Samstag, 29. August 2020

Gabor Steingarts Sozialstaatsmodell und Europa-Narrativ

Fast täglich lese (oder höre) ich derzeit Texte des Autors Gabor Steingart (*1962). Nicht immer haben sie mich derart beeindruckt wie die beiden Texte, die soeben in seinem Hörbuch mit dem Titel Die unbequeme Wahrheit (2020, 220 Seiten, 4:14 h Dauer) erschienen. Das Buch hat den Untertitel Eine Rede zur Lage unserer Nation. Beide Themen werden am Schluss dieses Buches behandelt.

Ein neues Modell für den deutschen Sozialstaat

 Bekanntlich sind wir Deutsche besonders stolz auf unsern Sozialstaat. Niemand fällt durch das Netz, das im Laufe der Jahrzehnte aufgebaut wurde, sollte er in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, sei es aus gesundheitlichen oder andern Gründen, Kaum ein Politiker − der nicht gerade zur FPD oder AfD gehört − versäumt es, dies bei jeder Gelegenheit rühmlich hervorzuheben. Unterschlagen wird dabei fast immer, dass diese Absicherung auf Grundlagen beruht, die alles andere als stabil oder optimal sind.

An erster Stelle steht hier die sogenannte Rentenformel. Danach richtet sich die Höhe der Rente nach der Dauer der Beschäftigung und der Höhe des am Ende erreichten Lohnes oder Gehaltes. Die Rentenversicherung macht keine Rücklagen aufgrund der zu erwartenden Ansprüche, sondern finanziert sich aus den Beiträgen der noch aktiv im Arbeitsprozess befindlichen Mitglieder.  Wegen des Geburtenrückgangs verbunden mit der zunehmenden Lebensdauer der Alten übersteigt die Anzahl der Rentner die Anzahl der aktiven Mitglieder immer mehr. Eigentlich müssten die Renten laufend gekürzt und/oder die Versicherungsbeiträge laufend erhöht werden. Da dies politisch nicht durchsetzbar ist, griff man schon vor längerer Zeit auf einen Ausgleich mit Hilfe von Steuergeldern zurück. Die Allgemeinheit garantiert sozusagen, was der Staat einzelnen Bürgern versprochen hat.

Das Hauptproblem unserer heutigen Lösung besteht darin, dass die Altersversicherung mit dem Lohn- und Gehaltssystem gekoppelt, also an den lokalen Arbeitsmarkt gebunden ist. Eine Alternative wäre eine Absicherung durch eine Kapitaldeckung. Diesen Weg geht bekanntlich Norwegen seit Jahrzehnten. Die hier gewählte Form ist die eines Staatsfonds. Der große Vorteil ist, dieser Fonds ist von der Leistung der norwegischen Wirtschaft unabhängig. Anlagen werden da getätigt, wo gerade die Wirtschaft wächst und floriert. Das kann in Amerika, Afrika  oder Asien sein. Das einzige zu lösende Problem besteht darin, die notwendigen Experten zu gewinnen.

Ein Narrativ für Deutschland und Europa

Es gehört schon fast zum ständigen Klagegesang, dass es uns Europäern an der zündenden Idee für den Zusammenschluss mangelt. Vielleicht ist sie uns im Laufe der Jahre, in denen die Kriegserinnerungen in der Versenkung landeten, abhandengekommen. Gerade in Deutschland scheinen die Pessimisten und Grießkrämer die Wortführer zu sein. Es gibt so viele Dinge, vor denen Deutsche sich derzeit angeblich fürchten. Beispiele sind der Islam, Überflutung durch Afrikaner, Donald Trump, der technische Fortschritt, Datenmissbrauch und eine zweite Corona-Welle.

Dem allen könnte durch ein neues deutsches und gleichzeitig europäisches Narrativ entgegengetreten werden. In Frage käme ein kraftvolles Bekenntnis zu Europas Vielfalt und Eigenverantwortlichkeit. So käme kein anderer Erdteil an Europa heran, was die Vielfalt seiner im Weltmarkt aktiven Klein- und Mittelunternehmen betrifft. Rund 10.000 Unternehmen seien Familienunternehmen, die teilweise Weltmarktführer (engl. hidden champions) sind. Der Anteil dieser Firmen sei in Frankreich 80%, Spanien 83%, in Italien 85% und in Deutschland 90%. Ihnen seien etwa 60% aller Arbeitsplätze zu verdanken.

Die europäische Politik habe sich bisher oft zu großen Versprechungen verstiegen, an die man sich später nicht hielt, zuletzt im Vertrag von Lissabon im Jahre 2007. Würde man sich auf ein Narrativ im oben erwähnten Sinne einigen, hätten Europas Politiker Veranlassung, sich über die damit verbundenen Aufgaben Gedanken zu machen und ihre Politik drauf auszurichten. Das wäre ein signifikanter Fortschritt gegenüber den heutigen Gewohnheiten. Es versteht sich, dass ein Narrativ nur der Anfang einer breiten und lebhaften Diskussion sein kann. Wohin diese führt ist unklar, aber sie wäre für das Projekt Europa sehr befruchtend.

Es ist die chinesische Geschichte, die ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür liefert, welche Rolle Narrative haben können. Der Admiral Zheng He (1371-1435) hatte mit einer großen Flotte sieben Expeditionen im Pazifik und im Indischen Ozean unternommen und dabei über 50.000 km zurückgelegt. Nach seinem Tode entschloss sich die Regierung die großen Seereisen einzustellen und die Flotte zu verkleinern. Wenig später tauchten die ersten portugiesischen und britischen Schiffe vor Chinas Küsten auf. Sie übernahmen den Auslandshandel, vor allem den Handel mit Opium. Sie zwangen China in die Rolle eines Junior-Partners, eine Rolle, die China erst nach über 500 Jahren wieder abwarf. 

Nachtrag vom 31.8.2020

Steingarts obiges Buch ist voll von Anregungen und Spitzen gegen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich will noch einige davon erwähnen.

Wir werden von einer Apokalypsen-Regierung regiert und haben das RKI in unseren Köpfen (RKI = Robert-Koch-Institut, d.h. Deutschlands oberste Seuchenbehörde).

Ein weit verbreitetes Unbehagen lässt uns ahnen, dass sich gerade etwas ändert.

Wir retten das Gegenwärtige auf Kosten der Zukunft. Der Klimawandel tritt gegenüber Corona in den Hintergrund.

Wir werden von der Bundeskanzlerin dazu aufgefordert, das Händewaschen nicht zu vergessen.

Arbeitgeber und Gewerkschaften liegen zusammen in einem King-Size-Bett.

Der Sozialstaat produziert nicht die Wohlfahrtsmittel, die er verteilt.

Schon vor der Pandemie gab es bei uns ein Dienstleitungsproletariat.

Der produktive Kern der USA ist das Silicon Valley. Er wird von der Pandemie unberührt gelassen. Auch China pflegt seine produktiven Kerne, etwa in Shenzhen.

Der Fluss vom produktiven Kern zur Kruste hin ist wichtig. Durch Bildung entsteht ein Nachwachsen des produktiven Kerns. Wenn der Kern schrumpft, leiden in erster Linie die Krustenbewohner. Eine Aufgabe des Staates ist die Ausbalancierung zwischen Kern und Kruste.

Der Versuch Komplexität zu reduzieren ist meist ein Fehler. Das gilt sowohl für Globalisierung wie für Digitalisierung, aber auch für Ökologie und Ökonomie.

Der Staat kann die Wirtschaft nicht beaufsichtigen. In der Zukunft wird es nur dann genug starke Unternehmer geben, wenn heute genug junge Leute dies selber sein wollen.

Nur die USA und Israel versprechen Immigranten eine erfolgreiche Zukunft. Beide Länder ziehen einen großen Nutzen daraus.

4 Kommentare:

  1. Amerika bruestet sich mit dem Anspruch "exceptional" zu sein ... "a shining city on the hill". Aber die Taten, die diese Anprueche begruenden, liegen immer weiter in der Vergangenheit. In Deutschland bruestet man sich mit dem Anspruch "Wirtschaftswunder" zu sein, was auf Tuechtigkeit, Arbeit, und Intelligenz beruht. Das fliesst auch in die Berechnung der zukuenftigen Renten. Es war daher sehr enttaeuschend fuer mich, die jaehrlich-durchschnittlichen Beamtenkrankheitszahlen fuer Berlin zu erfahren - 35 Tage wie ich mich erinnere.

    John Adams, zweiter Praesident der USA, sagte "Our Constitution was made only for a moral and religious people. It is wholly inadequate for the government of any other." Wie lautet wohl dieser Gedanke in Bezug auf Deutschland?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Setzen Sie bitte nicht Berlin mit Deutschland gleich.

      Löschen
    2. Gerne! Schwaben unterscheidet sich sicher stark von Berlin. Wie sich auch Washington D.C. von Silicon Valley unterscheidet. Ich bin trotzdem nicht gaenzlich beruhigt.

      Löschen
    3. Laut Berliner Zeitung (BZ) stiegen die Krankheitstage der Beamten in Berlin inzwischen auf 37,5 pro Jahr. Das ist der Durchscnitt, d.h. es gibt höhere und niedrigere Werte.

      Löschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.