Sonntag, 6. September 2020

Wo 10-fache Verbesserungen möglich und/oder erstrebenswert sind

Frank Thelen (*1976) ist ein aus Bonn stammender Wagniskapitalgeber, der mit einem Buch für seine Ideen wirbt. Das Buch heißt 10xDNA: Das Mindset der Zukunft (2020, 255 Seiten). Mit dem Buch will er erklären, welche Technologien und vor allem welche Denkweisen in den kommenden Jahrzehnten zum wirtschaftlichen Erfolg führen. Thelen ist TV-Zuschauern bekannt, weil er dort bis vor kurzem eine populäre Sendung anbot.

Technologien mit 10x-Zukunft

In früheren Beiträgen dieses Blogs wurde über Technologien gesprochen, die eine besondere Bedeutung für die Zukunft haben werden. In dem Buch von Thelen geht es primär um solche Technologien, die das Potential eines 10x-Effekts haben. Gemeint ist ihre Wirkung auf Verarbeitungsleistung, Energieersparnis, Anschaffungskosten, Platzbedarf, Verlässlichkeit und Sicherheit. Traditioell gab man sich mit einer Verbesserung von 8-10% zufrieden, wenn man ein neues Verfahren einführte. Das sei konservatives Denken und immer seltener attraktiv und rentabel. Der Autor bemüht sich, komplex erscheinende Techniken für Laien verständlich zu erklären. So vergleicht er Quantencomputer mit einer Münze, die hoch geworfen wurde.

Die Münze (= das Qubit) befindet sich während des Flugs zwischen ‚Kopf‘ und ‚Zahl‘ und nimmt erst bei der Landung einen Wert ein. Solange verbleibt sie in der Superposition. Beim normalen Computer liegt die Münze (= der Transistor) nur auf ‚Kopf‘ oder auf ‚Zahl‘.“

Mit derselben Herangehensweise werden 3D-Drucker und Blockchain behandelt. Ob allein durch die Auflistung der Beispiele bereits ein „neues Mindset“ entsteht, ist fraglich. Hier hätte ich mehr erwartet als einen vagen Aufruf, „die Chancen neuer Technologien mutig und konsequent umzusetzen“, um auch in Zukunft erfolgreich zu bleiben. 

Vergangene Beispiele 

Diejenigen Technologien und Firmen, die Europa wirtschaftlich in den Hintergrund drängten, basierten auf einer 10x-Mentalität. Das galt für Apple und Google. Das neueste Beispiel ist Tesla. Diese Firma ist inzwischen mehr wert als VW und BMW zusammen. Es muss aber nicht die Technologie sein, die den Unterschied macht. Dass die vielen Videotheken verschwanden, lag daran, dass Netflix ein überlegenes Geschäftsmodell besaß. Die Hilfe durch die Technologie (Streaming) kam später. Amazon hat technologisch nichts Besonderes zu bieten, statt dessen gibt es 23 Kategorien von Service.

Konkrete Beispiele für die Zukunft

KI und Robotik: Die KI hat das Potential in sehr vielen Bereichen als großer Beschleuniger in Erscheinung zu treten. In Gastronomie und Pflege kann die Kombination mit Fortschritten in der Robotik eine Breitenwirkung auslösen. (Ein früherer Eintrag war diesem Anwendungsgebiet gewidmet) Eine sogenannte Starke KI hält man für unwahrscheinlich, stattdessen empfiehlt man mehr Kooperation mit schwacher KI.

Block Chain: Die Block Chain ermöglicht eine Sicherheit für Geldgeschäfte aller Art, wie sie uns bisher nicht möglich war. Sie erlaubt neue Unternehmensformen, so die Dezentrale Autonome Organisation (DAO).

3D-Drucker: Wir können uns kaum noch einen Baustoff vorstellen, der nicht von 3D-Druckern verarbeitet werden kann.  Begonnen hat es mit Kunststoff, Keramik, Metallen, aber auch Papier, es folgten Glas, Beton und Knochen. Neuere Experimente wagen sich an organisches, ja lebendes Material. Der große Vorteil ist, dass die Fertigung rein additiv ist. Es werden dadurch Materialkosten bis zu 90% gespart. Auch die Prozess- und Verarbeitungskosten fallen stetig. Es werden keine Werkzeuge mehr benötigt, die je nach Werkstück gewechselt werden müssen. Man kann verschiedene Materialien (Metall, Polymere) in einem Schritt verarbeiten. Dem gegenüber steht, dass es keine Mengenvorteile (engl.  economy of scale) mehr gibt. Im Buch enthalten sind Fotos von Wohnhäusern, die auf einem 3D-Drucker entstanden sind.

Bionik, Genetik und Medizintechnik: Bionik ist ein sogenanntes Kofferwort, gebildet aus Biologie und Technik. Gesucht werden Lösungen oder Prinzipien, die sich von der Biologie auf die Technik übertragen lassen. Ein Beispiel ist der von dem Schweizer Georges de Mestral nach dem Vorbild von Kletten erfundenen Klettverschluss.

Das CRISPR-Verfahren (engl: Clustered Regulary Interspaced Short Palidromic Repeats) gestattet es, Gene gezielt zu zerschneiden. Es wurde von LOCUS Biosciences entdeckt. Das Verfahren erlaubt es, dass Gene eingefügt, entfernt oder ausgeschaltet werden können. Wegen seiner einfachen Durchführung, der Skalierbarkeit hinsichtlich unterschiedlicher Zielsequenzen und der geringen Kosten wird die Methode zunehmend in der Forschung eingesetzt.

Von Endoprothesen spricht man beim Ersatz von Gelenken durch dauernd im Körper verbleibende Implantate. Am häufigsten sind in Deutschland die künstlichen Hüftgelenke. Sie sind bei uns um ein Vielfaches häufiger als in anderen Ländern. Ähnlich ist es bei künstlichen Kniegelenken. Die Anfertigung beider per 3D-Drucker ist naheliegend. Die für den menschlichen Körper per 3D-Drucker zu erzeugenden Ersatzteile müssen sich nicht auf Knochen beschränken. Zellen und Blutgefäße kommen ebenfalls in Frage.

Kernfusion als langfristige Energiequelle

Die Abhängigkeit von fossiler Energie wird noch eine Weile anhalten. Leider sind die Sonnen- und Windenergie nur sehr unstete Quellen. Langfristig bietet sich nur die Kernfusion als echte Lösung unseres Energieproblems an. Bei der Kernfusion liefert 1 g Wasserstoff die gleiche Energie wie 11 Tonnen Steinkohle oder 10.000 l Heizöl. Der Betrieb eines Fusionsmeilers benötigt eine Temperatur von 100 Mio. Grad Celsius. Das französische Projekt ITER soll 2025 in Betrieb gehen.

Neue Nahrungsmittel

Heute muss Fleisch nicht ausschließlich von Tieren stammen. Es kann auf der Basis von Erbsen, Reis oder Sonnenblumen mit gleicher Qualität hergestellt werden. Es gibt dies bereits als Whopper bei Burger King. Ausgezeichnete Salate können aus einem stillgelegten Bunker oder aus einem U-Bahn-Schacht stammen. Für die Aufzucht stehen spezielle LEDs zu Verfügung.

Neue Verkehrsmittel

Das nächste Jahrzehnt wird voller Disruptionen sein, besonders im Verkehrswesen. Von E-Autos reden alle, die selbstfahrenden LKWs der schwedischen Firma Einride beeindrucken die Experten. Endlich werden wir es schaffen, den Verkehr von der Straße weg zu bringen. Flugtaxis und Drohnen sind dafür die Lösung, gleich ob von Menschen gesteuert oder selbst-steuernd. Zu erwarten ist ein City-Airbus von der Firma Uber ab 2023. Er wird ein Senkrechtstarter im doppelten Sinne werden, im Gelände und an der Börse.

Beispiel Freigeist Capital

Was mit 10x-Denken möglich ist, zeigt Thelen anhand der Investitionen seiner Firma   Freigeist Capital. Sie unterstützt die folgenden europäischen Gründer

  • Lilium Aviation bietet einen Lufttaxi-Dienst an (hat bereits 500 Mitarbeiter),
  •  Hardt Hyperloop ermöglicht Transport mittels unterirdischer Röhren,
  •  Kraftblock ist ein Energiespeicher,
  • Neufund betreibt eine Blockchain,
  • Smartlane bietet KI-Lösungen für die Logistik,
  •  EnduroSat baut und startet Nanosatelliten,
  • Yfood liefert Mahlzeiten aus,
  •  Air up fügt Wasser Duftstoffe bei.

Beimessung von Werten 

Wenn immer wir uns für eine Sache engagieren, so sollte es sich vorzugsweise um Dinge mit Wert handeln. Es ist durchaus nicht trivial festzustellen oder festzulegen, wie Werte bemessen werden. Ein Wert existiert nicht an sich, sondern primär im Auge eines Betrachters. Dinge, die teuer sind in ihrer Herstellung, haben nicht immer einen hohen Wert. Ebenso gilt das Umgekehrte: Ein Gegenstand, der relativ leicht herzustelllen ist, kann teuer verkauft werden, also als wertvoll angesehen werden. 

Ein Stein oder ein Stück Holz, das von einem angesehenen Künstler bearbeitet wurde, steigt im Wert, auch dann, wenn die Bearbeitung innerhalb von nur 10 Minuten abgeschlossen war. Einer Firma wie Apple gelingt es, Telefone, für die andere Lieferanten weniger als 70 Euro nehmen, für mehr als 700 Euro zu verkaufen. Sie bringen ihren Ruf, den sie anderswo erorben haben, mit zur Geltung.

Fast als skandalös ist das Verhalten von Firmen zu bezeichnen, die die Anzahl hergestellter Produkte künstlich begrenzen, um den Preis hochzuhalten. Dass bei einem berühmten Künstler die Produktivität durch seine geistigen und physischen Kräfte limitiert ist, ist selbstverständlich. Da seine Lebensdauer endlich ist, kann sein Tod den Wert seiner Werke noch einmal in die Höhe treiben. Von Wert und Preis als unterschiedliche Begriffe zu reden, ist nicht sehr hilfreich.

Zwei mysteriöse Begriffe

Der Autor hält es für angebracht, zwei Begriffe zu erklären, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchen.

  • Serendipität (engl. serendipity): Erfolg bei Zufallsentdeckungen. Vermutlich geht der Ausdruck auf das persische Märchen der drei Prinzen von Serendip zurück. Gemeint war damit die heute als Sri Lanka bezeichnete Insel. Als Beispiele von Serendipität gelten die Entdeckung Amerikas 1492 durch Columbus und die Entdeckung des Penicillins 1928 durch Flemming.
  • Denken nach Ersten Prinzipien (engl. First principles thinking). Der Ausdruck geht auf den Philosophen Aristoteles zurück, der forderte, dass unser Denken frei von Widersprüchen sein müsste. Neuerdings wird der Ausdruck vor allem von Elon Musk (*1971) propagiert, dem Gründer von Tesla und SpaceX.

3 Kommentare:

  1. Tan Ngo-Anh aus Noorwijk am Zee schrieb: Das Buch ist in 2020 erschienen, aber wohl geschrieben vor der Corona-Pandemie, wir bräuchten ein Paradigmenwechsel nach diesem Ereignis. Und die EU-Politik hat den Schritt mit 500 Billion Euro den Weg geöffnet. Wir müssen den Weg für die Zukunft neu ausrichten! Ich habe hierzu ein paar Bemerkungen und Beobachtungen:

    - Die Münze: Die Erklärung mit der Münze Ist vielleicht leicht zu verstehen, aber im Quantum-Welt fachlich besser zu beschreiben, mit dem Bloch-Sphäre: Hier ist der Eintrag beim IBM-Glossary: https://quantum-computing.ibm.com/docs/glossary/ ueber "Bloch sphere" und "entanglement"

    Unsere IBM-Forscher schaffen Fakten zum Thema #Quantencomputer: Sie veröffentlichen eine #Roadmap für die nächsten drei Jahre, an deren Ende ein Quantencomputer mit mehr als 1000 #Qubits stehen wird. Von da aus ist es nicht mehr weit bis zu miteinander vernetzten Quantenrechnern, der gemeinsame Rechenleistung alles in den Schatten stellen wird, was mit aktuellen Computerarchitekturen möglich ist. Mehr zu dieser Ankündigung: https://ibm.co/3hCXsU9

    Na ja, unser Hirn muss anders aufgebaut sein, um die Quantum-Welt besser/endlich zu verstehen, wie hier zu lesen ist:
    A new quantum paradox throws the foundations of observed reality into question:

    https://theconversation.com/a-new-quantum-paradox-throws-the-foundations-of-observed-reality-into-question-144426

    (Ich habe ein Zeitlang mit Quantum-Computing auf "IBM-Quantum Experience" gefummelt :-), aber aus Zeit-Gründe und Coronavirus bin ich mehr auf Statistik (mit Python und R) und ML umgeschwenkt.)

    -zu "KI und Robotik"

    A robot wrote this entire article. Are you scared yet, human? (At IBM, we had something similar on VM/CMS but not so powerful "FROG EXEC *" )

    This article was written by GPT-3, OpenAI’s language generator. GPT-3 is a cutting edge language model that uses machine learning to produce human-like text. It takes in a prompt, and attempts to complete it.
    https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/sep/08/robot-wrote-this-article-gpt-3

    - zu "Vergangene Beispiele"

    "Das neueste Beispiel ist Tesla. Diese Firma ist inzwischen mehr wert als VW und BMW zusammen." Das ist die Erwartung von der Aktionären und nicht die reale Werte. Ich bin mit dem Tesla-X mit Begeisterung gefahren, aber vielleicht haben IBM und Mercedes (US) bessere Konzepte.

    IBM announces battery breakthrough: https://governorswindenergycoalition.org/ibm-announces-battery-breakthrough/
    https://www.ibm.org/responsibility/2019/case-studies/battery-breakthrough

    - zu "Kernfusion als langfristige Energiequelle"

    Neben ITER haben wir Wendelstein-7X in Greifswald, (und JT-60SA in Japan, China hat auch eigene Vorhaben)

    Das technisch am weitesten fortgeschrittene Konzept zum dauerhaften Einschluss eines thermonuklear reagierenden Plasmas ist das des Tokamaks. Eine Schwierigkeit stellen dabei Plasmainstabilitäten verschiedener Art dar. An Mechanismen zu ihrer Unterdrückung wird intensiv geforscht. Aufgrund des induktiv erzeugten Plasmastroms kann ein Tokamak in seiner ursprünglichen Version nur gepulst betrieben werden, was technisch sehr nachteilig wäre; an Zusatztechniken zur dauernden Aufrechterhaltung des Stroms (Stromtrieb) wird ebenfalls geforscht. Beim Stellarator-Konzept (mit Wendelstein-7-X) werden weniger inhärente Stabilitätsprobleme erwartet, und ein gleichmäßiger Dauerbetrieb ist hier grundsätzlich möglich.

    Hierzu ITER Update: Fusion in 30 years: https://youtu.be/XNcGpQCX8a0
    Wendelstein 7-X: Die Experimentieranlage Wendelstein 7-X im IPP-Teilinstitut Greifswald soll die Kraftwerkstauglichkeit von Fusionsanlagen des Typs "Stellarator" demonstrieren.

    https://www.ipp.mpg.de/w7x
    https://www.ipp.mpg.de/3397401/03_14

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    1. Am 20.09.2020 um 19:55 schrieb Tuan Ngo-Anh:

      No, quantum computers are not inherently faster or more efficient than conventional digital computers. Most of the time, the opposite is true. What quantum computers can do, in principle, is solving certain types of problems that require a prohibitively large number of calculations on a digital computer. And no, quantum computers have nothing to do with consciousness either. Again, their sole advantage (albeit an important one) is that they can, in principle, solve certain problems efficiently that digital computers cannot.

      Also, making the threshold theorem do the trick has so far proven elusive. My strictly personalsuspicion is that the threshold theorem will prove to be a showstopper, a no-go theorem; instead of enabling quantum computation, we will eventually find that consistently remaining below the required threshold for a scalable quantum computer architecture will prove to be mathematically impossible.

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  2. Ich kann Ihrem Urteil über Quantencomputer nur zustimmen. Rechner, die nur spezielle Probleme lösen, sind keine wirkliche Konkurrenz für Universalrechner. Das gilt auch dann, wenn sie diese
    Probleme besonders schnell oder besonders billig lösen.

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