Mittwoch, 31. Oktober 2018

Geschäftsmodelle sind oft wichtiger als Technologien – selbst bei der Digitalen Transformation

In einem gedruckten Artikel im Jahre 2006 [1] und in einem Blog-Beitrag des Jahres 2016 befasste ich mich mit dem Thema Geschäftsmodelle. Ich kann dieses Thema allen Ingenieuren und Informatikern nur sehr empfehlen, erst Recht den Wirtschaftsinformatikern. Vor allem Technik-Begeisterte lassen sich leicht dazu verleiten zu glauben, dass schon eine gute technische Idee genügt, um wirtschaftlich Erfolg zu haben. Leider ist es nicht so. Lassen Sie es sich erklären.

Was ist ein Geschäftsmodell?

Ein Geschäftsmodell (engl.: business model) beschreibt, wie man aus einer Idee zu Geld kommt. Der Definition von Oliver Gassmann [2] folgend muss das Geschäftsmodell vier grundsätzliche Fragen beantworten, nämlich:
  • Wer ist der Kunde?
  • Was bietet man an?
  • Wie wird die Leistung erbracht?
  • Wie wird der Wert erzielt? 
Etwas ausführlicher ist die in meinem zitierten Beitrag benutzte Definition aus dem Gabler Wirtschaftslexikon. Sie lautet: 
 
Das Geschäftsmodell bestimmt, (1) was eine Organisation anbietet, das von Wert für Kunden ist, (2) wie Werte in einem Organisationssystem geschaffen werden, (3) wie die geschaffenen Werte dem Kunden kommuniziert und übertragen werden, (4) wie die geschaffenen Werte in Form von Erträgen durch das Unternehmen „eingefangen“ werden, (5) wie die Werte in der Organisation und an Anspruchsgruppen verteilt werden und (6) wie die Grundlogik der Schaffung von Wert weiterentwickelt wird, um die Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells in der Zukunft sicherzustellen.

Außerdem muss man wissen, ob es andere Leute gibt, die mit derselben Idee Geld zu verdienen suchen. In meinem oben erwähnten Blog-Beitrag von 2016 habe ich neun verschiedene Geschäftsmodelle gelistet, die für das Software-Geschäft relevant sind. Gassmann und Ko-Autorinnen [2] beschreiben 55 verschiedene Muster.  Bei jedem Muster gibt es einem Hinweis, welche Unternehmen dieses Muster erfunden haben bzw. benutzen. Manche erscheinen mir als etwas zu umfassend, etwa Digitalisierung oder E-Commerce. Andere beziehen sich nur auf einen Aspekt des Geschäftes, wie zum Beispiel die Zahlungsweise (Flatrate, Pay per use).

Laut Gassmann sind es innovative Geschäftsmodelle, die die  Wirtschaft mehr aufwirbeln als alle Produkt- und Prozessinnovationen zusammen. Dabei sind 90% aller Geschäftsmodelle Rekombinationen von vorhandenen Modellen. Die meisten Unternehmen, die scheitern, tun dies, weil sie es versäumten ihr Geschäftsmodell anzupassen.


Geschäftsmodelle nach Gassmann [2]

Beispiele innovativer Geschäftsmodelle

Fast alle Unternehmen, die innerhalb der letzten 50 Jahre von sich reden machten, erreichten dies aufgrund neuer Geschäftsmodelle. Das begann mit den Ketten von Schnellrestaurants (engl. fast food chains) wie McDonald, Burger King und Kentucky Fried Chicken. Neueren Datums ist Starbucks, eine Kette, die ihr Geschäft dadurch macht, dass sie Kaffee teurer anstatt billiger anbietet. Bekanntlich wird mit dem Ambiente, in dem das Getränk genossen wird, ein bestimmtes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Elite mitverkauft.

In der Informatik-Branche hat Apple zwar einige richtungsweisende Produkte lanciert, die konstant hohen Preise lassen sich nur durchhalten dank einer besonderen Image-Pflege als Branchen-Primus. Viel wichtiger als der Erfolg mit seinen Produkten ist die Tatsache, dass Apple den Musikmarkt total umgekrempelt hat. Anstatt im Bündel von je 15-20 Stück werden jetzt einzelne Titel angeboten. Den nächsten Schritt gingen Firmen wie Netflix und Spotify, die nicht die Titel verkaufen, sondern nur das Vergnügen, einen Titel oder ein Video anzuhören bzw. anzuschauen.

In unseren Städten sind die Versuche allmählich sichtbar, wie man dem Erstickungsproblem, das durch den Individualverkehr verursacht wird, entgegen wirkt. Waren die Mietautos, auch wenn sie auf der Straße stehend angeboten wurden, noch eine Erweiterung eines bestehenden Geschäfts, so sind dies die mietbaren Fahrräder nicht mehr. Hier treten neue Agenten auf, sogar aus Singapur oder direkt aus China.

Disruptive und erhaltende Innovationen

In einem vor kurzem erschienenen Buch [4] betont Christoph Keese, ein Vorstandsmitglied des Axel Springer Verlags, dass es vor allem disruptive Innovationen sind, die bestehende Unternehmen gefährden. Deshalb kann es sinnvoll sein, das eigene Geschäft selbst zu zerstören, bevor es andere tun. Normalerweise sind Unternehmen eher dazu bereit, auf erhaltende Innovationen zu setzen. So blieben beim Übergang von Schellack-Schallplatten auf CDs die Verteilungswege und die Preisstruktur erhalten, anders war es bei der Einführung von Online-Musikläden und Streaming-Angeboten (wie Netflix und Spotify). Disruptive Innovationen kommen meist von außerhalb der bestehenden Branche.

Rolle der Technologie

Technologien sind Wegbereiter oder Ermöglicher (engl.: enabler) von Geschäften. Eine Technologie kann die Rahmenbedingungen eines Geschäfts oder einer Tätigkeit total verändern oder eine völlig neue Art von Angeboten ermöglichen. Umgekehrt gilt: Ohne ein Geschäftsmodell ist eine Technologie meist leblos oder irrelevant.

In einem neueren Buch [3] von Gassmann wird erklärt, dass die zurzeit so viel gerühmte digitale Transformation meist auf einem Dreiklang beruht, der digitalen Technik, einer Geschäftsmodell-Innovation und einer Plattform als Angebotsrahmen. Die Plattform ist einerseits eine Architektur, andererseits ein Ökosystem mit Nutzern und unabhängigen Entwicklern. Oft heißt es, dass Plattformen die Bildung von Monopolen fördern. Das sehe ich anders. Sie erleichtern es neuen Anbietern Fuß zu fassen. Diese können eine teure eigene Investition umgehen, wenn sie sich den vorgegebenen Regeln anpassen. Viel entscheidender ist nämlich, dass bei digitalen Produkten die Reproduktionskosten per Einheit gegen Null tendieren. Dadurch ist der Erstanbieter bevorzugt gegenüber den später in den Markt eintretenden Anbietern. ‚The winner takes it all‘ sang einst die Gruppe ABBA.

Oft ist der Plattform-Anbieter nämlich nicht in der Lage, alle Wünsche der Nutzer abzudecken. Dann ist es für ihn sinnvoll auch Dritten den Zugang zu ermöglichen. Das kann sehr locker erfolgen (wie bei Googles Android), oder aber mit strenger Kontrolle von Sicherheit und Qualität (wie bei Apple).

Das Herangehen an neue Geschäfte erfolgt in der Regel in drei Schritten: Erkunden, Pilotieren und Ausweiten. Dabei kommt es vielfach zu Versuch und Irrtum (engl.: trial and error). Viele neue Chancen lassen sich nur auf diese Weise ausloten. Das ist ein Punkt, bei dem Amerikaner die Europäer regelmäßig abhängen.

Europäische und amerikanische Anbieter

Sehr oft wird die Meinung geäußert, dass wir, was neue Geschäfte anbetrifft, ganz auf amerikanische Firmen angewiesen sind. Die folgenden Beispiele widerlegen dies: Skype stammt aus Estland (gehört heute zu Microsoft), Spotify aus Schweden, Booking.com aus Amsterdam und HRS aus Köln. Flixbus ist ein deutsches Unternehmen mit 100 Mio. Kunden und 250.000 Bus-Verbindungen in 28 Ländern. Die Firma besitzt nur einen einzigen Bus selbst. Sie bietet die Strecke München-Berlin für 9,99 Euro an, neuerdings per Flixtrain auch die Strecke Hamburg-Köln für 19,99 Euro. Bei der Bundesbahn kostet dies das Fünffache.

Nach SAP ist es Wirecard, das als zweite Informatik-Firma in Deutschland den Aufstieg in den DAX schaffte. Bekanntlich listet der DAX die 50 wertvollsten Firmen des Landes. Wirecard, mit Sitz in Aschheim bei München, besitzt 24.000 Kunden in der ganzen Welt, für die es den elektronischen Zahlungsverkehr abwickelt. Darunter sind einige andere DAX-Firmen.

Kundenwünsche und mehr

Jeder Marktteilnehmer muss sich Gedanken über die Wünsche seiner Kunden machen. Dabei geht es nicht nur darum, was sie heute haben möchten. Wie sagte schon Henry Ford: ‚Wenn ich Leute gefragt hätte, was sie wollten, hätten sie schnellere Pferde verlangt‘. Etwas moderner ist dagegen die Aussage eines Vertreters des liechtensteinischen Werkzeugherstellers Hilti AG: ‚Unsere Kunden wollen Löcher, keine Bohrmaschinen‘ [3].

Mit anderen Worten, es reicht nicht heutige Kunden zu befragen. Es ist erforderlich deren Bedürfnisse und Wünsche zu abstrahieren oder zu extrapolieren. Nicht jeder Kunde weiß, was in Zukunft technisch möglich ist. Ein Spezialist eines Fachgebiets sollte da einen Wissensvorsprung haben. Den muss und darf er ausnutzen, zum Nutzen der Kunden und zu seinem eigenen Nutzen. Auch ist es nicht damit getan, nur die Kunden zufrieden zu stellen. Wer sie begeistert, ja entzückt, hat die Nase vorn.

Weitere Referenzen 
  1. Endres, A.: Geschäftsmodelle und Beschäftigungspotentiale in der Software-Industrie. Informatik Forsch. Entw. 21, 1/2 (2006), 99-103  
  2. Gassmann, O., Frankenberger, K., Csik, M.: Geschäftsmodelle entwickeln. 2013
  3. Gassmann, O., Sutter, P.: Digitale Transformation im Unternehmen gestalten. 2016
  4. Keese, C.: Disrupt yourself. 2018

Freitag, 26. Oktober 2018

50 Jahre Software Engineering – Erinnerungen an Garmisch 1968

Es gibt nur wenige Ereignisse, die für die Informatik als ähnlich prägend angesehen werden wie die akademische Anerkennung des Fachgebiets Software-Ingenieurwesens vor 50 Jahren. Für Historiker geschah dies in einem Hotel am Stadtrand von Garmisch im Oktober 1968. Hier wurde ein neues Fachgebiet regelrecht aus der Taufe gehoben. Zumindest erhielt es seine Weihe dadurch, dass eine Gruppe von Akademikern sich mit ihm befasste. Da an der berühmten Tagung nur etwa 60 Kollegen teilnahmen, ist die Wirkung des Ereignisses vor allem dem von Peter Naur und Brian Randell verfassten Bericht zu verdanken. Randell wurde sich der entstehenden Sagenbildung alsbald bewusst und dokumentierte seinerseits die Entstehungsgeschichte der beiden Berichte, nämlich den von Garmisch 1968 und den von Rom 1970. (Auch PDF-Kopien der beiden Berichte erhält man über diesen Link)

Kurze Vorgeschichte

Fast alle Systemprogramme und Anwendungen, mit denen ich seit 1956 zu tun hatte, kann ich nur als solide technische Produkte bezeichnen. Sie waren unter sehr starken Beschränkungen durch die Hardware entstanden, erfüllten jedoch fast immer einen ökonomischen Zweck. Im Laufe der Zeit entstanden immer bessere Hilfsmittel zu ihrer Erstellung, vor allem die so genannten höheren Programmiersprachen. Der Wunsch des Kunden, die Vielfalt der Geräte oder die Komplexität der Anwendung verlangten immer öfter, dass Programme entstanden, die nur mittels ausgefeilter Überlagerungstechnik eine akzeptable Lösung ergaben. Erst die Einführung der virtuellen Speichertechnik brachte eine Erleichterung.

Da der Bedarf an System- und Anwendungs-Software schneller wuchs als alle noch so großen Teams abdecken konnten, entstand das Schlagwort von der Software-Krise. Man lenkte damit die Aufmerksamkeit zu allererst auf ein Mengenproblem. Es könnten noch mehr Rechner eingesetzt werden, wenn es die dafür nötige Software gäbe. Dass es auch ein Qualitätsproblem gab, war nicht vordergründig und für jedermann offensichtlich. Es lag jedoch im Interesse, vor allem von akademischen Autoren, das Qualitätsproblem stärker ins Bewusstsein zu rufen als dies Praktiker taten. Eine Beratergruppe der NATO, zu der unter anderen Friedrich L. Bauer von der TU München gehörte, verstand es, Militärs für dieses Problem zu sensibilisieren. Durch unzuverlässige Software könnte die Schlagkraft des Bündnisses in Mitleidenschaft gezogen werden. Man war daher bereit ein Expertengremien damit zu beauftragen, einen Weg aus dem Software-Dilemma aufzuzeigen.

Teilnehmer und Tagungsstruktur

Die für fünf Tage angesetzte Tagung wurde von einem Triumvirat geleitet. Neben Bauer waren dies H.J. Helms von der TU in Lyngby, Dänemark, und Louis Bolliet von der Universität Grenoble in Frankreich. Drei Gruppenführer sollten die Diskussionen leiten. Sie waren nach Entwickler-Schwerpunkten aufgeteilt: Entwurf unter Alan Perlis, Carnegie-Mellon-Universität Pittsburgh, Produktion unter Peter Naur, Universität Kopenhagen und Service unter Klaus Samelson von der TU München. Nur der Begriff Produktion bedarf hier einer Erklärung. Heute würde man stattdessen Implementierung sagen, also die Überführung eines Entwurfs in ein lauffähiges Produkt. Service umfasst Verteilung, Installation und Wartung.

Die Teilnehmer verteilten sich fast mit gleichem Anteil auf Hochschulen und Industrie in Europa und Nordamerika. Viele damals in Europa ansässigen DV-Hersteller (wie IBM, ICL, CII, Philips, Siemens und Telefunken) und einige amerikanische Software-Häuser waren vertreten. Einige Beobachter des NATO-Stabes oder anderer Behörden ergänzten das Publikum.


Herkunft der Teilnehmer

Zu jedem der drei Schwerpunkte gab es schriftlich eingereichte Stellungnahmen und/oder Impulsvorträge, gefolgt von Plenumsdiskussionen. Alle Veranstaltungen fanden im selben Saal statt. Nur für die Mahlzeiten wechselte man die Räume.

Meine Teilnahme und IBMs Reaktion

Teilnehmen konnte man nur auf Einladung der Tagungsleitung. Meine Einladung verdankte ich Louis Bolliet, den ich aus unserer gemeinsamen Zeit aus New York kannte. Leider war es mir nicht möglich, mir eine ganze Woche freizunehmen. Für Mittwoch hatte sich der IBM-Direktor für Software-Planung angemeldet, der leider früh verstorbene Ted Climis. Ich fuhr also Dienstags Abend nach Hause und am Mittwoch wieder zurück. Als ich Climis sagte, wo ich den Rest der Woche verbrachte, gab es die folgende Belehrung; ‚Sie verschwenden Ihre Zeit. Bilden Sie sich ja nicht ein, dass Hochschulleute Ihnen etwas Brauchbares zum Thema Software-Entwicklung sagen können. Das ist ein industrieller Prozess so wie die Chip-Entwicklung. Da können Hochschulen uns auch nichts sagen.‘ Climis war ein Hüne. Sein Wort hatte Gewicht in der ganzen Firma. Ich fuhr dennoch zurück.

Verlauf und Ergebnisse

Wie eingangs erwähnt, ist diese Tagung ungewöhnlich gut dokumentiert. Ich will daher nicht wiederholen, was anderswo leicht zu erfahren ist. Es waren nicht die normalen Vorträge über akademische Projekte, die mich beeindruckten, noch die spontanen, teils sarkastischen Einwürfe einiger besonders lautstarker Typen.

Einen sehr positiven Eindruck hinterließ bei mir Doug McIlroy. Er war damals Leiter eines Entwicklungsprojekts bei den Bell Laboratories in New Jersey. Er plädierte für die systematische Wiederverwendung von Software durch Baustein-Bibliotheken. Sein Vortrag hieß ‚Mass Produced Software Components‘. McIlroy schlug vor, denselben Weg zu gehen, mit dem die Hardware-Kollegen Erfolg hatten. Zuerst sollte man die Standardfunktionen definieren, die benötigt würden, um daraus große Systeme zusammenzufügen. Dann sollte man von jedem Baustein endlich viele Varianten anfertigen, mal zeit-, mal platzoptimiert, so dass sie unterschiedliche Anforderungen abdecken. Genau diese Idee wandten wir anschließend in Böblingen an, um eine Bibliothek von Bausteinen zu entwickeln, mit denen wir einige Jahre lang großen Erfolg innerhalb der Firma hatten. In den 1990er Jahren gab es einige Alternativ-Vorschläge, die die komponenten-basierte Entwicklung an den Rand drängten. Gemeint sind Muster (engl. pattern) und Plattformen.

Großen Eindruck bei den anwesenden Zuhörern hinterließ der Kollege John Nash aus dem IBM Labor in Hursley, England. Er stellte de facto das Material zur Verfügung, das damals firmenweit zur Schulung von Mitarbeitern in der Software-Entwicklung verwandt wurde. Zum ersten Mal sahen viele der Teilnehmer, vor allem die Hochschulvertreter, welche Faustregeln, Grafiken und Modelle IBM-intern eingesetzt werden. Auch die Kollegen des Forschungslabors in Yorktown Heights, NY, (Andy Kinslow, Ascher Opler, Brian Randell) gewannen Aufmerksamkeit, da sie ausführlich über die Software-Untersuchungen und Modellierungen berichteten, die dort vorgenommen wurden.

Von den akademischen Teilnehmern beeindruckten mich vor allem Alan Perlis und Edsger Dijkstra. Sie trugen weniger Fakten und Daten bei, als wohlüberlegte, teils pointierte Bemerkungen zu den Problemen, die sie erlebt hatten. Einige Dinge, die behandelt wurden, hatten nur einen sehr temporären Charakter. So befasste man sich einen halben Tag lang mit der Frage, ob es sinnvoll sei, Software als kostenpflichtiges Produkt unabhängig von der sie ausführenden Hardware zu verkaufen. Anwesende Vertreter von Software-Häusern konnten sich nicht für die Schöngeister erwärmen, die dafür warben, Software als ‚geistiges Gut‘ anzusehen und nur zu verschenken. Wenige Monate später verkündigte die Firma IBM ihr ‚Unbundling‘. Sie berechnete fortan Software-Produkte separat, reduzierte aber die Hardware-Preise nur geringfügig.

Nachwirkungen und Bewertung

Die Garmischer Tagung hatte ein ganzes Bündel von Nachwirkungen. Sie wirkten auf den verschiedensten Ebenen. Besonders ins Auge fallen mehrere wissenschaftliche Tagungsreihen, die entsprangen. Am bekanntesten ist die International Conference on Software Engineering (abgekürzt ICSE) der IEEE, die seither im 2-jährigen Zyklus stattfindet. Daneben gibt es das European Symposium on Software Engineering (ESEC), ebenfalls alle zwei Jahre, sowie die jährliche Tagung über Software Engineering der Gesellschaft für Informatik (GI). Zusätzlich zu den in den Tagungsbänden veröffentlichten Beiträgen gibt es mehrere neugegründete Zeitschriften, die sich dem Thema Software Engineering widmen, so die IEEE Transactions on Software Engineering.

Die vielleicht größte Nachwirkung bestand darin, dass das Fachgebiet Computerwissenschaften (engl. computer science) entweder umdefiniert oder aufgeteilt wurde. Überspitzt gesagt, die einer Naturwissenschaft nachempfundene Computerwissenschaft wurde um eine Ingenieur-Auffassung ergänzt oder von dieser abgelöst. Es wurde an vielen Hochschulorten der Welt, vor allem aber in den USA, ein zweiter Studiengang eingerichtet. Da in Deutschland mit der Informatik ein anderes Verständnis vorherrscht als im angelsächsischen Raum – darauf einzugehen würde hier zu weit führen – bestand die Notwendigkeit einer Umorientierung nicht. Lediglich die Universität Stuttgart ging diesen Weg. Hier gibt es heute neben der Informatik den Studiengang Softwaretechnik. In ihm findet – anders als der Name suggeriert – keine Beschränkung auf Software statt, sondern nur eine stärkere Betonung der ‚konstruktiven Aspekte‘.

Nach meiner Meinung ist diese Aufteilung, die die Informatik erfuhr, zu bedauern. So wichtig es auch ist, die Bedeutung und die Eigenart von Software zu erklären und zu betonen, so kann dies auch erfolgen unter Beibehaltung des Namens Informatik. Anders ausgedrückt, es tut der Informatik als Ganzer gut, sich stärker mit Software zu befassen. Software ist das Neue, die Technik, die den Fortschrift bestimmt. Software ohne Hardware zu lehren oder zu betrachten, führt dazu, dass suboptimale Lösungen entstehen, oder aber dass der Boden der Realität verlassen wird.

Fachliche Weiterentwicklung des Feldes

In den letzten 50 Jahren hat sich das, was man unter Software Engineering versteht, signifikant weiterentwickelt. Ich kann längst nicht alle Facetten beleuchten. Ich gebe nur einige Schwerpunkte an. Das Ziel, Software mit systematischen Verfahren zu entwickeln und zu bewerten, fand überall großen Anklang. Unter anderem sah sich das amerikanische Militär veranlasst, seine Aktivitäten stärker zu bündeln. Da die Raumfahrt ohnehin in Fragen der Softwaretechnik einsame Spitze darstellte, zogen Heer, Marine und Luftwaffe nach und gründeten ein Software Engineering Institute (SEI) an der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh. Für die technische Leitung gewannen sie meinen früheren IBM-Kollegen Watts Humphrey (1927-2010). Er setzte die bei IBM begonnene Arbeit fort und initiierte ein Software-Prozess-Programm. Zwischen 1986 und 1996 zeichnete er unter anderem verantwortlich für die Entwicklung des Capability Maturity Model (kurz CMM) sowie den Personal Software Process und den Team Software Process.

Humphrey schrieb fast ein Dutzend Bücher, die seine Verfahren begründeten und illustrierten. Einige davon findet man heute in den Institutsbibliotheken führender deutscher Informatik-Institute. Ihre gesamte Auflage erreicht vermutlich nicht ganz die des Bestseller eines anderen Ex-IBMers, nämlich Fred Brooks‘ ‚Mythical Manmonth‘ (geschätzte 300.000). Humphreys Bücher enthalten äußerst wertvolle Ratschläge, sowohl für die technische Seite wie für die organisatorische Seite der Software-Entwicklung. Vieles was er schrieb, probierte er vorher an sich selbst aus. Ein weiterer IBM-Kollege, der sich für die gesamte Branche verdient machte, ist Capers Jones (*1933). Er sammelte Produktivitätsdaten von über 12.000 Projekten von 600 Firmen auf der ganzen Welt, bereitete die Daten auf und bot sie für Vergleichszwecke an. Auch er führte im Ruhestand Arbeiten fort, die er während seiner aktiven IBM-Zeit begonnen hatte.


Finanzielle Geschichte eines SW-Projekts

Zwei Kollegen, die von Praktikern wegen ihrer Beiträge hoch geschätzt werden, sind Barry Boehm (*1935) und Dave Parnas (*1941). Boehm erfand die Methode COCOMO zur Softwarekostenberechnung, das risiko- und kostensenkende Spiral-Vorgehensmodell und eine erweiterte Delphi-Methode (wideband delphi). Parnas verdanken wir das Geheimnisprinzip (Datenkapselung), das eine wesentliche Grundlage der heutigen objektorientierten Programmiersprachen ist. Er engagierte sich gegen das SDI-Programm der USA, ein Raketenabwehr-Projekt, dessen technische Grundlagen sehr unsicher waren.

Dass die Kosten der Software-Entwicklung sowie die Qualität des Produkts erhöhte Aufmerksamkeit erfuhren − auch in akademischen Kreisen − war damals  allgemein zu begrüßen (und ist es auch heute noch). Software-Projekte brauchen kein Abenteuer mehr zu werden. Sie sind planbar, vorhersehbar und kontrollierbar. Nicht ganz denselben Grad an Interesse erreichte bisher das Bemühen, den Wert von Software zu ermitteln. Der Wert ergibt sich aus den Geschäftsmodellen, die verfolgt werden. Davon gibt es viele. Den Wert mit dem Umsatz gleichzusetzen, den man durch Verkauf des Produkts erzielen kann, ist nur eines von vielen. (In einem Blog-Beitrag des Jahres 2016 wurde dieses Thema behandelt)

Ausblick und Fragen

Fast scheint es, als ob die Ziele und Ambitionen, die man mit dem Software Engineering verbindet, beim alten Eisen gelandet sind. Die moderne Zeit hat sie scheinbar überrollt. Das gilt zumindest in zweierlei Hinsicht. Die strenge und systematische Vorgehensweise wird vielfach als Ballast empfunden, den man gern abwirft. Anstatt umfassender Planung bevorzugt man heute wieder das iterative Vorgehen. Man sticht quasi an einer Stelle durch, liefert einen Prototypen aus und verbessert diesen. An die Stelle von ‚clean development‘ tritt ‚lean development‘ oder ‚smart development‘. Die Entwicklungsdauer (engl. time to market) hat in der Regel Vorrang vor Qualität, Kosten, Benutzbarkeit, usw.

Ein anderes Phänomen stellt das Geschäftsmodell und die Marktmacht von Firmen wie Google dar. Ihr Suchdienst wirft derart hohe Gewinne ab, dass sie den eigentlichen Software-Markt total unterlaufen können. Sie ruinieren alle Preise, die man für Software als Produkt erzielen kann, indem sie damit drohen, jedes beliebige Software-Produkt der Welt kostenlos anzubieten. Das ist kein Grund, den Untergang der Software-Industrie vorherzusagen. Jeder muss schließlich das Geschäftsmodell finden und verfolgen, dass ihn trägt.

PS: Sehr lesenswert sind die vor kurzem erschienenen Berichte von zwei Nicht-Teilnehmern der Garmischer Tagung, von Barry Boehm und Manfred Broy.

Montag, 15. Oktober 2018

Wahl in Bayern – ein paar Gedanken danach

Die gestrige Landtagswahl in Bayern hat nach meinem Dafürhalten ein paar Antworten gebracht auch zu Fragen, die überregional von Bedeutung sind. Ich will sie kurz beleuchten. Ich halte das Wahlergebnis nicht für einen epochalen Bruch, sondern für die Fortsetzung eines seit mindestens 5-6 Jahren erkennbaren Trends. Einige meiner Aussagen adressieren Behauptungen oder Vermutungen, die sich in zeitgenössischen Medien festzusetzen scheinen.

Starke Wählerwanderung

Der Vergleich dreier Wahlen in Bayern macht die Wählerwanderungen deutlich, die seit Jahren in diesem Bundesland stattfanden.


Vergleich dreier Wahlen in Bayern

Der große Verlierer, schon bei der letzten Bundestagwahl, war die CSU mit nahezu 9%. Sie verlor jetzt noch einmal, aber nur 1,6%. Anders war es bei der SPD. Sie verlor in beiden Wahlen je 5%. Der große Gewinner dieser Wahl sind die Grünen. Sie konnten sich fast verdoppeln und kamen auf 17,5%. Damit zieht Bayern dem Trend hinterher, der vor 5-6 Jahren in Baden-Württemberg begann. Die AfD konnte keine Gewinne erzielen gegenüber der Bundestagswahl. Sehr hart traf es die FDP. Sie verlor die Hälfte der Wähler, die sie vor einem Jahr hatte. Gewinnen konnten neben den Grünen nur die Freien Wähler (FW). Wählerwanderungen sind ein Zeichen dafür, dass Menschen sich nicht abgehängt fühlen und man der Politik etwas zutraut.

Hohe Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung an Landes-, Bundes- und Europawahlen wird oft als Maßstab für das demokratische Bewusstsein und das politische Interesse der Bevölkerung angesehen. Sie erreichte bei der jetzigen Wahl imposante 72,2 %, gegenüber 63,6% vor vier Jahren. Diese Steigerung ist vor allem der AfD zu verdanken. Ihr Potential war primär bei bisherigen Nicht-Wählern. Im Vergleich zu englischen und amerikanischen Wahlen sind diese Zahlen beeindruckend. Das allseitige Jammern, dass bei uns Politik und Gesellschaft sich verfremden, ist damit widerlegt.

Rechtsruck fand nicht statt

Die AfD scheint ihren Vormarsch in Landesparlamente fortzusetzen, aber mit geringeren Zahlen als sie bei der letzten Bundestagswahl erreichte. Vielleicht ist dies darauf zurückzuführen, dass die gigantische Bundestagsfraktion der AfD den Wählern zeigt, dass außer Lärm nicht viel von dieser Partei zu erwarten ist. Neben Nicht-Wählern sog sie auch von ‚Altparteien‘ ab, aber nur in geringerem Maße.

Rechnet man die Grünen zum Lager der Linksparteien, so ist der Linksdrall deutlicher als der Rechtsruck. Von den 18 zur Wahl stehenden Parteien gehört die Mehrzahl ins linke Lager, wobei dieser Begriff an Bedeutung und Prägnanz verloren hat. CSU, FW und FDP lassen sich als zur klassischen Mitte gehörend verorten.


Angebotsspektrum weitet sich aus

Neben den oben gelisteten sechs Parteien bewarben sich 12 weitere Parteien für den bayrischen Landtag. Aus Respekt für ihre Arbeit und ihren Einsatz möchte ich wenigstens ihre Namen erwähnen: Die Linke, Bayernpartei, Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), Piraten, Die Partei, Mut, Tierschutz, V-Partei, Die Franken, Gesundheitsforscher, Humanisten und Liberal-Konservative Reformer (LKR). Sieben von ihnen kandidierten das erste Mal. Sie  erhielten zusammen 5 % der Stimmen. Bei der Wahl 2013 kandidierten fünf andere Parteien, die jetzt nicht mehr dabei waren: REP, NPD, Frauenliste, Freiheit und Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo). Die Tatsache, dass Parteien kommen und gehen, zeugt für die Bedeutung, die man ihnen beimisst.

Städte wählen anders als das breite Land

In den Städten wie München, Augsburg, Nürnberg, Erlangen usw.  zeigt sich der Wählerwandel am deutlichsten. In Bayern waren traditionsgemäß sämtliche Direktmandate in der Hand der CSU. Zum ersten Mal gewann eine andere Partei eines oder gar mehrere Direktmandate. Es waren die Grünen, die fünf der sechs Münchner Direktmandate gewannen. Dass die beiden Ko-Vorsitzenden, Katharina Schulze und Ludwig Hartmann, dazu gehören, macht die Sache besonders interessant. Es erinnert an Berlin-Kreuzberg, wo Hans-Christian Ströbele mehrmals ein Direktmandat für die Grünen gewann. Es war dies bisher das einzige von Grünen gewonnene Direktmandat.

Hierzu eine Bemerkung: Das in angelsächsischen Ländern bevorzugte Mehrheitswahlrecht kennt nur Direktmandate. Das war in Deutschland bis zum ersten Weltkrieg ebenfalls der Fall. Erst die Weimarer Verfassung führte Verhältniswahlen ein, wodurch die Sitzverteilung mehr an die Gesamtstimmenzahl angepasst wurde. Mit anderen Worten: Eine Partei, die 49,9% der Stimmen hat, aber über kein Direktmandat verfügt, ist sonst nicht im Parlament vertreten. Im Bund, wo beide Wahlformen kombiniert werden, führt dies zu dem Problem der Ausgleichs- und Überhangmandate.

Landesthemen überwiegen

Bei einer Landtagswahl stehen Landesprobleme zur Diskussion. Das klingt wie eine  Weisheit, die zwar unbestritten ist, an die sich jedoch niemand hält. Im Falle Bayern ist diese Problematik ganz offensichtlich und von besonderer Brisanz. Der seit Jahrhunderten schwelende Kampf gegen gesamtdeutsche Belange treibt auch heute noch die seltsamsten Blüten.

Auf Wunsch der CSU hielten sich Angela Merkel und andere CDU-Politiker aus dem bayrischen Wahlkampf heraus. ‚Im Wahlkampf sei ihm ein Bundeskanzler lieber als eine Bundeskanzlerin‘, so wird Markus Söder zitiert. Er ließ sich daher mit dem Österreicher Sebastian Kurz ablichten, aber nicht mit Angela Merkel. Ob dies eine gute Strategie war, darf bezweifelt werden. Auch dass Horst Seehofer Berlin als die Quelle aller seiner Probleme ansah, wird sich noch rächen.

PS: Dies ist Beitrag Nummer 555 seit Januar 2011. Eine solche Ausdauer und Produktivität hatte ich mir selbst nicht zugetraut. 

Donnerstag, 11. Oktober 2018

Erinnerungen an Manfred Roux (1947-2018)

Mit Manfred Roux gedenken wir eines Freundes und Ex-Kollegen, mit dem ich fast während der gesamten Zeit seiner Berufslaufbahn sowie während der gesamten Dauer seiner Rentnerzeit eng zusammenarbeitete. Wir fühlten uns in unseren Interessen und in vielen Ansichten sehr verwandt und sahen uns regelmäßig. Wir wohnten in zwei benachbarten Stadtteilen. Der Altersunterschied von 15 Jahren hatte zur Folge, dass er sehr oft bereit und in der Lage war, mir einen Gefallen zu tun und mir zu helfen. In gewisser Hinsicht war ich sogar von seiner Unterstützung abhängig geworden, insbesondere während der letzten 10 Jahre.


Familie und Studium

Wie aus dem Familiennamen Roux ersichtlich, hatte seine Familie französische Wurzeln. Im Internet findet man den Familienstammbaum. Manfred Roux war der Nachfahre eines Hugenotten, der nach dem Widerruf des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. 1685 Frankreich verließ. Von Vienne im Rhônetal floh François Roux zunächst nach Lausanne. Von dort ging er später nach Thüringen, wo er sich 1703 in Jena als Student der Rechte einschrieb. Er verteidigte 1705 dort seine Dissertation. Er arbeitete anschließend als Sprachlehrer.

Manfred Rouxs Vater lebte zuletzt in der Nähe von Koblenz. Er starb 2016 in Boppard. Er war in den 1960er Jahren längere Zeit für das Beschaffungsamt der Bundeswehr in den USA tätig. Daher erhielt Manfred Roux dort seine Berufsausbildung. Er erwarb 1969 seinen Bachelor in Physik an der Oakland University und 1972 seinen Master of Science (MS) am Illinois Institute of Technology in Chicago, IL.

IBM-Laufbahn

Nach einem zweijährigen Intermezzo als Doktorand am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart, trat er 1974 in den Bereich Software-Qualitätssicherung (engl.: product test) des IBM Labors Böblingen ein. Da um diese Zeit andere Laborbereiche keine Einstellungen vornahmen, war dies ein bewährter Weg, um in die damals sehr begehrte IBM zu gelangen.

Im Jahre 1977 verließ er den Testbereich und wechselte in die eigentliche Softwareentwicklung. Dort bekleidete er ab 1979 verschiedene Aufgaben im Management – Test, Entwicklung, Systementwurf. Ab 1987 leitete er das erste Client-Server-Projekt für System-Management-Software im IBM Labor Böblingen. Ab 1995 übernahm er die Leitung der systemnahen Softwareentwicklung für Betriebssysteme. Ab 1997 leitete er den Bereich Softwareentwicklung für alle Entwicklungen und Services um das IBM Datenbanksystem DB2 in Deutschland. Dazu gehörte auch die Suche und Analyse strukturierter und unstrukturierter Daten (Text und Data Mining).

Bei Mitarbeitern und Kollegen hatte Manfred Roux den Ruf einer ausgeglichenen und starken Persönlichkeit. Er verstand es auf alle Menschen in verbindlicher und interessierter Weise zuzugehen. Personalproblemen ging er nicht aus dem Wege, sondern nahm sich ihrer an. Er war für neue technische Ideen aufgeschlossen und förderte sie gezielt. So galt er als ein starker Unterstützer objekt-orientierter Methoden und netzbasierter Werkzeuge.

Von 2003 bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst der IBM im Jahr 2005 war er verantwortlich für die Beziehungen der IBM zu Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Über diese Tätigkeit sprach er in einem Interview in diesem Blog.



Übergabe einer IBM-Spende an die Uni Paderborn

Er vertrat die IBM Academic Initiative – genauer den deutschsprachigen Teil einer weltweiten Aktivität. Eine ihrer Zielsetzungen war, die Ausbildung junger Menschen mit IBM Produktlinien zu fördern und zu unterstützen. Zu dem Zweck stellt die IBM Studenten und Hochschullehrern fast das gesamte Softwareproduktspektrum kostenlos zur Verfügung. Eine zweite Stoßrichtung war, die Kontakte zu Hochschulen zu intensivieren, um auf diesem Weg die „Besten der Besten“ mit Hilfe der Lehrstuhlinhaber zu identifizieren und später möglicherweise für die IBM zu gewinnen. Dazu gab es verschiedene Studentenprogramme, von denen das Projektpraktikum „Extreme Blue“ wohl das bekannteste war. Manfred Roux verließ die IBM nach 31 Dienstjahren.

Nach-IBM-Zeit

Wie viele seiner früheren Kollegen so betrachtete auch Manfred Roux seinen Ruhestand als Unruhestand. So nahm er acht Jahre lang einen Lehrauftrag in Jena wahr, über den Klaus Küspert weiter unten berichtet. Anschließend hatte Roux einen Lehrauftrag an der Hochschule (FH) in Esslingen. In den Jahren 2013-2014 bot er dort einen Kurs an über Project Management in IT-Projekten.


Als Gast bei Familienfeier 2008

Manfred Roux galt als charmanter Unterhalter. Er war daher ein gern gesehener Gast bei mehreren meiner Familienfeiern. Außer meinem obigen Interview mit ihm enthält mein Blog zwei Beiträge, die von Manfred Roux besorgt wurden. Es sind dies die Interviews mit Klaus Küspert und das mit Namik Hrle.

Reisen durch die Welt

Zu den Themen, über die Manfred Roux und ich uns besonders gerne austauschten, gehörten seine Weltreisen. Unsere letzte Frankreichreise, die uns zur Atlantikküste in La Rochelle und ins Bordeaux führte, profitierte sehr von seinen Ratschlägen. Sehr gut erinnere ich mich an seine Berichte über die Vulkane im Süden Chiles. Lange Zeit stand ein Foto des Pik Orsono auf seiner Homepage. Aber auch die Cinque Terra und Venedig kamen vor, galt er doch als großer Italienfreund. Andere Bilder kamen aus Usbekistan (2017) und dem Iran (2018). Im Folgenden lasse ich einige seiner früheren Kollegen zu Wort kommen.


Pik Orsono, Chile

Stimme aus der Fangemeinde (von Udo Hertz, Böblingen, beim Transatlantik-Flug verfasst)

Ich lernte Manfred 1983 im IBM Labor Böblingen kennen. Er war damals ein junger Abteilungsleiter und ich war von Beginn an sehr beeindruckt von ihm. Manfred war einfach cool. Über Grenzen von Abteilungen hinweg sprach er Kollegen an. Er strahlte eine Lockerheit und Lebensfreude aus, die einfach einladend wirkte. Mit Manfred konnte man super diskutieren, streiten und lachen, über Neues in der IT, über Aktuelles aus der IBM, über die Menschen im Böblinger Programming Lab (BPL), über Kultur und Politik. Er war klug und klar in seinen Gedanken, hatte viel Witz und Humor und insbesondere war er frech, unkonventionell und ein wenig rebellisch.

Manfred war der erste im BPL, der einen IBM Personal Computer in seinem Büro hatte. In den Mittagspausen haben wir an einfachen Computerspielen die Möglichkeiten des PCs erkundet. Wir haben viel über den Bestseller “Gödel, Escher, Bach – ein  Endloses Geflochtenes Band” debattiert und darüber philosophiert, was die Mathematik Gödels, die Kunst Eschers und die Musik Bachs wohl mit der Informatik verbindet. Es machte Spaß.

Ich war nicht der einzige, den Manfred begeistern konnte. Manfred hatte auf viele junge Kollegen einen großen Einfluß. Er stand für eine neue Kultur im IBM Labor, mit Neugier, Offenheit, Spaß und einem kritischen Geist, Engagement zeigend und Neues anpackend! Nicht jeder erlebte seine Direktheit positiv. Wen Manfred nicht mochte, dem begegnete er mit lockeren, aber spitzen und beißenden (sarkastischen) Sprüchen. Für die Betroffenen war das nicht immer leicht wegzustecken.

Mit dem Management und den technischen Leitern aus dem führenden US-Labor in Poughkeepsie gab es mitunter erhebliche Konflikte. Manfred setzte sein Talent ein, um persönliche Beziehungen aufzubauen. Gepaart mit seiner starken interkulturellen Kompetenz konnte er skeptische US-Kollegen überzeugen und zu Freunden gewinnen. So hat er den Respekt für das kleine Software-Labor aus Böblingen gestärkt und auf den Weg zum “global Player” gebracht und viele internationale Freunde in der IBM gewonnen.

Dabei ging es Manfred nicht nur um Harmonie. Er vertrat deutlich seine eigene Position und seine Interessen. Konflikten ging er nicht aus dem Weg, vielmehr konnte er sie bewusst zulassen. Insbesondere gegenüber den USA haben sich das nicht viele Kollegen getraut. Er hatte sich selbst mal als “Stressfresser” bezeichnet.

Manfred prägte einen klaren Management-Stil: Führung ist Beziehungsarbeit – das war sein Motto. Neben dem Labor am Rauhen Kapf in Böblingen gab es damals ein weiteres, eigenständiges Software-Labor auf der Hulb, das German Software Development Lab (GSDL). Manfred war der Richtige, um das GSDL in das Böblinger Labor zu integrieren. Er hatte die Durchsetzungskraft, um neue Strukturen in das Team zu bringen und seine Stärken herauszustellen. Er gewann das Vertrauen der Mitarbeiter für diesen Wandel. Ich kann mich gut erinnern, wie wir in einem Motorrad-Korso den Umzug des GSDL-Teams zum Rauhen Kapf begleitet haben; vorneweg Manfred auf seinem roten Roller im khaki-farbenen Staubmantel.

Manfred führte Veränderung durch und wirkte stets integrativ. Zu seinen Mitarbeitern und Kollegen pflegte er enge Beziehungen. Er hatte immer ein offenes Ohr für sie und kannte daher die Stärken und Schwächen sowie die Lebensumstände seiner Leute genau.

Für mich war es immer ein Highlight, wenn ich mit Manfred Beobachter bei Assessment Center für Führungskräfte sein konnte. Wir saßen oft bis in die Nacht hinein zusammen, um die Führungskompetenzen der Kandidaten zu beschreiben und ein wertvolles Feedback geben zu können. Seine Beschreibungen des Verhaltens der Teilnehmer waren immer treffend, seine Beurteilungen des Potenzials als Führungs-kraft waren fair und hilfreich. Das zeigte eine weitere  seiner Stärken. Für Manfred gehörte ein ehrliches Interesse an den Menschen zum Führungsstil. Daher hatten viele Mitarbeiter ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu ihm. Bei seinen Teams war er sehr beliebt.

Für mich war Manfred mehr als einmal ein wichtiger Mentor. Als ich nach einem Ausflug zum Vertrieb der IBM Europa wieder in die Entwicklung im Labor zurückkehren wollte, gab es zunächst für mich keinen Job. Ich wandte mich an Manfred, der mir schließlich eine Aufgabe als Hauptabteilungsleiter anbot. Für mich war es die Rettung und ein super Einstieg in den Software-Bereich. Direkt für Manfred zu arbeiten war eine tolle Zeit.

Anekdote aus dem Berufsleben (von Kristof Klöckner, Ridgefield, CT)

Mir fällt zu Manfred Roux eine Anekdote ein, die seinen (manchmal etwas sarkastischen) Humor illustriert. An seinem Büro hatte er ein Schild, das ungefähr so lautete:  "Before you enter, please solve all your problems, so that I can help you better". Tatsächlich hat er natürlich doch geholfen, er konnte bloß Jammerer nicht ausstehen. Ich erinnere mich auch, dass er Initiative und vorausschauende Technologieansätze gefördert hat.

‚Wallfahrten‘ nach Andechs (von Paul Gatzhammer, Waldenbuch)

Ab Mitte der 1980er Jahre bis 2004 trafen sich alljährlich etwa ein Dutzend Führungskräfte des Softwarebereichs des Böblinger Labors zu einem Ausflug ins Kloster Andechs am Ammersee. Manfred Roux gehörte zu den Initiatoren und Männern der ersten Stunde. Die Verantwortung für die Organisation wechselte zwischen den Teilnehmern. Man fuhr mit Bahn oder Bus bis nach Pöcking am Starnberger See. Von dort aus führte eine zwei- bis dreistündige Wanderung den Berg hinauf, durch einen Laubwald oder über Felder, am Dorf Erling vorbei, zum berühmten Klosterberg. Dort konnte der Durst mit gutem bayrischen Bier gelöscht werden. Der Rückweg erfolgte meist über einen steilen Waldweg zum Bahnhof in Herrsching am Ammersee. Obwohl diese Ausflüge rein privater Natur waren, haben sie doch zum Zusammenhalt des Teams einen wichtigen Beitrag geleistet und bleiben den Teilnehmern unvergesslich.


Wanderung der IBM-Rentner nach Andechs 1994

Engagement in Jena (von Klaus Küspert, St. Leon-Rot)

Manfred Roux erklärte sich im Frühjahr 2008 erfreulicherweise spontan dazu bereit, als Externer an der Universität Jena die Lehrveranstaltung „Projekt-Management“ zu übernehmen. Hier war durch das überraschende Ableben des vorherigen Lehrbeauftragten, Wilhelm Neuhäuser von IBM, genau zu jener Zeit eine sonst für das Institut für Informatik nur schwer zu schließende Lücke in Lehrangebot und Fachexpertise entstanden.

Interesse an der universitären Lehre allgemein und der zuvor erwähnte eigene familiäre Hintergrund von Rouxs Vorfahren waren hier mit Auslöser für dieses dankenswerte Lehrengagement von Manfred Roux. So hielt er von 2008-15 jedes Sommersemester, insgesamt also über acht Semester hinweg, in Jena die Projekt-Management-Vorlesung. In der Summe bedeutete dies für ihn um die 50 jeweils mehrtägige Jena-Reisen. Er war stets mit großer Begeisterung, die natürlich auch auf die Vorlesungsteilnehmer abfärbte, bei der Sache. Besonders zu würdigen dabei ist, dass ihm die privaten Umstände, Erkrankung seiner Ehefrau, dies alles andere als leicht machten. Aber er hielt an der Jenaer Lehre fest „in guten wie in schlechten Zeiten“. Er wurde folglich durch diesen ungewöhnlich langen Durchführungszeitraum von acht Jahren sozusagen ein „Stück Inventar“ des Jenaer Informatiklehrkörpers mit Anerkennung und Wertschätzung im gesamten Dozentenkreis.

Nachfolgereglung in Jena (von Gerhard Strubbe, Herrenberg)

In den vergangenen 20 Jahren hat mir Manfred Roux häufig bei wichtigen beruflichen Entscheidungen als vertrauensvoller Ratgeber weitergeholfen. Zuletzt, als er mir die Tore zur Friedrich-Schiller-Universität (FSU) in Jena öffnete. Im Jahre 2013 erwähnte ich ihm gegenüber, dass ich mir auch ein Engagement als Dozent vorstellen könnte. Daraufhin gab er mir 2014 die Möglichkeit einen Gastvortrag an der FSU im Rahmen seiner Vorlesung zu halten und mich mit dem Sponsor der Vorlesung, Professor Klaus Küspert, zu treffen. Die gemeinsame Rückfahrt aus Jena nutzten Manfred Roux und ich dann für ein sehr persönliches gegenseitiges Kennenlernen.

Manfred Roux war nicht entgangen, dass mir der Gastvortrag Spaß gemacht hatte. Als er dann 2015 einen Nachfolger für seine Rolle als Dozent für Projektmanagement suchte, unterstützte er meine Bewerbung. Die Tradition der IBM-Dozenten für dieses Thema an der FSU war damit sichergestellt. Die Übergabe gestaltete Manfred Roux pragmatisch, hilfsbereit, umfassend und mut-machend. Es war sicherlich die intensivste Zeit unserer Zusammenarbeit, an die ich immer gerne zurückdenken werde.

Nachbarlicher Nothelfer (von Albert Endres, Sindelfingen)

Manfred Roux galt als sehr praktisch veranlagter und hilfsbereiter Mensch. So hatte er im Umkreis seines Wohnorts 5-6 Kollegen, die sich auf ihn in Sachen häusliche Computerunterstützung verließen. Tat einer meiner im Hause installierten Rechner einmal nicht das, was er sollte, genügte meist ein Telefonanruf. Manfred Roux gab eine Ferndiagnose ab und dazu einen Therapievorschlag, der meist das Problem löste. War das einmal nicht der Fall, schwang er sich auf seinen Motoroller und stand 10 Minuten später mit Helm vor der Haustür. Er kroch unter die Tische, sortierte die Kabel und beschwor den Rechner, bis er sich wieder besann.

Meinen vorletzten Rechner erklärte er irgendwann als rettungslos verkommen. Er schleppte ihn zu einer lokalen Werkstatt. Als man dort nach acht Tagen feststellte, dass er nicht mehr zu reparieren war, kümmerte er sich um eine fachgerechte Entsorgung. Da sich auf meiner Festplatte sensible Daten (z. B. Steuererklärungen) befanden, baute er diese aus und zertrümmerte sie mit einem Hammer. Er bot sich an, mir bei der Beschaffung eines Ersatzrechners behilflich zu sein. Nachdem wir zusammen die Auswahl getroffen hatten, fuhr er in die Nachbarstadt, um mir das Gerät zu holen. Die Angebote der hiesigen Händler seien nicht optimal. Da das Betriebssystem vorinstalliert war, wollte er den Rechner innerhalb weniger Stunden zum Laufen bringen. Als das nicht funktionierte, nahm er ihn über Nacht mit zu sich nach Hause. Am nächsten Tag war auch dieses Problem erledigt.

Familiäres und Tragisches

Von außen gesehen galt uns Manfred Roux als glücklicher Ehemann und vorbildlicher Familienvater. Seine erste Frau Margitta und er hatten zwei erwachsene Kinder, Fiona und Philip, sowie ein Einfamilienhaus. Dennoch wurde er von einem familiären Schicksalsschlag ganz besonderer Härte getroffen. Nachdem sie jahrelang dagegen gekämpft hatte, erlag Margitta im Juli 2012 im Alter von 67 Jahren einem Krebsleiden. Manfred Roux hatte dabei seine Frau in bewunderungswerter Weise gepflegt und unterstützt. Nach der Überwindung dieses Schlages heiratete Roux ein zweites Mal. Das Schicksal wollte es, dass er diese Frau nach kurzer Zeit durch dasselbe Leiden verlor. Dass er ein drittes Mal eine Lebensgefährtin gefunden hatte, erfuhr ich erst dieser Tage.


Von Familie verfasste Todesanzeige

Nachtrag vom 13.10.2018

Gestern verabschiedeten sich weit über 100 Angehörige, Freunde und Ex-Kollegen von Manfred Roux bei einer Trauerfeier auf dem Burghalden-Friedhof in Sindelfingen. Es wurde an seine Jugend in Hamburg und seine Schulzeit in Berlin erinnert, über die er selbst einen persönlichen Rückblick verfasst hatte. Sein Kollege und Freund Udo Hertz ließ seine IBM-Zeit Revue passieren. Vieles davon ist in dem obigen Beitrag enthalten. Außerdem wies Hertz darauf hin, dass Manfred Roux die Beziehungen zu den ehemaligen IBM-Kollegen wie kein anderer pflegte. Dazu gehörten die regelmäßige Teilnahme an den Treffen im Restaurant Hasen in Herrenberg und bei den Veranstaltungen des IBM 25-Jahr-Clubs. Hertz erinnerte auch daran, dass Manfred Roux die Kooperation mit deutschen Informatikprofessoren intensivierte durch die Bildung eines DB2-Arbeitskreises. DB2 ist das Produkt, durch das IBM die von ihr erfundene relationale Datenbank-Technologie in den Markt brachte.


Übrigens flatterte mir gestern ein Foto auf meinen (von Roux installierten) Rechner. Es entstammt dem Album des Programming Centers aus dem Jahr 1992. Es zeigt Manfred Roux, seine Sekretärin und die an ihn berichtenden Abteilungsleiter. Das ist zufällig dasselbe Jahr, in dem ich die IBM verließ, um meinen Ruhestand anzutreten.