Dienstag, 11. August 2020

Entscheiden: Über Wahrnehmung und Denk- und Verhaltensweisen (von Peter Hiemann)

Die Annahme, dass wir uns in jeder Situation über die existierenden Verhältnisse bewusst sind, ist ein weit verbreiteter Irrtum. Der Neurowissenschaftlers António Damásio erkannte einen grundlegenden Irrtum René Descartes. Damasio widerlegte Descartes' Annahme, dass Materie und Geist unterschiedlichen Welten angehören und getrennt voneinander betrachtet werden können Für den Soziologen Bruno Latour sind menschliche Denk- und Verhaltensweisen fortwährend Irrtümern ausgesetzt. Latour  vertritt eine  Akteur-Netzwerk-Theorie, in der die gängige Unterscheidung zwischen Natur und Kultur aufgehoben ist. Ein Akteur im Sinne Latours kann sowohl ein Mensch, als auch ein Ding, ein Tier oder eine Pflanze sein, denn deren Welten lassen sich nicht voneinander trennen.

 Es ist offensichtlich, dass eine 'rechte' Denkweise im Sinne eines absoluten Begriffs nicht existiert. Vielmehr sind Denkweisen individuelle Angelegenheiten. Jeder entscheidet im Interesse seiner selbst, wie er komplexe Verhältnisse einschätzt, und was er in einer gegebenen Situation für angebracht hält. Hier wird versucht, einige typische privilegierte und allgemeine Entscheidungsprozesse in unterschiedlichen Situationen zu beleuchten.

 Entscheidungsprozesse können mehr oder weniger 'sichtbar' gemacht werden, indem man  individuelle Erzählweisen unter die Lupe nimmt. Es ist heute ein offenes Geheimnis, dass vermittels Geschichten versucht wird, andere Menschen zu beeindrucken und zu beeinflussen. 

 Zum Beispiel:

  • Politische und ökonomische Führungskräfte erzählen Geschichten, um  Meinungshoheit zu erringen – aber oft so, dass sie die wahren Gründe ihrer Entscheidungen verheimlichen oder gar Unwahrheiten verbreiten.
  • Gerhard Polt erzählt Geschichten, indem er sich selber zur Diskussion  stellt – aber so, dass verwerfliche Denkweisen sichtbar werden.
  • Georg Schramm erzählt Geschichten, indem er Kunstfiguren sprechen lässt – aber so, dass Denkweisen kritisch und tiefgründig hervorgehoben werden.
  • Volker Pispers erzählt Geschichten, indem er Fragen stellt – aber so, dass jeder die Antwort selber finden könnte, wenn er ein wenig mehr Logik zur Geltung brächte.
  • Die Pianistin Helene Grimaud erzählt Geschichten, indem sie konzentrierte Dialoge voller Emotionen mit einem Orchester führt.  

Wir alle erzählen Geschichten auf unterschiedliche Weise: Nachfolgend sei auf ein paar typische Denk- und Verhaltensweisen hingewiesen. Sie unterscheiden sich oft wesentlich dadurch, dass sie die Sicht Privilegierter oder die Sichtweise der Allgemeinheit repräsentieren. Hinsichtlich einer privilegierten Sichtweise ist nicht von vornherein ersichtlich, ob ein tatsächliches Privileg vorliegt, weil jemand über Wissen verfügt, von dem die Allgemeinheit ausgeschlossen ist. Ob jemand nur annimmt privilegiert zu sein, muss jeder für sich selbst beurteilen, indem er seine Denk- und Verhaltensweisen reflektiert (hinterfragt). Folgende Optionen sind typisch:

 (1)  Eine bevorzugte Denkweise vertreten:

-      Privilegierte tendieren dazu, vermittels gewohnter Rituale alternative Denkweisen zu verdrängen, und individuelle Denkweisen hervorzuheben.

-      Die Allgemeinheit tendiert zu der Denkweise: Don't worry, be happy.

  (2) Wahrnehmungen nicht ernst nehmen:

-      Privilegierte tendieren dazu, kritische gesellschaftliche Situationen zwar zu erkennen, sie aber nicht ernst zu nehmen (man wird ja sehen).

-      Die Allgemeinheit tendiert dazu, Wahrnehmungen zu vernachlässigen, direkt angebrachte Aktionen auf später zu verschieben und erforderliche Aktionen am Ende zu vergessen.

 (3) Eine gewohnte Denkweise unter unterschiedlichen Umständen zulassen:

-      Privilegierte tendieren dazu, an traditionellen Vorstellungen festzuhalten, auch wenn sich die Umstände verändert haben.

-      Die Allgemeinheit tendiert dazu, sich vorwiegend an Wahrnehmungen zu orientieren, vielseitige Dynamik zwar sehen, sie jedoch ignorieren. 

 (4) Eine Situation sowohl unter dem passiven Aspekten 'Ja, aber' als auch unter dem  aktiven Aspekt 'Warum denn nicht' betrachten:

-      Privilegierte tendieren dazu, Probleme zwar zu erkennen, Gelegenheiten für Gewinn aber unter allen Umständen wahrzunehmen.

-      Die Allgemeinheit tendiert dazu, Situationen reflexhaft destruktiv zu kritisieren, jedoch am Ende Situationen nicht ausreichend zu reflektieren.  

 (5) Alternative Aspekte lediglich erörtern:

-      Privilegierte tendieren dazu, gesellschaftliche Probleme zwar wahrzunehmen, jedoch mögliche Lösungen lediglich unter dem Aspekt zu betrachten: So könnte es vielleicht auch funktionieren.

 -      Die Allgemeinheit tendiert dazu, sich über Probleme Sorgen zu machen, jedoch                  Lösungsvorschläge nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen.  

 (6) Bisherige Denk- und Verhaltensweisen müssen sich ändern

-      Privilegierte tendieren dazu, gesellschaftliche Polarisierungen als Hinweis auf sich ändernde Gesellschaftsstrukturen zu interpretieren, und sind überzeugt, dass sich gesellschaftliche Denk- und Verhaltensweisen  langfristig grundlegend ändern müssen.

-      Die Allgemeinheit tendiert dazu anzunehmen, dass sie sich gesellschaftliche Problemsituationen langfristig vermittels technologischer Fortschritte von selbst auflösen werden.

Geschichten, die Betroffene katastrophaler Situationen erzählen, offenbaren die  verworrenen, historischen Entscheidungsprozesse, die zu solchen Situationen geführt haben. In Anhang 1 erzählen Opfer der Atombomben in Japan ihre Geschichten. In Anhang 2 wird die Geschichte der radioaktiven Strahlung und speziell der Opfer der atomaren Strahlung nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima erzählt.

In Anhang 3 wird die überraschende Geschichte erzählt, dass prominente Vertreter der Gesellschaft schon seit Langem vor Erdzerstörung warnten, sich aber bisher gegen  kommerzielle Interessenvertreter nicht durchsetzen konnten. Einer, der wusste, wie ein gesellschaftlich bindender Vertrag funktioniert, und das Volk zu begeistern vermochte, ist erinnerungswert: https://www.youtube.com/watch?v=9-Wd0qLfJPY

Es ist irreführend zu glauben, Erkenntnisse der Naturwissenschaftler seien die Ursache, dass des Menschen Planet der Zerstörung ausgesetzt wird. Richtig ist, dass technische Verfahren und Produkte im Auftrag einer Regierung oder/und eines  Unternehmens entwickelt werden, die wissenschaftliche Erkenntnisse missbrauchen können und bereits missbraucht haben.

Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Situationen weltweit erlauben keine Prognosen, wie Arbeitsbedingungen in 10 Jahren aussehen werden.   

 Es muss nicht verwundern, dass Bevölkerungen Geschichten für nutzlos halten, wenn  deren Anliegen darin nicht reflektiert werden. Kritik, dass Geschichten nicht verständlich sind, wenn sie den Jargon der Privilegierten verwenden, kommt dazu. In diesem Zusammenhang sei auf eine Ansicht Martin Luthers hingewiesen, die auch heute zutrifft::  "Man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt fragen und denselbigen aufs Maul sehen, wie sie reden und danach dolmetschen, so verstehen sie es dann und merken, dass man Deutsch mit ihnen redet."

Geschichten zu erzählen ist viel schwieriger als oft vermutet wird. Die meisten  Geschichten muss man nicht so ernst nehmen. Es geht ja nicht um schwierige Entscheidungen, die nachteiligen Konsequenzen hinsichtlich Beziehungen nach sich ziehen könnten. Jeder erzählt Geschichten, in denen befriedigende Erlebnisse die wesentliche Rolle spielen. Jeder erzählt von Situationen, auf die er sich freut. 

Bei der letzten Geschichte wird klar, dass eine Option mit der Absicht, sich darstellen zu wollen, nicht haltbar ist. Niemand kommt um eine unerfreuliche Situation am Ende seines Lebens herum. Man kann nur versuchen, die Situation gelassen hinzunehmen, und zu hoffen, sie schmerzfrei zu überstehen.

Die Frage, warum ein unerfreuliches Ende Menschen nicht erspart bleibt, bleibt  unbeantwortet. Vermutlich weil Geburt und Tod notwendige Voraussetzung für biologische Evolution sind. Fest steht, dass es am Ende nichts mehr zu entscheiden gilt.

Am Ende kann man Nachfolgenden nur wünschen, dass sie mit möglichen, auch kritischen Situationen zurechtkommen. Ob Essays, in denen Gedanken festgehalten sind – von wem auch immer, am besten von sich selber – dabei hilfreich sind, entscheidet jeder zu gegebener Zeit.

 

Anhang 1: Count-down in ein neues Zeitalter: Hiroshima

Die Atombombe, die 1945 auf Hiroshima fiel, tötete mehr als 100.000 Menschen und symbolisierte das Ende des Zweiten Weltkriegs, aber auch den Beginn des Atomzeitalters. Von da an bekamen bewaffnete Konflikte, internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik einen völlig neuen Charakter. Ein Dokumentarfilm schildert die Ereignisse vor, während und nach der Detonation und erzählt anhand von Berichten der letzten Überlebenden die Geschichte dieses Wendepunktes mitten im 20. Jahrhundert. Er beleuchtet auch die weltweit langfristigen Folgen des Atomwaffenabwurfs in Hiroshima.

Am 6. August 1945 explodierte in 600 Metern Höhe eine über Hiroshima abgeworfene Atombombe. Eine einzige Nuklearbombe war für die Auslöschung einer Stadt und den Tod von mehr als 100.000 Menschen verantwortlich. Sie wurde damit zur verheerendsten Waffe in der menschlichen Geschichte und hat die Welt für immer verändert.

Die Dokumentation rekonstruiert die wichtigsten Ereignisse vor, während und nach dem Abwurf der Atombombe. Er zeigt das Geschehen in den Hauptquartieren der alliierten und der japanischen Streitkräfte, die Gespräche in den Flugzeugen und die verwüsteten Straßen Hiroshimas, stellt die maßgeblichen Akteure vor und erläutert die Situation an den strategischen Punkten vor Ort.

Reichhaltiges Archivmaterial, spektakuläre Bilder, vielfältige Quellen und berührende Gespräche mit den letzten Augenzeugen machen diese Analyse zu einem wertvollen Zeitdokument. Überlebende, die sich nie zuvor darüber geäußert haben, sprechen über Folgen der Bombardierung in der zerstörten Stadt. Waisenkinder wurden an Prostitutionsnetzwerke verkauft, Yakuza-Banden plünderten die Straßen und die letzten Stadtbewohner kämpften mit Gewalt ums Überleben.

 Unveröffentlichte Dokumente aus Regierungskreisen und neu entdecktes Archivmaterial der japanischen Rundfunkgesellschaft NHK bringen neue Erkenntnisse über die Geschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen den Konfliktparteien vor der Explosion. Die Dokumentation konzentriert sich besonders auf die japanische Sicht der Ereignisse.

Quelle: https://www.arte.tv/de/videos/054197-000-A/count-down-in-ein-neues-zeitalter-hiroshima/

 

Anhang 2: Unser Freund, das Atom - Das Zeitalter der Radioaktivität

Im März 2011 wurde der nukleargetriebene amerikanische Flugzeugträger "USS Ronald Reagan" nach Japan beordert, um den Opfern des Tsunamis zu helfen. Dabei fuhr das Schiff durch die radioaktive Wolke von Fukushima – alle Soldaten an Bord wurden verstrahlt. - Die Dokumentation deckt in einer ausführlichen Chronik die Lügen der Atomindustrie auf.

Die Entdeckung des Atoms und der Radioaktivität zählt zu den bedeutenden wissenschaftlichen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Allerdings ließen sich die Forscher von ihren Erfolgen blenden und verschleierten die Risiken. Die Dokumentation erzählt die Geschichten japanischer Familien, die den Fukushima-Betreiber Tepco verklagt haben, weil ihre Kinder nach der Nuklearkatastrophe an Schilddrüsenkrebs erkrankten.

Außerdem kommen US-Soldaten zu Wort, die mit ihrem Flugzeugträger durch die radioaktive Wolke von Fukushima fuhren. Vor der Kamera schildern sie minuziös, was sich auf ihrem Schiff ereignet hat. Auch die Soldaten haben Tepco verklagt. Auf beiden Seiten des Pazifiks kämpfen die Betroffenen gegen die Zurückhaltung von Informationen.

Die Dokumentation geht zu den Anfängen des Atomzeitalters zurück und stellt weitere Menschen vor, die Opfer militärischer und industrieller Geheimhaltung wurden: Fischer und Veteranen, die bei US-amerikanischen Tests im Bikini-Atoll verstrahlt wurden, Hiroshima-Überlebende oder die jungen Arbeiterinnen in den US-amerikanischen Radiumfabriken der 1920er Jahre. Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht riechen und nicht schmecken – trotzdem hat sie enorme Auswirkungen auf Lebewesen. Ein japanischer Arzt erklärt, wie radioaktive Strahlung auf den menschlichen Körper wirkt, warum sie Krebs verursacht – und wie man sich davor schützen kann. Die Dokumentation liefert eine umfassende historische Untersuchung von hundert Jahren Radioaktivität, erinnert an ihre Opfer, von den Eheleuten Curie bis Fukushima, und deckt die Lügen der Atomindustrie auf.

 Quelle: https://www.arte.tv/de/videos/087958-000-A/unser-freund-das-atom/

   

Anhang 3: Die Erdzerstörer

Mit der Erfindung der Dampfmaschine fing es an. Mit revolutionärer Rasanz machte sich der Mensch die Erde untertan. Eine Erfindung jagte die nächste, eine Technologie toppte die andere. Für mehr Komfort. Mehr Konsum. Mehr Wohlstand. Und die Erde? Wie lange hält sie den Menschen noch aus? Kompromissloser Blick auf die vergangenen 200 Jahre des Industriekapitalismus.

Der Anstieg des Meeresspiegels und das Abschmelzen der Polkappen stehen symptomatisch für einen Prozess, der unaufhaltsam scheint. Regierungen und multinationale Konzerne werden immer öfter als Verantwortliche ausgemacht: Umweltorganisationen reichen Petitionen ein und berühmte Persönlichkeiten rufen zum Handeln auf. Forscher veröffentlichen erschreckende Zahlen: Seit Beginn des Industriezeitalters wurden über 1.400 Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre gepumpt. Die biologische Vielfalt ging rapide zurück, und Prognosen sprechen von 250 Millionen bis eine Milliarde Klimaflüchtlingen – hochgerechnet bis ins Jahr 2050. Bis 2100 werden auf knapp 40 Prozent der Erdoberfläche Bedingungen herrschen, mit denen kein lebender Organismus des blauen Planeten je konfrontiert wurde. Würde man die Lebensdauer der Erde auf 24 Stunden herunterbrechen, so entwickelte sich der Homo habilis in der allerletzten Minute; das Holozän – die letzten 10.000 Jahre – entspräche der letzten Viertelsekunde und das Industriezeitalter den zwei letzten Tausendstelsekunden.

In dieser kurzen Zeit hat der Mensch eine so immense Kraft entwickelt, dass er die Macht über das System Erde übernehmen konnte. „Die Erdzerstörer“ entstand in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftshistorikern Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz. Die Autoren werfen einen kompromisslosen Blick auf die letzten 200 Jahre des Industriekapitalismus: Sie erzählen vom Abbau der fossilen Brennstoffe, der Erfindung des Automobils, der Kernkraft und dem Massenkonsum; vom Imperialismus, von Kriegen, vom Wachstum der Städte, von industrieller Landwirtschaft und von Globalisierung. Die Sendung möchte auch zeigen, wer für all das verantwortlich ist. Denn die Schuld an der Umweltkrise trägt nicht die Menschheit an sich – historisch gesehen trifft sie nur eine kleine Minderheit, als erstes Nordamerikaner und Europäer. Die reichsten 20 Prozent der Erdenbürger sind die schlimmsten CO2-Sünder, und ein Fünftel der Weltbevölkerung pflegt heute die verschwenderische Lebensweise, die sich bereits ab dem frühen 19. Jahrhundert im Bürgertum von Industrieländern und Kolonialmächten entwickelte.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=X7EDJRU3JCM

  

1 Kommentar:

  1. Peter Hiemann aus Grasse:

    Geschichten, die aufgrund des weltweit aktiven Covid-19 Virus noch geschrieben werden, bleiben denen überlassen, die zukünftige Entscheidungen treffen müssen. Denen kann man nur wünschen, dass sie mit möglichen, auch kritischen Situationen zurechtkommen. Ob Essays, in denen Gedanken festgehalten sind – von wem auch immer, am besten von sich selber – dabei hilfreich sind, entscheidet jeder zu gegebener Zeit.

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.