Donnerstag, 7. März 2013

Retroviren - der Motor der Evolution?

Immer wieder überrascht die Biologie mit neuen Erkenntnissen. Wie keine andere Wissenschaft beeinflusst sie derzeit unser Weltbild. Wer glaubte, die Mechanismen und die Wirkungen der Evolution verstanden zu haben, muss immer wieder umdenken. Die kleinsten Organismen, die wir kennen, sind die Viren. Stellt man sich einmal eine Zelle als Fußballfeld vor, dann haben Bakterien die Größe eines Fußballs. Viren sind dann so groß wie die sechseckigen Lederstücke, aus denen ein Ball besteht. Ob sie zu der lebenden oder toten Materie gehören, hängt davon ab, wie man Leben definiert.

Retroviren sind eine Familie von Viren, deren Erbinformation in Form von Ribonukleinsäure (RNA) vorliegt. Anders als bei „normalen“ RNA-Viren aber muss die RNA von Retroviren zunächst einmal mittels reverser Transkription umgeschrieben werden, bevor sie in das Genom der Wirtszelle eingebaut und dort aktiv werden kann.

Am 6.3.2013 schrieb Peter Hiemann aus Zarzis in Tunesien:

Hier eine Zusammenfassung der neuen Erkenntnisse über Retroviren, die ich der Scobel-Webseite sowie der letzten Sendung entnommen habe:

„Eine entscheidende Rolle spielten Viren in der Evolution. Sie sind überall: im Meer, im Boden und in der Luft. Wir kennen noch nicht einmal einen Bruchteil. Der gesamte Planet ist eingehüllt in ein Netzwerk genetischer Wechselwirkungen. Welche Rolle spielen Viren dabei? Waren sie die erste Lebensform, jener Übergang von Chemie zur Biologie oder sind sie nur marodierendes Erbmaterial, parasitäre Großmoleküle im Reich des Lebendigen? Am Robert Koch-Institut forscht Norbert Bannert über Retroviren. Das sind Viren, die nur ein einfaches RNA-Genom haben und sich in das Erbgut ihres Wirtes einschreiben können. Es war eine Überraschung, als man eine große Anzahl von Retroviren im menschlichen Genom fand. Bannert sagt: "Die Erbinformation von endogenen Retroviren im Humangenom macht etwa 8,2 Prozent des gesamten Genoms aus und das ist etwa 20 mal so viel, wie wir an Genen haben."

Neben den rund 20.000 Genen des Menschen vereint unsere DNA also noch rund eine halbe Million Abschnitte aus Viren, die sich im Laufe der Evolution ins Erbgut geschrieben haben. Unsere DNA ist tatsächlich eine Art Virenmuseum. "Dieser Einbau zieht sich wahrscheinlich durch die gesamte Evolution hindurch. Die ältesten Sequenzen, die man noch als solche erkennt, sind etwa 100 Millionen Jahre in unserem Genom. Solche, die noch einigermaßen gut erhalten sind, sind etwa 40 Millionen Jahre alt", so Norbert Bannert. „Möglicherweise waren diese Retroviren der Motor der Evolution“

Wenn ich richtig verstanden habe, haben viele die von Joachim Bauer beschriebenen Transpositionselemente viralen Ursprung. Diese Elemente (auch Transposons genannt) bewirken die Verschiebung und Verdopplung genetischer Information, d.h. Veränderung des Genoms. Die wichtigste Erkenntnis für mich ist die Tatsache, dass die bei Manturana und Luhmann postulierte „Strukturkopplung“ Gestalt angenommen hat. Retroviren als unabhängige Strukturen der Außenwelt haben auf direkten Weg DNA Strukturen verändert.

Das Luhmannsche Evolutionsmodell (Kommunikationsmodell) kann also erweitert werden, um direkte Einflüsse von außerhalb existierenden Strukturen zu berücksichtigen. Das so erweiterte Modell erlaubt auch, die individuelle geistige Evolution durch kulturelle Einflüsse des individuellen Gehirns zu verstehen. Wenn ich das erweiterte Modell auf gesellschaftliche Institutionen anwende, stellt sich die Frage, was wirkt außerhalb dieser Institutionen auf die Gesamtgesellschaft, den Staat? Ich wage die Behauptung: Es sind die Weltanschauungen, die auf Mysterien, Religionen, Märkten (unsichtbare Hände) oder Wissenschaften beruhen. Vermutlich haben wissenschaftliche und handwerkliche Erkenntnisse den größten Einfluss. Man denke nur an die Durchdringung der Gesellschaften aller geschichtlichen Epochen mit Technologien. Insbesondere mit Technologien, die der menschlichen Kommunikation und Verbreitung von Information dienten: Schrift, Buchdruck, Radio, Fernsehen, Computer, Internet, individualisierte Kommunikationsnetzwerke.

Vielleicht ist Ihnen auch das kürzliche Spiegelgespräch mit dem Ameisenforscher Edward O. Wilson aufgefallen (Spiegel 8/2013). Während er (und auch ich) nichts von Dawkins „egoistischen Genen“ und daraus folgend von „Verwandtenselektion“ hält, scheint seine Evolutionshypothese sehr plausibel zu sein. Wilson ist überzeugt, dass die biologische und soziale Evolution des Homo Sapiens mit „Gruppenselektion“ erklärt werden kann. Wilsons Arbeitshypothese (wie auch Luhmanns) beruht auf der Fähigkeit zur Kommunikation. Bei Ameisen auf der relativ einfachen Sensibilisierung von Pheromonen. Wilsons Hypothese bedeutet aber auch, dass die direkte Durchdringung von biologischen, geistigen und sozialen Strukturen eine entscheidende Rolle bei evolutionären Entwicklungen des Lebendigen gespielt hat und spielt.

Am 7.3.2013 schrieb ich (Bertal Dresen):

...tolle Vorstellung: Sie sitzen am [nordafrikanischen] Strand und überlegen wie die Viren die Evolution steuern. Interessant finde ich es, dass Biologen jetzt immer mehr Sinn in den 90% der DNA erkennen, die sie zuerst als 'Schrott' ansahen. Mediziner suchen nach schädlichen und nützlichen Viren, nicht nur bei Zeitgenossen sondern auch bei Vormenschen. Gut zu wissen, dass es die so genannten Zivilisationskrankheiten wie Krebs und Alzheimer schon im alten Ägypten gab.

Ebenfalls am 7.3.2013 schrieb Hans Diel aus Sindelfingen:

das sind interessante neue Forschungsergebnisse und interessante Schlussfolgerungen, die Sie daraus ziehen.

Bei einer Ihrer Behauptungen habe ich eine nur leicht unterschiedliche Meinung. Bei dem "was wirkt außerhalb dieser Institutionen auf die Gesamtgesellschaft" sehe ich eher die Technik als die Wissenschaft, insbesondere die Techniken, die die Kommunikationsmöglichkeiten (Buchdruck, Radio, Telefon, Internet) und die Mobilität (Motoren für Schiffe, Autos, Flugzeuge) erhöhen. Interessant (zumindest für mich) ist, dass bei der Entwicklung der meisten dieser Techniken die Wissenschaften eine relativ kleine Rolle gespielt haben.

NB (Bertal Dresen): Die Meinung von Herrn Diel wird vermutlich nicht unwidersprochen bleiben. Gestern erst las ich bei einem bekannten deutschen Autor, dass es ohne geisteswissenschaftliche Forschung das deutsche Wirtschaftswunder nicht gegeben hätte.

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