Dass Wien im ersten Drittel des vorigen
Jahrhunderts viele Geistesströmungen wie in einem Schmelztiegel zusammenbrachte
und damit unser Denken und unser Weltbild veränderte, haben viele schon längst vermutet.
In Wien stand die Wiege der Moderne, ̶ so sagt man
̶ was Wissenschaft und Kunst
betraf. Jetzt hat jemand diesen Anspruch zu belegen versucht, von dem ich es an
sich nicht erwartet hatte, nämlich Eric Kandel. Der Gehirnforscher und Nobelpreisträger, der uns in
diesem Blog schon einmal begegnete, hat als jüdisches Kind Wien 1939
im Alter von zehn Jahren verlassen müssen. Dennoch hat er seine große Liebe für
die Stadt bewahrt oder wiederentdeckt
̶ ungeachtet dessen was mit seiner Familie
geschah. Sein in diesem Jahr vorgelegtes, 560 Druckseiten umfassendes Buch mit
dem Titel Das Zeitalter der Erkenntnis ist eine einzigartige Hommage an seine Heimatstadt Wien. Der etwas
lange Untertitel heißt: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und
Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. Der Haupttext wird ergänzt mit vielen teils
sehr ausführlichen Fußnoten, einer Unmenge von Literaturreferenzen und über 200
Farbbildern.
Bei Kandel liegt die Besonderheit der Stadt Wien weniger bei den
Gebäuden, den Gewohnheiten der Menschen oder den vielen großen Musikern, die
dort wirkten. Für ihn ist es Wiens einmaliger Beitrag zu Geistes- und Kulturgeschichte
der Menschheit, die ihn fasziniert. Natürlich ahnten es viele. Es war ihnen
aber nicht so richtig klar. Für sie ist Kandels Buch ein wahrer Genuss.
Völlig unbescheiden hebt Kandel Wien 1900 auf eine Ebene mit dem Konstantinopel
vor den Kreuzzügen, dem Cordoba und Toledo des 12. Jahrhunderts und dem Florenz
der Renaissance. Es waren dies alles Blütezeiten, verursacht durch ein einmaliges
Zusammentreffen von Kulturen. Nach dem Aufwallen demokratischer Unruhen um 1848
reagierte die österreichisch-ungarische Monarchie mit imposanten Bauten und
politisch-sozialen Reformen. Es entstand die Ringstraße mit ihren Prachtbauten.
Alle Volksgruppen erhielten Gleichberechtigung und Reisefreiheit. Sie strömten
aus allen Regionen in die Metropole und versuchten dort den sozialen Aufstieg
zu schaffen. Das traf in besonderem Maße auf die in ganz Osteuropa verstreuten
jüdischen Mitbürger zu. Der Anteil der Juden an der Bevölkerung Wiens stieg
zwischen 1869 und 1890 von 6,6 auf 12%. Wenn es den Titel damals gegeben hätte,
wäre Wien Weltkulturhauptstadt geworden.
Die moderne Sicht der Welt wird oft als das Ergebnis von drei
Revolutionen dargestellt. Nikolaus Kopernikus rückte die Erde vom Mittelpunkt
an den Rand des Sonnensystems, Charles Darwin entthronte den Menschen gegenüber
anderen Tieren und Sigmund Freud zerstörte das Bild der allzeit herrschenden
Vernunft. Dass dieser dritte Schritt in Wien geschah, war nach Kandel kein
Zufall.
Die Einführung moderner, d.h. wissenschaftlicher Methoden begann in der
Medizin. Eine Koryphäe am Wiener Universitätskrankenhaus, Carl von Rokitansky
(1804-1878), machte den Anfang. Er bestand darauf, dass alle Patienten, die an
Erkrankungen innerer Organe starben, seziert wurden, um festzustellen, ob die
vorher rein äußerlich gewonnene Diagnose stimmte. Man suchte die Wahrheit unter
der Oberfläche – und zwar ganz bewusst. Diese Haltung färbte auf andere Gebiete
ab, nämlich Psychologie, Soziologie und Kunst. Das Wissen aus Kliniken, Labors
und Ateliers, aus Natur- und Geisteswissenschaften wurde vernetzt.
Wien um 1900 besaß andern Universitätsstädten gegenüber mehrere
Besonderheiten. Es war zwar das Zentrum eines Vielvölkerstaates, jedoch klein
genug, dass verschiedene Gruppen der Gesellschaft sich begegnen konnten. Vor
allem Wissenschaft und Kunst konnten sich austauschten. Der Ort, an dem dies
geschah, waren Salons und Kaffeehäuser. Salons standen nur gesellschaftlich
akzeptierten Familien offen. Wie zuletzt im Spanien des 12. Jahrhunderts waren Juden
in die Kommunikation voll eingebunden. Als Beispiel, das gleich am Anfang des
Buches steht, dient der Salon des Ehepaares Emil und Berta Zuckerkandl. Er war
Mitarbeiter von Rokitansky, sie war Schwägerin des französischen Politikers
Clemençeau. In ihrem Salon traf
sich Rodin mit Wiener Malern und Musikern.
Ausführlich wird dargestellt wie Sigmund Freud (1856-1939)
und Josef Breuer
(1842-1925) in der Behandlung von Hysterie-Patienten zusammenarbeiteten und
identische Ziele verfolgten. Ihre Wege trennten sich, als Freud die Rolle der
Sexualität in den Mittelpunkt stellte. Nach dem Tod seines Vaters frönte Freud
seinem Interesse an Antiquitäten und seinen Traumdeutungen. Arthur Schnitzler (1862-1931)
befasste sich wie Freud ebenfalls mit der Deutung von Träumen. Bei Freud entwickelte
sich dies zum wesentlichen wissenschaftlichen Werkzeug und zum Schlüssel der Psychoanalyse,
bei Schnitzler befruchtete es sein Schaffen als Künstler und Literat.
Von Schnitzler und Freud angeregt, hat das Maler-Trio Klimt, Schiele
und Kokoschka eine neue Epoche europäischer Malerei eingeleitet. Sie malten,
was Freud wissenschaftlich entdeckt hatte. Bei Gustav Klimt (1862-1918) verband
sich der Jugendstil mit dem Expressionismus von Cézanne und dem Dekorationsstil
des byzantinischen Ravenna. Seine Darstellung der biblischen Judith zeigt eine
‚femme fatale‘ in ungewohnter Kombination von Schönheit und Hintergründigkeit.
Gustav Klimt: Judith (Ausschnitt) 1901
Klimts Schützlinge, Schiele und Kokoschka, gingen wiederum ganz eigene
Wege. Bei Egon Schiele
(1890-1918) wurde Sexualität zum Grundthema wie bei Freud. Schiele und seine
schwangere Ehefrau starben im Verlauf der Spanischen Grippe,
einer der größten Epidemien aller Zeiten.
Egon Schiele:
Umarmung 1917
Oskar Kokoschka
(1886-1980) gebärdete sich als Oberwildling, der besonders gerne vorpubertäre
Kinder malte, und bei Porträts von Erwachsenen die Farbe zerkratzte, nachdem er
sie aufgetragen hatte. Alle drei versuchten, Freud folgend, die Reise ins
Unbewusste anzutreten und zu zeigen, was unter der Oberfläche des Dargestellten
abläuft. Klimt und Schiele starben in Wien, Kokoschka ging nach Dresden und
später nach London und in die Schweiz. Erstarb in Montreux.
Oskar Kokoschka: Selbstbildnis 1918
Bei allen drei genannten Malern, aber auch in Arthur Schnitzlers Werk,
kam ein Frauenbild zum Ausdruck, das weit über das von Sigmund Freud
hinausging.
Stärker auf Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft wirkte sich
eine Generation später der so genannte Wiener Kreis aus. Namen wie Carnap,
Gödel, Tarski und Wittgenstein finden sich dort wieder. Auch Popper und seine
‚Logik der Forschung‘ sind hier einzuordnen. Weniger vertraut war mir das
Wirken von Ernst Kris
(1900-1957) und Ernst
Gombrich (1909-2001), die als Kunstkritiker und Kunsthistoriker damit
begannen, Kunst anhand seiner psychologischen Wirkung auf den Betrachter zu
diskutieren. Auch die Neurobiologie wurde weiterhin von ehemaligen Wienern
stark beeinflusst, so von Stephen Kuffler (1913-1980)
und natürlich von Eric Kandel. Beide wirkten in den USA.
Dass bei einem Naturwissenschaftler vom Format eines Eric Kandel eine
sorgfältige Bestandsaufnahme unseres derzeitigen Wissens über die Prozesse des
Sehens, der Wahrnehmung und der Informationsverarbeitung im Gehirn nicht fehlt,
liegt nahe. Um zu seinem eigentlichen Anliegen hinzuführen, liste ich nachfolgend
die Überschriften aller Teile des Buches.
- Eine psychoanalytische Psychologie und Kunst der unbewussten Gefühle
- Die kognitive Psychologie der visuellen Wahrnehmung und der emotionalen Reaktion auf Kunst
- Die Biologie der visuellen Reaktion auf Kunst
- Die Biologie der emotionellen Reaktion auf Kunst
- Die Entwicklung eines Dialogs zwischen bildender Kunst und Wissenschaft
Dass sich dahinter alles das verbirgt, was ich als besonders erwähnenswert
empfand, kann man wirklich nicht vermuten. Es verrät aber viel von der Person
und dem Erzählstil des Autors. Selbst wer keinen Bezug zu Wien oder der Kunst
hat, wird auch die übrigen Teile des Buches lesenswert finden. Es werden immer
wieder Querbeziehungen zwischen Biologie und Kunst gesucht und aufgezeigt. Die
manchmal etwas penetrant wirkende Wiederholung schafft hin und wieder Längen,
die man sich hätte sparen können.
Ehe ich auf Kandels eigentliches Anliegen näher eingehe, will ich einige
Bonbons aus dieser umfassenden Tour d’horizon herausgreifen. Die visuelle
Wahrnehmung ist ein Prozess, der fast alle Teile des Gehirns in Anspruch nimmt,
so den Frontal- und Parietallappen, den Thalamus, die Amygdala und den Hypothalamus.
Es werden immer nur Verhältnisse gespeichert und weitergeleitet, nicht absolute
Werte (z.B. etwas heller, viel heller). Es werden laufend Hypothesen gebildet,
die mit den eingehenden Reizen in Beziehung gesetzt werden. Auch diese Hypothesen
sind (nach Francis Crick) symbolisch. Diese Hypothesen repräsentieren das Wissen
über die Vergangenheit. Wir kombinieren laufend Erinnerungen mit Wahrnehmungen,
top-down mit bottom-up. Information und Wissen fließt über getrennte Was- und
Wo-Bahnen vom und zum Gehirn. Neuere Forschungen belegen, dass Kinder mit
Regeln für Hören und Sehen geboren werden. Immer wieder wird auf die von Helmholtz bereits
vertretene Auffassung hingewiesen, dass die meiste Kommunikation unbewusst
erfolgt.
Danach geht es darum, was die Naturwissenschaften heute über Gefühle,
Triebe, Träume, Bewusstsein, Willensfreiheit und dergleichen wissen. Gefühle sind primitive
Mechanismen der sozialen Kommunikation. Schon Sigmund Freud unterschied
zwischen Lebenstrieben (Sexualität, Essen, Trinken) und Todestrieben (Aggression,
Verzweiflung). Er sah in Träumen die getarnte Erfüllung triebhafter Wünsche. Beides
wird heute noch weitgehend so gesehen. Fast ist man so weit, dass man Freuds
Struktur der Psyche in Ich (Bewusstes Selbst inkl. Abwehrmechanismen), Über-Ich
(Wertesystem der Eltern) und Es (das Unbewusste) im Gehirn lokalisieren kann. Bei
Bewusstsein und Empathie werden Damasios
Arbeiten angesprochen, bzw. die über Spiegelneuronen,
die beide in diesem Blog bereits behandelt wurden. Der nächste Schritt besteht
darin, Kreativität und Intuition biologisch zu erklären. Ob dabei das
Fachgebiet Künstliche Intelligenz Hilfestellungen leisten kann, sei
dahingestellt.
Auf der geisteswissenschaftlichen Seite brachten die 1930er Jahre die Kognitions-Wissenschaft
hervor sowie die Gestaltpsychologie. Durch die ‚Eiserne Faust‘ des
Behaviorismus (Watson, Skinner) wurde der Fortschritt allerdings behindert.
Jedenfalls gehen Geisteswissenschaftler nach wie vor von der Irrationalität des
Geistigen aus. Hier setzten die modernen Künstler an, nicht nur die Wiener. Sie
versuchten Gefühle zu dekonstruieren und holten Konflikte aus dem Unbewussten
an die Oberfläche. Seit rund 30.000 Jahren (seit der Venus vom Hohlefels auf
der Schwäbischen Alb) habe die Kunst eine Funktion innerhalb der Evolution
gespielt. Sie weckte Emotionen durch Übersteigerung und Verfremdung. So
versetzt die Betrachtung eines Bildes (etwa der Judith von Klimt) verschiedene
emotionale Systeme des Gehirns in einen spezifischen Zustand. Es wird heute
diskutiert, ob die Höhlenmaler von Lascaux Autisten
waren und ob ihre Sprachfähigkeit überhaupt schon entwickelt war. Die grafische
und gestaltende Ausdrucksfähigkeit war möglicherweise früher vorhanden als die sprachliche.
Die erst jetzt sich bietende Möglichkeit, komplexe geistige Prozesse wissenschaftlich
zu untersuchen, verspricht die Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst zu überbrücken.
Man spricht bereits von Neuroästhetik, womit gemeint ist, dass das Nervensystem
entscheiden kann, was schön ist. Etwas erinnert das an Birkhoffs
und Gunzenhäusers ‚Theorie der ästhetischen Form‘, die uns in diesem Blog
begegnete.
Kandel folgt Freud indem er annimmt, dass die Psyche deterministisch
bestimmt ist. Alle Vorgänge in ihr beruhen auf physisch Erlebtem. Er benutzt
die Worte Psyche, Seele und Geist als Synonyma. Er fordert deshalb eine
Biologie des Geistes, die die Psychologie miteinschließt. In dieser Biologie
des Geistes gibt es keinen Platz für Religionen, auch nicht die jüdische. Kandels
Anliegen ist nicht nur die Vereinigung von Biologie mit Psychologie,
Kognitions- mit Neurowissenschaft, also von Natur- und Geisteswissenschaft. Es
ist die Überbrückung zweier Kulturen (im Sinne von C.P. Snow). Wie wir wissen,
gibt es in Wirklichkeit mehr als nur zwei Kulturen. Er sieht Gemeinsamkeiten
zwischen Wissenschaft und Kunst darin, dass beide Reduktionismus betreiben. Sie bauen
Modelle der Welt. Er hält einen Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst für
nicht einfach, aber wichtig. Wien 1900 hätte gezeigt, das es möglich ist.
Am 2.12.2012 schrieb Rul Gunzenhäuser aus Leinfelden-Echterdingen:
AntwortenLöschenmit der Rezension eines (sehr guten) Buches über Wien haben Sie auch mir eine Freude gemacht. Nicht nur wegen der kurzen Erwähnung betreffs Ästhetik, sondern vor allem wegen der überlegten und überlegenen Darstellung Wiens als "Kulturhauptstadt" vor 100 Jahren.
Ich kenne viele Details über Wien, nicht nur Freunds Thesen, durch Fahrten von Stuttgart nach Wien mit [meinem Kollegen] Walter Knödel in den 1960er Jahren...
Am 3.12.2012 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen;
AntwortenLöschenDanke für den Tipp! Siehe dazu www.euxus.de/wien-psychologen.html
Ich habe mich selbst oft gefragt, warum Wien diese Geschichte hatte und bin zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Einen Punkt würde ich noch anfügen, es ist die Rolle, die der Alkohol (speziell Wein) beim Abbau der
Kommunikationsbarrieren spielt.
Am 3.12.2012 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
AntwortenLöschenAls der große Klimt die Sezession in Wien lostrat, war ein gewisser Wittgenstein mitten drin. Es war der Papa Karl Wittgenstein, der fast alles als reichster Mann Österreichs bezahlt hat. Der berühmte Sohn Ludwig (1889-1951) war 1897 noch viel zu jung (8 Jahre) und verstand vom Gelde auch später nichts. Das hat ihn nicht interessiert. Er hatte es ja, ausreichend.