschland

Seit die USA sich zurückziehen, spricht man bei uns davon, mehr Verantwortung zu übernehmen. Es ist bisher allerdings beim Reden, also beim lauten Denken, geblieben. Niemand hat sich dazu aufgerafft, etwas zu tun. Der Westen verliert eindeutig an Einfluss im Nahen Osten. Russland und die Türkei sind die neuen Tonangeber. Was kann Europa tun? So fragt Gabriel und bietet provisorische Antworten an. Etwa die Straße von Hormuz sichern. Oder eine G-7-Plus-Gruppe bilden mit Europa, Kanada, Mexiko, Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland und eventuell Indien.

China sei der Gewinner des Welthandels, vor Südkorea. Länder mit hoher Wertschöpfung im Außenhandel seien Deutschland (84%), Frankreich (60%), USA (37%) und Japan (31%). Bei Waren und Dienstleistungen sind die USA und China Konkurrenten, bei Daten und Informationen jedoch Feinde. Der Testfall heißt Huawei. Huawei vertreibt das Betriebssystem Harmony als Konkurrenz zu Android von Google. Wir machen subtile Zugeständnisse wegen unseres Exports nach China.

Das Gegenangebot für Afrika für die Neue Seidenstraße muss von Europa und den USA kommen. Die tun es aber nicht. Der Westen misstraut China und pocht auf Kapitalismus und Demokratie. Asiatische Länder neigen dazu, sich mit China zu arrangieren. In Deutschland nutzen die Hälfte aller Firmen Amazons Cloud (AWS). In Asien sind Tencent und Alibaba mindestens so beliebt.

Zerklüftete Welt

Seit dem Sieg des Kapitalismus findet eine Fragmentierung und Zerklüftung der Welt statt. Jeder möchte etwas Besonderes sein, sich global unterscheiden. Der Soziologe  Andreas Reckwitz (*1970) nennt dies Singularitäten [Man beachte, dass das Wort eine Neubelegung erfährt, eine andere als einst bei Ray Kurzweil]. 

Wir wären heute froh, wenn wir uns gegen Trump mit Hilfe des TTIP-Abkommens wehren könnten. Die weltweiten Trends sind weiterhin Digitalisierung, Demografie. Klima und Migration. Die deutsche Wirtschaft enttäuschte wegen des Dieselskandals. Obwohl Horst Seehofer 2015 für eine zahlenmäßige Begrenzung der Zuwanderung argumentierte, hatten auch SPD-Wähler Angst vor Migranten. Der Höhenflug der Grünen und die anhaltende hohe Zustimmung für die AfD gehen zu Lasten der Sozialdemokraten. Wie Greta Thunberg uns klarmacht, können Klima, Artenvielfalt und Meeresschutz nur international angegangen werden. Es ist sicherlich so, dass die EU mehr für eine CO2-Reduzierung tun kann als Deutschland allein. Nur ist das Denken ‚My Country First‘ allgemein auf dem Vormarsch. Vor allem China baut weiter Kohlekraftwerke.

Europas Rolle

Emmanuel Macrons Satz, dass die NATO hirntot sei, beunruhigte Polen und Balten mit Recht. Kennedys Ausruf ‚Ich bin ein Berliner‘ wirkte damals völlig anders. Da sprach ein Freund, auf den man sich verlassen konnte.

Andere osteuropäische Staaten wie Bulgarien und Rumänien verlieren jedes Jahr Millionen Junge Menschen an Westeuropa. Sie möchten keine Araber (etwa Syrer oder Afghanen) als Ersatz. Aus ihrer Sicht benötigt Europa keine stärkere Integration. Gut wäre es, wenn wir den Krieg im Donbas beenden könnten. Auch sollte man weniger Gas aus Russland kaufen. Vielleicht sollte Europa Kanada aufnehmen. Das wäre wichtiger als Albanien und Nordmazedonien aufzupäppeln.

Aktuelle deutsche Politik

Dass Gabriel kein gutes Wort für aktuelle politische Entwicklungen übrig hat, überrascht nicht. Lediglich der Stil der Kritik ist sehr hart. Die deutsche Politik sei haarsträubend und zukunftsvergessen – meint er. In allem sei sie zu langsam. Er vermisse Planung, Entscheidung und Vollzug, und zwar in zügiger Folge. Das individuelle Einspruchsrecht würde übertrieben. Dass Norbert Walter-Borjans, sein Nachfolger im SPD-Vorsitz, ihm den Job beim Automobilverband VDA missgönnte, fand er nicht schön. Er bestraft ihn, und zwar durch Nicht-Nennung in seinem Buche. Dasselbe Schicksal muss die Ko-Vorsitzende Saskia Esken erleiden.

Angela Merkel führe das Land von hinten. Gerhard Schröder hätte es von vorne geführt. Die sozialen Netzwerke seien voll in der Hand von Spinnern. Bayern habe eine exzellente öffentliche Verwaltung. Das Gegenteil sei der Fall in der Stadt Berlin.

Unser Export geht zu 60% in die EU. Daher profitieren wir davon, wenn es den dortigen Empfängern gut geht. Deutschland muss in Straßen, Flughäfen, Telekommunikation und Schulen investieren. Wir müssen die Unternehmen und ihre Wertschöpfungsketten sichern. Wir brauchen bessere Schulabschlüsse und Zuwanderung von Fachkräften; niedrigere Unternehmenssteuern und die 100%e Abschaffung des Soli. Der Mindestlohn muss eine ausreichende Mindestrente ergeben. Das Drohen mit einer Vermögenssteuer sollte man unterlassen.

Sozialismus und Sozialstaat

Der Kapitalismus muss sozial dazulernen - oder er wird scheitern. Produktionsmittel zu verstaatlichen ist nationalstaatliches Denken des 19. Jahrhunderts. Der Sozialstaat muss die vorhandene Arbeit auf alle umverteilen, etwa bei der Digitalisierung, wo Plattformen ja keinen Lohn zahlen  Anstatt einige Leute 60 Stunden pro Woche arbeiten zu lassen, muss man die gesamte Arbeit anders aufteilen [Seltsamer, unausrottbarer Irrglaube].

Die SPD muss die Realität ins Zentrum stellen, nicht eine Utopie. Sie muss eine Idee über die Zukunft Deutschlands und Europas haben. Sie muss Sicherheit, Nachhaltigkeit und Internationalität umfassen. Wir müssen in Digitale Bildung investieren, in die Infrastruktur bei Bahn, Straßen, Energie, Rohstoffen und Daten. Zuletzt war der Sozialstaat in Gefahr zerstört zu werden, als in England Margret Thatcher das Sagen hatte und in Deutschland Hans-Olaf Henkel. Das Ziel muss eine freundliche Gesellschaft sein, die Respekt von Menschen untereinander fördert, sowie Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn. Jede politische Partei sollte für sich so leben, wie sie es für die Gesellschaft als Ganzes fordert [Die SPD scheint dies jedoch nicht zu beherzigen].

Ausblick und Einordung

Wir erleben derzeit einige schnelle Veränderungen, so z. B. das Verschwinden der Volksparteien und das Aufkommen der AfD. Die Verbrechen, die durch einige Flüchtlinge begangen wurden, hätten Vertrauen zerstört. Was wir jetzt bräuchten sei eine Agenda 2030 mit einem erklärendem Narrativ sowie Mut zu positiver Emotion.

Das Wort Schwanengesang hat seinen Ursprung in der griechischen Mythologie. Vor ihrem Tod sollen Schwäne mit trauriger, aber wunderschöner Stimme ein letztes Lied anstimmen. Im Falle Gabriels wird es – wenn mich nicht alles täuscht – wohl kaum das letzte Lied gewesen sein.

1 Kommentar:

  1. Seit Juni 2019 ist Sigmar Gabriel Vorsitzender des Vereins Atlantik-Brücke e.V. Sein Vorgänger war Friedrich Merz. Der Verein wurde im Jahr 1952 von Helmut Schmidt und Marion Gräfin Dönhoff gegründet. Er hat etwa 500 Mitglieder. Sein Ziel ist es, die politische, kuturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den USA und Deutschland zu fördern.

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