Freitag, 29. März 2019

Algorithmen helfen unsere Zukunft zu gestalten – meint Hannah Fry

Hannah Fry (*1984) ist eine rothaarige Mathematikerin irischer Abstammung, die BBC-Zuschauern bestens bekannt ist. Sie lehrt am University College in London, ist verheiratet und hat ein Kind. Ihr Spezialgebiet ist die Untersuchung mathematischer Muster in menschlichen Beziehungen. Ich las ihr Buch Hello World: How to be Human in the Age of the Machine (2018, 256 S.). Auf Deutsch würde der Titel lauten: Hallo Welt: Wie kann man Mensch sein im Zeitalter der Maschine. [Zufällig erinnert der Titel an das Motto der letztjährigen Jubiläumsveranstaltung der deutschen ACM-Sektion: Menschsein mit Algorithmen].

Bedeutung und Klassifikation

Algorithmen breiten sich immer mehr aus. Wir verdanken ihnen Leistungen nicht nur in Technik und Wirtschaft, sondern auch in Medien, Verkehr und Unterhaltung. Wir schaffen uns mit ihnen unsere Zukunft, weil wir dies so wollen. Es ist nicht so, dass sie einfach über uns kommen. Es ist auch nicht unbedingt schlecht. In der Regel werden Dinge besser, wenn sie genauer angepasst und geregelt werden. Algorithmen können uns aber auch einengen, ja die Luft wegnehmen, so wie jede Blumengirlande.

Algorithmen fallen in vier Kategorien: Priorisierung, Klassifikation, Assoziation und Filtern. Sie folgen zwei Paradigmen: Regelbasierung und Maschinelles Lernen. Im zweiten Falle kann es sein, dass wir Menschen nicht verstehen, wie die Maschine lernt. Fry würde dies lieber als ‚Computational Statistics‘ bezeichnen und nicht als Künstliche Intelligenz (KI).

Grenzen und Gefahren

Garri Kasparow ließ sich 1997 von dem Schachprogramm Big Blue irritieren, nicht weil es für komplizierte Situationen viel Zeit in Anspruch nahm, sondern auch für einfache Züge. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Programmierer hatten dies mit Absicht eingebaut, damit das Programm als schwach eingeschätzt wurde. Es fiel Kasparow schwer zu akzeptieren, dass bei dem  Programm Big Blue alles mit rechten Dingen zuging. Die Intelligenz von Computern habe ja nur das Niveau eines Wurms erreicht. Menschen erlaubt man es noch eher, Fehler zu machen als einem Algorithmus. Schön ist die Geschichte, die Fry von Flugzeug-Piloten berichtet. Es brauche Dreierlei, um ein Flugzeug zu fliegen: einen Computer, einen Piloten und einen Hund. Der Pilot sei da, um den Hund zu füttern.  Die Aufgabe des Hundes sei es, den Piloten zu beißen, sobald dieser den Computer berührt.

Was der Firma Cambridge Analytica vorgeworfen wurde, war die Anwendung von Forschungsergebnissen, wie sie vorher auch von Clinton und Obama ausgenutzt wurden. So gelte als erwiesen, dass die Wähler der Republikaner eher Ford-Autos fahren als die der Demokraten. Der tatsächliche Effekt dieser genauen Gliederung des Wahlvolks (engl. micro-targeting) sei jedoch gering. Die freie Nutzung von Daten zähle zu den Stärken und Schwächen des Kapitalismus. Die Chinesen scheinen dies jedoch auf die Spitze zu  treiben. Europa dagegen ränge um einen Mittelweg. Die Datenschutz-Grundverordnung (engl. General Data Protection Regulation, Abk. GDPR) fände bereits Nachahmer in Argentinien, Brasilien und Südkorea.

Algorithmen in der Rechtsprechung und Verbrechensbekämpfung

Es ist nicht zu verkennen, dass unterschiedliche Richter für dasselbe Verbrechen unterschiedliche Strafen verhängen. Dasselbe trifft bei Begnadigungen und Bewährungen zu, für die das zukünftige Verhalten des Sträflings abgeschätzt wird. Man darf annehmen, dass in beiden Fällen Algorithmen zu Verbesserungen führen können. Die Kosten für einen Platz im Gefängnis sind nämlich in derselben Größenordnung wie die für einen Studienplatz in Harvard. Fehleinschätzungen können zu großem Schaden führen.

Es gibt geografische Muster für verschiedene Arten von Verbrechen, z. B. Einbruch und Vergewaltigungen. Auch sind sie nach Geschlecht und Alter unterschiedlich häufig. Die Anfälligkeit ist bei jungen Männern anders als bei Frauen. In allen Großstädten der Welt nutzt die Polizei Daten aus der Vergangenheit, um ihre Kontrollen zu verbessern. Vorhersagen zu treffen bezüglich der statistischen Wahrscheinlichkeit von Verbrechen ist möglich, nicht jedoch bezüglich des genauen Ortes und der involvierten Personen.

Die in der Gesichtserkennung benutzten Algorithmen haben in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Sie finden vielfache Anwendungen, etwa im Gebäudezugang oder bei der Identifizierung von Handy-Besitzern. Beim Versuch, die automatische Gesichtserkennung bei der Identifizierung von Verbrechern einzusetzen, ist Vorsicht geboten. Hier sind DNA-Analysen wesentlich zuverlässiger.

In allen Fällen von Erkennungsproblemen und Vorhersagen kann es falsche Negative und falsche Positive geben, egal ob sie von Menschen oder von Algorithmen getroffen werden. Bei den falschen Negativen werden Fälle nicht erkannt, die erkannt werden müssten. Bei den falschen Positiven werden Fälle als zutreffend angegeben, die es nicht sind. Mal gibt es zu wenige Treffer, mal zu viele. Bei Algorithmen dienen explizite Regeln oder konkrete Daten als Basis. Es entspricht eher dem, was Daniel Kahneman als langsames Denken bezeichnet und nicht dem schnellen, intuitiven Denken, das im normalen Leben vorherrscht.

Algorithmen in der Medizin

Manche Tiere sind dem Menschen überlegen, was die Mustererkennung betrifft. So ist nachgewiesen, dass Tauben Brustkrebs am Bildschirm genauso gut erkennen können wie ein Pathologe. Moderne Algorithmen sollen mehr falsche Negative haben als ein Mensch, aber weniger falsche Positive.

Die Technik der Neuronalen Netze setzt sich immer mehr durch, vor allem seit der Kanadier Geoffrey Hinton ‚deep learning‘.erfunden hat [Hinton ist einer der Träger des Turing-Preises der ACM für 2018]. Je komplexer Netze werden, umso weniger können wir nachvollziehen, welche Daten wichtig waren.

IBMs Watson konnte seine Erwartungen in der Medizin bisher nicht erfüllen. Es mag daran liegen, dass medizinische Daten weniger gut strukturiert und weniger gut verknüpft sind, als die anderer Gebiete. Die englischen Krankenhäuser des NHS-Verbunds lehnen Raucher und Übergewichtige ab, wenn sie Knie- oder Hüftoperationen haben wollen. Ein privater Dienst (23andMe) besitzt genetische Daten von zwei Millionen Menschen, die für medizinische Zwecke verwandt werden können.

Algorithmen in der Technik

Über die vielen Anwendungen, die es in der Technik bereits gibt, wird wenig öffentlich diskutiert. Anders ist es mit dem autonomen Fahren. Hier rät die Autorin davon ab, zu viel zu erwarten oder zu verlangen. Ihr gefiel die Position eines Vertreters von Mercedes-Benz, der auf einer Fachtagung sagte, dass es ihre primäre Aufgabe sei, die Überlebenschancen ihrer Kunden zu verbessern. Systeme, die der Fahrerassistenz dienten, hätten Vorrang. Es gäbe immer noch zu viel Tote im Straßenverkehr. Für ihn könnten fahrerlose Autos anfangs ruhig im Konvoy fahren, was ja für Lastwagen durchaus Sinn macht.

Mathematisch gesehen sei Bayes‘ Theorem ein zentrales Werkzeug. Es gestatte es, Wissen graduell hinzuzufügen und damit die Zuverlässigkeit und Relevanz einer Lösung zu verbessern.

Algorithmen in der Kunst

Als weiteres Gebiet für die Anwendung von Algorithmen sieht Fry die Kunst. Dabei stieße man auf die Frage, was Qualität oder Schönheit sei. Natürlich ließe sich Musik im Stile Bachs komponieren, wenn man als Grundbaustein Bachs Akkorde verwende, [Da fällt mir ein, dass ich vor Jahren über ein Programm aus Amsterdam las, das wie Rembrandt malte]. Doug Hofstadter (*1955) stelle die Forderung auf, dass ein Programm, das Kunst erzeugt, echt schöpferisch sein müsste. Ob das sinnvoll ist, sei dahingestellt.

Schlussgedanken

Es sollte in offenen Diskussionen darüber gesprochen werden, was Algorithmen leisten können. Es wäre falsch, sie pauschal zu verdammen. Natürlich können Algorithmen Fehler enthalten oder einfach schlecht sein. Auch Menschen machen Fehler. Computer, d.h. Algorithmen, können helfen diese zu vermeiden oder ihre Folgen zu reduzieren. Es wäre dumm, wenn wir dies nicht täten. Was wir Menschen an Problemlösungen lernen, wird sich in anerkannten Algorithmen niederschlagen. Man sollte diese Form des Lernens nicht kleinreden oder unterschätzen. Dass die Autorin gewohnt ist, vor einem interessierten, aber kritischen Publikum aufzutreten, ist unverkennbar.

Montag, 25. März 2019

Urheberrecht in der Diskussion (zusammen mit Enkel Marcus)

Wie kein anderes juristisches Thema haben Urheber- und Patentrecht mich immer beschäftigt. Es geht dabei um die Definition und den Schutz des geistigen Eigentums. Der Begriff des geistigen Eigentums entstand in Europa im 18. Jahrhundert. Davor gehörte alles, was jemand schaffen konnte, gleich ob mit den Armen oder dem Kopf, dem obersten Herrscher, also meist dem König. Immanuel Kant (1724-1804) sah es noch als ungeheuerlich an, dass Buchdrucker schonungslos bereits erschienene Bücher nachdruckten. Der folgende Beitrag beginnt mit einigen zurückliegenden Betrachtungen, um sich dann der aktuellen Diskussion des Urheberrechts (UrhG) zuzuwenden. Der Teil über die geplante EU-Reform stammt von meinem 21-jährigen Enkel.

Persönliche Erfahrung

Kurz nach  Erscheinen des Endres-Fellner-Buchs [1] im Jahre 2000 flatterte mir der Brief eines deutschen Unternehmens ins Haus. Er enthielt die Aufforderung, entweder das Buch wegen Urheberrechtsverletzung aus dem Verkehr zu ziehen oder 600 DM zu zahlen. Ich hätte auf Seite 51 des 400-Seiten umfassenden Buches ein Foto verwandt, auf das diese Firma ein exklusives Recht besäße. Als ich meinen Verleger über den Brief informierte, schlug dieser vor, die 600 DM zu zahlen, da jeder Widerstand erheblich höhere Anwaltskosten verschlänge.

 Echternacher Skriptorium

Ich erwiderte, dass ich nicht daran dächte zu zahlen. Ich schrieb einen Brief zurück, etwa mit dem folgenden Inhalt. Das Foto stellt eine Seite dar im Evangeliar Heinrichs III. Das Buchmanuskript wurde im Jahre 1040 erstellt. Das Original befindet sich heute in der Universitätsbibliothek Bremen. Das Foto, das ich benutzte, wurde von Paul Spang, dem früheren Leiter des Nationalarchivs Luxemburg, anlässlich einer Ausstellung des Originals in Luxemburg gemacht. Wer früher oder später Aufnahmen desselben Objekts gemacht hat, hat keinerlei Rechte an den Aufnahmen anderer Leute erworben. Das Originaldokument sei jedenfalls frei von Urheberrechten – nicht nur wegen seines Alters. Ich hörte nie wieder etwas in dieser Angelegenheit.

NB: Der lateinische Text über dem Gebäude im Bild lautet: ‚O König, dieser Ort, der Dir gehört, wartet Tag und Nacht auf Deine Gnade‘. Ohne die Huld  des Königs wären die Insassen des Klosters buchstäblich verhungert. Rund 20 Dörfer im Umkreis lieferten Naturalien und Geld.

Leistungsschutzrecht

Auf Drängen der Verlage wurde 2013 in Deutschland das Leistungsschutzrecht für Presseverlage im Urheberrechtsgesetz verankert. Es besagt, dass Verlage das ausschließliche Recht an der Veröffentlichung von journalistischen Beiträgen besitzen. Ausgenommen sind kurze Zitate. Suchmaschinen wie Google werden dadurch eingeschränkt, ausführlich aus Pressebeiträgen für ihre News-Aufbereitung zu zitieren oder sie gar in Gänze ins Netz zu stellen. Sie müssen dafür im Zweifel Geld an die Verlage zahlen.

Das Leistungsschutzrecht hat sich in Deutschland als vollkommen wirkungslos herausgestellt. Die Kosten zur Durchsetzung der Ansprüche übersteigen bei Weitem die Einkünfte der Verlage daraus. Große Verlage wie Axel Springer hatten nichts Eiligeres zu tun, als Google zu versichern, dass man ihre Texte auch weiterhin kostenlos verwenden darf. Im Übrigen weist Springer daraufhin, dass die Gewinne aus Druckerzeugnissen längst von den vielen Internet-Diensten übertroffen werden, welche die Axel Springer AG inzwischen erworben hat. Die vier größten sind StepStone (Stellenbörse), Immonet (Immobilien-Portal), Idealo (Preisvergleichs-Portal) und KaufDA (Prospektdienst). Wie heißt es doch so schön: Wer bleiben will, muss sich ändern.

Demos gegen EU-Reform des UrhG

Am 23.03. demonstrierten bundesweit in rund 40 Städten Hunderttausende gegen die aktuelle EU-Urheberrechtsreform, über die voraussichtlich am 26.03. im EU-Parlament abgestimmt wird. Zuvor fand sie Ihren Weg durch die Trilog-Verhandlungen, es ist folglich die letzte Möglichkeit sie abzuwenden, bevor die Mitgliedstaaten sie binnen zweier Jahre in geltendes Recht umsetzen müssen. Allein in München und Berlin konnten je 40.000 Teilnehmer mobilisiert werden. Organisiert und unterstützt wurden die Demonstrationen unter anderem von der Piratenpartei, der FDP, den Grünen, den Linken sowie ihren zugehörigen Jugendorganisationen. Zuvor konnten in einer Online-Petition bereits fünf Millionen Unterschriften gesammelt werden.

Doch worum geht es? Auch wenn mittlerweile die Berichterstattung aufgeholt hat und sich Tagesschau und Zeitschriften dem Thema annehmen, ist der Diskurs noch nicht zu allen vorgedrungen. Ein Diskurs, der die Internetgemeinde schon seit Monaten beschäftigt. Ein Diskurs über eine Reform, die vor neun Monaten bereits abgelehnt aber nun reanimiert wurde. Die grundlegende Idee ist es, dass Urheber- und Leistungsschutzrecht an das 21. Jahrhundert angepasst werden. Das dies notwendig ist, dabei sind sich alle Parteien einig. Nur die Form der Umsetzung wird kritisiert, genauer die Artikel 11 bis 13 der Reform.



Demo in München am 23.3.2019

Anmerkung: In der endgültigen Abstimmungsvorlage, die am 20.3. veröffentlicht wurde, wurden die Artikel auf die Ränge 15-17 verschoben, inhaltlich gab es keine Änderungen. Um Kontinuität mit der allgemeinen Berichterstattung zu wahren, werden im Folgenden die ursprünglichen Bezeichnungen verwendet. Nachfolgend fasse ich die Artikel zusammen. Da dies nicht frei von meiner Meinung ist, sei jedem Leser ans Herz gelegt, das Original zu studieren:

Artikel 11 (S.116-118)

Artikel 11 ist im Grunde das zuvor schon erwähnte Leistungsschutzrecht für Presseverlage, nur eben auf europäische Ebene. Dass auch Spanien mit der Idee einer Link-Steuer bereits schlechte Erfahrungen gemacht hat, wurde hierbei ignoriert. Dort hat Google seinen News-Dienst in Gänze eingestellt, was den Verlagen Einbrüche in den Aufrufzahlen von 15-20% bescherte. Dieses 'Erfolgsmodell' soll nun also allen Mitgliedstaaten aufgezwungen werden. Kritiker befürchten, dass Google in Folge nur die Links als solche, ohne Vorschautexte und Bilder, anzeigen wird oder sie gänzlich aus dem Angebot nimmt.

Fake News und Klatschblätter hingegen, die auf ihr Leistungsschutzrecht verzichten werden, würden dadurch prominenter in Übersichten wie Google News auftreten, was die Flut an Desinformationen befeuern würde. Sollte Google seinen News-Dienst einstellen, wie dies auch in Spanien der Fall war, würde dies insbesondere kleinen Verlagen schaden. Zudem würden auch kleinere Plattformen mit weniger Verhandlungsmacht als Google unter diesen Auflagen leiden, denn wer alles unter den Begriff “Information Society Service Providers” fällt ist in der Richtlinie nicht klar definiert, es könnten also auch Blogs und Foren betroffen sein.

Artikel 12 (S.119)

Artikel 12 findet in der Diskussion wenig Beachtung, entlarvt aber, wessen Interessen in der Reform vertreten werden. Der Artikel versucht umzukehren, was der europäische Gerichtshof im Jahre 2015 beschlossen hat und zwar, dass die Pauschalabgaben der Verwertungsgesellschaften (VG Wort, VG Bild, Gema) den Urhebern zustehen und nicht wie zuvor, zwischen diesen und den Verlagen aufgeteilt werden. Die Pauschalabgabe (auch Vergütung für Leerdatenträger oder Speichermedien genannt) wird auf jedes verkaufte, kopierfähige Medium (USB-Sticks, Festplatten, Smartphones) aufgeschlagen. Sie reichen von wenigen Cents für CD-Rohlinge bis zu 50€ im Falle von DVD-Recordern. Von diesen Geldern sollen Urheber für den Schaden kompensiert werden, der ihnen durch Privatkopien entstehen würde, diese sind im Gegenzug legal. Durch Artikel 12 sollen die Verlage in Zukunft wieder mit bis zu 50% beteiligt werden. Dies gibt dem propagierten Ziel, man würde die Urheber stärken wollen, einen faden Beigeschmack.

Artikel 13 (S.120-129)

Artikel 13 ist der umstrittenste Artikel und mittlerweile für Demonstranten bereits ein Kampfbegriff. Betroffen sind “Online Plattformen, deren Hauptzweck es ist, urheberrechtlich geschützte Werke zugänglich zu machen”, die vage Formulierung lässt abermals offen, wer alles davon betroffen ist. Es existieren jedoch explizite Ausnahmen, so etwa:

  • not-for-profit online encyclopedias
  • not-for-profit educational and scientific repositories
  • open source software-developing and sharing platforms
  • electronic communication service providers
  • online marketplaces
  • business-to-business cloud services and cloud services that allow users to upload content for their own use
Wikipedia, ebay und Dropbox konnten also ihren Kopf aus der Schlinge ziehen. Um zusätzlich Start-Ups zu entlasten, greifen für diese die Auflagen erst, wenn sie älter als drei Jahre sind, einen Umsatz von 10 Millionen Euro verbuchen oder mehr als fünf Millionen monatliche Besucher aufweisen (S.124). Da es bereits reicht einer der drei Auflagen nicht zu genügen, wird stark bezweifelt, dass nicht doch ein hoher Anteil an Start-Ups betroffen sein wird. Zwei grundlegende Dinge sieht der Artikel vor:
  • Die betroffenen Plattformen sollen mit sämtlichen Rechteinhabern Lizenzvereinbarungen treffen. Dies wird kritisch betrachtet, da jeder ein Urheber sein kann und es somit potenziell sieben Milliarden Rechteinhaber gibt, mit denen jede Plattform in Kontakt treten und Lizenzvereinbarungen schließen müsste.
  • Urheberrechtlich geschützte Inhalte, zu denen es keine Lizenzvereinbarungen gibt, dürfen nicht auf die Plattform gelangen. Zwar wird im Entwurf nicht vorgeschrieben wie dies realisiert werden soll, doch scheint an so genannten Upload-Filtern kein Weg vorbei zu führen.

Was bewirken Upload-Filter?

Upload-Filter sollen bereits beim hochladen urheberrechtlich geschütztes Material erkennen können und den Upload verhindern. Zuvor herrschte das Prinzip Notice- and Takedown. Sobald ein Rechtsbruch gemeldet wurde, die Plattform also davon wusste, musste sie den Inhalt entfernen. Nun sollen die Verhältnisse umgekehrt werden, denn es haften für diese Rechtsbrüche in Zukunft die Plattformen und nicht mehr die Nutzer. Ob also der Nutzer Bertal Dresen oder Youtube selbst einen Spielfilm hochlädt, macht somit formal keinen Unterschied mehr. Kritiker fürchten, dass es dadurch zu Overblocking kommen wird, Plattformen also im Zweifelsfall Inhalte sperren werden, auch wenn diese legal gewesen wären.

Dass Upload-Filter in der Lage sind, Parodien und Zitate zu erkennen darf zurecht bezweifelt werden. Wer hier vom Einsatz künstlicher Intelligenz spricht überschätzt diese maßlos. Ihm sei der Dokumentarfilm “the cleaners” empfohlen. Er handelt von Niedriglöhnern auf den Philippinen, die zu hunderten Facebook von gewaltverherrlichenden oder sexuellen Inhalten bereinigen. Zu entscheiden, welche Inhalte unter das Zitatrecht fallen, wäre selbst für jene schwierig, die unserer Sprache mächtig sind. Die Sorge der Demonstranten um ihre Meinungsfreiheit ist nicht unbegründet. Filter beinhalten auch finanzielle Risiken für Urheber, deren Inhalte zu Unrecht geblockt werden, denn bis diese wieder entsperrt werden haben sie stark an Aktualität eingebüßt, was das schnelllebigen Internet mit Irrelevanz straft.

Mit Overblocking hat die Netzgemeinde zudem bereits schlechte Erfahrungen gemacht. Das unter Heiko Maas verabschiedet Netzwerkdurchsetzungsgesetz (kurz: NetzDG), welches Plattformen in die Haftung für Hate-Speech und FakeNews nehmen sollte, führte binnen weniger Tage zur Sperrung des Twitter-Accounts des Satire-Magazins Titanic.

Ein weiteres Risiko von Upload-Filtern sieht der Bundesdatenschutzbeauftragte darin, dass es Großkonzerne wie Google oder Facebook sein werden, die die Mittel haben, entsprechende Filtertechnologie zu entwickeln und damit ihr Monopol ausbauen und andere Plattformen von sich abhängig machen können. Jeder Upload im Netz würde somit über Google laufen, die zusätzlich die Datenbank bereitstellen würden, in der Urheber ihre Werke zur Filterung hinterlegen müssten. Google verfügt nämlich bereits über Filtertechnologie. Dem sogenannten Content-ID System, dessen Entwicklung 60 Millionen US-Dollar kostete. Es filtert Inhalte auf Youtube oder leitet die Monetarisierung dieser direkt an die Rechteinhaber weiter.

Eine weitere Befürchtung der Kritiker ist es, dass durch solche Filter bereits eine Zensur-Infrastruktur geschaffen würde. In der Richtlinie wird angeführt dass es durch diese Filter nicht zu Zensur kommen dürfe, dieses Zugeständnis reicht Netzaktivisten jedoch nicht. Fairerweise sollte erwähnt werden, dass in der Richtlinie auch auf Verhältnismäßigkeit verwiesen wird. Darauf könnten sich kleinere Plattformen berufen, um den Erwerb von Filtertechnologie zu umgehen.

Das eigentliche Ärgernis

Die Urheberrechtsreform ist im Grunde gut, hat jedoch gewisse Makel. Das Hauptproblem, das den Konflikt befeuert ist jedoch, wie mit den Gegnern umgegangen wird. Die stärksten Befürworter der Reform sind der Axel Springer Verlag, die FAZ, die GEMA sowie die CDU/CSU-Fraktion im Europaparlament.

Statt auf die Sorgen der Kritiker oder deren Argumente und Gegenvorschläge einzugehen, wurde gegen sie geschossen. Man unterstellte ihnen Unwissenheit und dass sie sich von der Konzernlobby blenden ließen. Micki Meuser (bürgerlich Hans Georg Meuser) Aufsichtsratsmitglied der GEMA meinte am 9.3 in der Welt “Wer schon immer mal beobachten wollte, mit welcher Macht milliardenschwere Wirtschaftsmonopole einer Gesellschaft das Gehirn waschen und eine verlogene Debatte aufzwingen können, kann das zurzeit live tun.”

Jüngst geisterte das Gerücht, die Demonstrationen seien gekauft durch die Medien. 450€ pro Demonstrant sollen geflossen seien. Ich warte bis heute auf meine Bezahlung. Verbreitet wurde dieses Gerücht vom Vorsitzenden der CDU/CSU-Gruppe Daniel Caspary. Bild und FAZ griffen dies direkt auf. Es wimmelt von Aussagen, die von Doppelmoral triefen. So war es doch die Verlagslobby unter Axel Springer, die täglich in Brüssel verkehrte. Eine blanke Lüge von denen, die den Demonstranten unterstellten, sie würden von Desinformationen und Fake News fehlgeleitet. So etwa der Europa-Abgeordnete Axel Voss (CDU), der einer der Hauptakteure in diesem Konflikt ist und sich bereits zum Antagonisten dieses Dramas aufgeschwungen hat. Sein Kollege Sven Schulze stellte zudem die Vermutung auf, es würde sich bei den vielen Protesten im Internet um Bots handeln, was dazu führte, dass der Ausruf “Wir sind keine Bots” die Demos dominierte.

Unwissenheit zu unterstellen ist ein Affront für alle Experten, die sich bereits gegen Upload-Filter und die Reform aussprachen, wie etwa der Bundesdatenschutzbeauftragte, verschiedene Menschenrechtsorganisationen, Medienrechtsanwälte, sowie Wissenschaftler aus dem Fachbereich Medienrecht/Medieninformatik (darunter Dr. Stephan Dreyer, Prof. Dr. Matzner, Prof. Dr. Gallwitz, Prof. Dr. Gostmozyk, Prof. Dr. Hotho, Prof. Dr. Liwicki, Prof. Dr. Keber), aber auch die Piratenpartei, die FDP, die Grünen sowie jüngst die SPD. Es ist traurig, wenn ein Diskurs statt auf Fakten auf Verunglimpfungen beruht. So schrieb Micki Meuser am 22.2. auf Facebook über den Blogger, Journalist und Autor Sascha Lobo, dass dieser ein verdammter Lügner und entweder dumm oder von Google/Youtube gekauft sei. Man solle sich aussuchen, was schlimmer ist. Auslöser war dessen Kolumne gegen die Urheberrechtsreform auf Spiegel Online.

Eine weitere Desinformation, die gestreut wird, ist es, dass die Demonstranten gegen das Urheberrecht seien. Das wurde nie gesagt, doch Befürworter der Reform segeln unter dem Banner “Ja zum Copyright” und argumentieren für das Urheberrecht statt für Upload-Filter, da es offensichtlich der einfachere Weg ist. Zu Frust führte die Tatsache, dass die Reform hinter verschlossenen Türen verhandelt wurde. Ohne Julia Reda, die als einzige der Piratenpartei im EU-Parlament sitzt, wäre die Reform und deren Inhalt nicht an die Öffentlichkeit geraten.

Als daraufhin für den 23.3. die Demonstrationen in 40 deutschen Städten angekündigt wurden, stellte Manfred Weber von der CSU den Antrag, die Abstimmung vor diese Demos zu ziehen. Als Reaktion folgten Eildemos und innerhalb von 24 Stunden kamen in München, Köln und Berlin je 2000 Aktivisten zusammen, die sich gegen dieses undemokratische Verhalten stark machten. Besonders enttäuschend ist auch die Tatsache, dass sich die GroKo in ihrem Koalitionsvertrag explizit gegen Upload-Filter stellte, meinte dass es diese mit ihr nicht geben würde, aber auf europäischer Ebene zustimmte. Diese Verprellungen durch die CDU/CSU führten dazu, dass der Ausruf “nie wieder CDU” ebenfalls häufig mit den Demos einherging.

Bewertung

Wenn Trumps Rhetorik, Gegenstimmen als Lügner und Fake News zu bezeichnen und Verschwörungstheorien zu verbreiten, gerügt wird, dann aber dieselbe Rhetorik genutzt wird, sobald es sich im eigenen Kontext anbietet, spricht Sascha Lobo zu Recht von Bigotterie. Wenn fünf Millionen Stimmen in einer Petition und über 100.000 Demonstranten auf den Straßen keine Wirkung zu scheinen haben, außer dass diese abgewertet werden oder sich hämische Kommentare der Volksvertreter zuziehen, dann ist eine frisch politisierte Jugend zu Recht desillusioniert. Wenn dies das Gesicht ist, das Europa seinen Freunden und stärksten Unterstützern zeigt, dann ist das zu Recht furchtbar schade.

Referenz

1. Endres, A., Fellner, D.F.: Digitale Bibliotheken. 2000

Freitag, 22. März 2019

Perspektiven des Denkens - ein Zettelkasten (von Peter Hiemann)

Den heutigen Beitrag bezeichnet Peter Hiemann als einen Zettelkasten. Der Ausdruck ist allen Schülern und Anhängern von Niklas Luhmann ein Begriff. Der bekannte Bielefelder Soziologe hinterließ nämlich einen zwei Meter breiten Schrank voller handschriftlicher Aufzeichnungen. Hier dokumentierte er, was er gelesen hatte, und welche Ideen sich ihm beim Lesen einstellten.

Hiemann nennt seinen Essay ,Perspektivenwechsel'. Er will damit sagen, dass sich viele Phänomene oder Systeme aus ganz unterschiedlichen Winkeln betrachten lassen. Ein typisches Beispiel ist der Unterschied zwischen Struktur und Ablauf. Die Physik, aber vor allem Biologie und Soziologie bieten sehr schöne Beispiele.

Es enspricht der Idee eines Zettelkastens, dass auch Aussagen gemacht werden zu Dingen, die man nicht erwartet hatte, etwa der Klassifizierung von Informatik-Anwendungen in 'sinnvoll' und 'fragwürdig'. Dieses Thema wurde des Öfteren in Diskussionen zwischen Hieman und mir angeschnitten. Mein letzter Blog-Beitrag enthält Einiges, das in diese Richtung zeigt.

Sie können Hiemanns heutigen Essay lesen, indem sie hier klicken..

Mittwoch, 13. März 2019

Informatiker und Gesellschaft – eine Selbstdiagnose

In vielen öffentlichen Diskussionen wird der Eindruck vermittelt, dass alles besser würde, wenn mehr auf Experten gehört würde. Die Informatik und damit die Informatiker kommen immer dann ins Spiel, wenn Themen wie Automatisierung, Informationsverbreitung, öffentliche Beteiligung und Überwachung im Vordergrund stehen. Im Folgenden wird versucht zu umreißen, welche Beiträge hier von Informatikern mit Recht zu erwarten sind. Das Wort Informatiker steht hier für alle Stufen der beruflichen Qualifikation, für alle damit verbundenen Tätigkeitsprofile und für Vertreter beider bzw. aller Geschlechter.

Selbstbild des Informatikers

Als Informatiker versteht sich jemand, der aufgrund seiner Ausbildung und/oder Erfahrung in der Lage ist, informationsverarbeitende Prozesse zu automatisieren. Solche Prozesse sind in sehr vielen Geschäftsfeldern zu finden, in vielen professionellen und nicht-professionellen Tätigkeiten, im Privatbereich wie in der Wirtschaft und der Gesellschaft. Für die Automatisierung zugänglich sind solche Prozesse, bei denen die benötigten Daten digital erfasst werden können oder bereits in digitalisierter Form vorliegen.

Die Automatisierung ist immer dann sinnvoll, d.h. erstrebenswert, wenn der Umfang der Daten erheblich ist, die Verarbeitung schnell und die Verteilung der Ergebnisse weiträumig geschehen soll, oder wenn ein hohes Maß an Zuverlässigkeit erreicht werden soll. Die Automatisierung erfolgt heute (fast) immer durch den Einsatz programmgesteuerter Maschinen, die sowohl als Einzelprozessoren wie als Verbundnetz in Erscheinung treten. Der menschliche Aspekt der Informationsverarbeitung kann an unterschiedlichen Stellen zum Tragen kommen. Menschen sind entweder Gestalter, Betroffene oder Nutzer. Sie bestimmen Sinn, Wert und Form.

Jemand betrachtet sich als Informatiker, wenn seine Informatik-Kompetenz für sein berufliches Auskommen bestimmend ist. Bei einer Vielzahl von anderen Berufen können gewisse Informatik-Kompetenzen nützlich sein.

Gesellschaft und ihre Bedürfnisse

Das Wort Gesellschaft wird hier als Abstraktion aufgefasst für eine Vielzahl von Ausprägungen wie Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Gemeinde, Berufs- oder Altersgruppe, Sprachgemeinschaft oder Staatsvolk. Da alle diese Ausprägungen sich sehr unterscheiden, wird das Wort fast immer mit der umfassenderen Einheit assoziiert. Das ist entweder die Sprachgemeinschaft oder das Staatsvolk.

Der deutschsprachige Leser mag daher primär an das deutsche, das österreichische oder einen Teil des schweizerischen Volks (Deutsch-Schweizer) denken. Beim französisch-sprechenden Leser sind es Franzosen, frankophone Schweizer, Kanadier und Belgier (Wallonen). In beiden Fällen handelt es sich um über 100 Millionen Menschen. Wesentlich kleiner sind dagegen die Gesellschaften  Luxemburgs (etwa 600.000 Menschen, davon 47% Ausländer) und Maltas (etwa 430.000 Menschen). Von einer europäischen oder sogar einer globalen Gesellschaft zu sprechen, ist nicht üblich. Im Grunde gibt es ein Vielzahl inhomogener Gesellschaften mit diversen Abgrenzungen und Überlappungen. Die Frage ist berechtigt, ob es die Gesellschaft überhaupt gibt. Sie ist vielleicht ein Phantom. Das kann nicht daran hindern, das Wort Gesellschaft für eine Anhäufung von Individuen mit oder ohne Gemeinsamkeiten zu verwenden, vor allem in der Form Gesellschaft von X oder Gesellschaft für Y.

Eine Gesellschaft hat das Bedürfnis sich selbst zu verstehen, d.h. ihre Wünsche, ihre Hoffnungen, ihre Unterschiede und ihre Gemeinsamkeiten. Der Glaube herrscht vor, dass dieses Wissen uns zu rationalem Handeln führen wird. Eine Gesellschaft sollte auch darüber informiert sein, wieweit sie gewissen Idealen entspricht, was die Beteiligung an Entscheidungsprozessen oder der Verteilung von Besitz und Gütern betrifft. Dabei muss die Information über den Status Quo getrennt erfolgen von der Werbung für Veränderungen. Für diese Aufgabe fühlen sich unter anderem die öffentlichen Medien (Rundfunk, Presse) von Berufswegen verantwortlich.

Im Jahre 1776 haben bekanntlich die Verfassungsväter der USA als erste konkrete Wunschvorstellungen ihrer Bürger gegenüber der Gesellschaft festgeschrieben, so das Recht auf Privateigentum und das Suchen nach Glück. Einige spätere Verfassungen sahen sich veranlasst, das Privateigentum, ja den Kapitalismus ganz zu verbieten und stattdessen das marxistische Gedankengut als die Grundlage für das Zusammenleben zu erklären. Unser deutsches Grundgesetz (GG) ist ein Kompromiss. Es besagt, dass Eigentum verpflichtet (Art. 14), und zwar soll es dem Wohle der Allgemeinheit dienen – was immer das heißt. Ferner fordert es die Angleichung der Lebensverhältnisse (Art. 72) in allen Regionen seines Geltungsbereichs. In Deutschland herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass das GG eine angemessene und akzeptierte Basis der Gesellschaft darstellt. Keine ernstzunehmende politische Kraft bezweifelt dies  – welch ein Glücksfall der Geschichte.

Fachliche Beiträge von Informatikern für die Gesellschaft

Fasst man den Begriff der Gesellschaft so auf wie oben beschrieben, haben Informatiker kaum Aufgaben der Gesellschaft gegenüber, die über die anderer Berufsgruppen wesentlich hinausgehen. Sofern sie ihre eigentliche Tätigkeit verantwortungsvoll ausführen, liefern sie meist einen positiven Beitrag zu Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Informatiker hat keinen Grund die von ihm gewählte Tätigkeit als solche kritisch zu hinterfragen oder sich von ihr zu distanzieren. Er muss nur solche Projekte machen, die ihm zusagen und die ethisch und moralisch einwandfrei sind. Informatiker sind normalerweise in der komfortlaben Position, dass ihnen die Kunden die Türe einrennen.

Es geht hier darum, wann und wie der Informatiker aktiv werden soll, wenn er Kompetenzen besitzt, die andere Berufe nicht besitzen. Er sollte dabei der Gesellschaft als Ganzer helfen, bei einer ihr drohenden Gefahr vorzubeugen, aus einer Notlage zu entkommen oder möglicherweise entgangenen Nutzen zu realisieren.

Informatiker handeln auch dann professionell, wenn sie mögliche Nutzer auf das Potential ihrer Technik hinweisen, wo dies angebracht oder sinnvoll ist. Das darf aber nicht als lästig oder überheblich empfunden werden. So sollte ein Informatiker die öffentliche Verwaltung auf Schwächen hinweisen, die leicht mittels Informatik-Lösungen behoben werden können. Informatiker dürfen ihre Auftraggeber aus der Wirtschaft auf Mängel in ihrer Wettbewerbsfähigkeit hinweisen, sowohl was den Vergleich zu Mitbewerbern als auch den Vergleich zu Branchenfremden betrifft, sowohl aus dem Inland wie aus dem Ausland. Das Eingreifen des Informatikers kann unter anderem darin bestehen Projekt-Betroffene zu identifizieren, die dies von sich aus nicht merken oder vor Risiken und Auswirkungen zu warnen, die Nicht-Fachleute leicht übersehen.

Beispiel A: Wie ein Arzt, der auch außerhalb seiner Praxis seine Mitmenschen vor Rauchen warnt und Bewegung empfiehlt, so sollte ein Informatiker, wo immer er kann, dazu raten seine Daten zu verschlüsseln, Passwort-Schutz zu verwenden und keine unbekannten E-Mail-Anhänge zu öffnen. Das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnik (SIT) in Darmstadt hat ein besonders einfaches Verfahren mit der Bezeichnung Volksverschlüsselung entwickelt und in den allgemeinen Gebrauch überführt.

Beispiel B: Wenn Senioren nicht recht wissen, wie sie ihre Zeit sinnvoll verwenden, oder wie sie mit ihren Einschränkungen umgehen sollen, können ihnen Informatiker wertvolle Hinweise geben. Das Netzwerk der Senioren-Internet-Initiative (SII) leistet genau dies für Baden-Württemberg. Der Kollege Rul Gunzenhäuser und der Autor stellten dieser wie auch anderen ähnlichen Initiativen Kursmaterial zur Verfügung, in dem 18 für Senioren besonders attraktive Computer-Anwendungen vorgestellt werden.

Beispiel C. Wie der Nobelpreis die Naturwissenschaften, die Medizin und die Wirtschaftswissenschaft stimuliert, so stimuliert der Turing-Preis die Informatik. Dieser von der Association for Computer Machinery (ACM) seit 1966 jährlich einmal verliehene Preis hatte bisher erst einen deutschsprachigen Empfänger, nämlich Niklaus Wirth von der ETH Zürich. Auch in Deutschland engagieren sich die verschiedensten Sponsoren auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Weise in die Förderung von Wissenschaft und Kultur. In diesem Sinne verleiht die Ernst-Denert-Stiftung Preise für ausgezeichnete Leistungen auf dem Gebiet des Software-Ingenieurwesens. Außerdem fördert sie einen Stiftungslehrstuhl an der TU München. Denert war Eigentümer eines Software-Unternehmens in München.

Beispiel D: Wenn es darum geht, auf die Möglichkeiten und Chancen der Digitalisierung hinzuweisen, die der Wirtschaft als Ganzer offen stehen, sollten sich Informatiker hierfür nicht zu schade sein. So leitet der Kollege Manfred Broy (München) nach seiner Emeritierung eine entsprechende bayrische Initiative (Zentrum Digitalisierung Bayern). Eine Vielzahl bayrischer Unternehmen machte von dem Angebot Gebrauch, ihre Pläne bezüglich Digitalisierung evaluieren und verbessern zu lassen.

Beispiel E: Computer haben das Potential, die Lebensqualität der Menschen, besonders das von Behinderten zu verbessern. Es sollten Anstrengungen unternommen werden, Informatiker darauf hinzuweisen, Fortschritte in der humanen Nutzung von Computern anzustreben. Diesem Zweck dient der Wolfgang-Heilmann-Preis der Integrata-Stiftung aus Tübingen. Wie Denert so war Heilmann Besitzer eines Software-Hauses.

Beispiel F: Die Informatik hat das Potential, das Lehren und Lernen auf allen Bildungsstufen erheblich zu verbessern. Sie kann zu besseren Lehrmaterialien führen, etwa durch das Einbinden von dynamisch ablaufenden Simulationen. Vor allem aber kann sie den Zwang zur physikalischen Präsenz und Gleichzeitigkeit von Schüler und Lehrveranstaltung überwinden. Eine Methode sind verteilte Online-Kurse (engl. Massive open online courses, Abk. MOOC). Hier leitet das Hasso-Plattner-Institut (HPI) der Universität Potsdam wertvolle Pionierarbeit. Der Kollege Christoph Meinel und sein Team haben nicht nur diese Darbietungsform in Deutschland populär gemacht, sie haben mehrere aktuelle Themengebiete aufbereitet und über 150.000 Hörer gewonnen.

Nicht-fachbezogene Beiträge von Informatikern

Sehr oft werden Fachleute durch ihre Arbeit auch für Themen sensibilisiert, die weit über ihr Fachgebiet hinausgehen. Der Fachmann übt dabei seine Bürgerpflicht aus, allerdings mit besonderer Effizienz. Die wirtschaftlichen Erfolge der Informatik haben auch in Deutschland ehemalige Kollegen in die Lage versetzt, eine allgemeine Mäzen-Funktion wahrzunehmen. Oft sind es Stiftungen, die auch nicht-fachliche Beiträge leisten, die der Gesellschaft allgemein zugutekommen. Es ist zu erwarten, dass in Zukunft vermehrt von Informatikern angestoßene Initiativen in Erscheinung treten.

Beispiel G. In der Diskussion um die Volkszählung 1983 haben Informatiker erheblich dazu beigetragen, dass das Recht der informationellen Selbstbestimmung in Deutschland konkretisiert wurde. So wurde durch das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Bürger wissen muss, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn gespeichert hat. Die gefundene Lösung gilt als richtungsweisend und wurde in anderen Ländern teilweise übernommen.

Beispiel H: Ihre Erfolge erzielte die Informatik zwar als Ingenieurwissenschaft. Da diese auf den Naturwissenschaften basieren, ist es angebracht für alle MINT-Fächer zu werben. Dieses Anliegen verfolgt die Klaus-Tschira-Stiftung in Heidelberg. MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Des Weiteren fördert sie die verständliche Aufbereitung und Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse. Wie Plattner so war auch Tschira ein Gründer der Firma SAP in Walldorf. Der dritte der bekannten Gründer, Dietmar Hopp, betreibt Regionalentwicklung und Sportförderung. Außerdem investiert er in Biotech-Startups.

Nicht gerechtfertigtes Engagement und falsche Erwartungen

Von einem Informatiker erwartet die Gesellschaft ein abgewogenes Urteil über die Leistungsfähigkeit der Informatik als Technik. Einseitig positive Übertreibungen sind fehl am Platz, genauso wie extrem negative Darstellungen. Wer das Publikum zu Unrecht verängstigt, missbraucht seine Verantwortung. Ein Fachmann darf, ja muss darauf hinweisen, wenn der Wert einer Technik oder einer technischen Lösung in Fachkreisen umstritten ist.

Anders ist es mit der bewussten Vertretung eines Standpunkts, der Vorteile für den Betreffenden nach sich zieht. Jeder Fachmann − aus gleich welchem Feld − tut gut daran zu erkennen zu geben, ob er seine Meinung aus Sicht eines neutralen Fachmanns abgibt, oder ob er Partei für eine für ihn vorteilhafte Sache ergreift. Bestehen hier Unklarheit oder gar Zweifel, wird stets Parteilichkeit unterstellt. Informatiker sind hier keine Ausnahme. Man kann es als Dilemma ansehen, dass Wissen am ehesten dort zu finden ist, wo auch wirtschaftliches Interesse besteht.

Ein Informatiker sollte sich bewusst sein, dass Information aus Sicht ihres Besitzers meist einen für sein Geschäft entscheidenden Wert hat. Als Ausdruck des Eigentumsrechts unserer Verfassung muss niemand Information oder Wissen gegen seinen Willen offenlegen. Nur ein explizites Urteil kann dies erzwingen.

Beispiel I: Der Chaos Computer Club (CCC) in Hamburg ist offensichtlich daher so erfolgreich, weil er keine Gelegenheit auslässt, um auf Pannen und Gerüchte mit Presseverlautbarungen zu reagieren. Es entsteht folglich der Eindruck, dass Computer vorwiegend Gefahren und Bedrohungen darstellen. Die Gesellschaft für Informatik (GI), die Fachvertretung aller Informatiker, fühlt sich anscheinend herausgefordert, ins selbe Horn zu blasen. Schließlich ist auf diese Weise ein Maximum an Aufmerksamkeit zu erreichen. Die GI muss sich allerdings fragen lassen, ob und wie weit sie damit die Informatik fachlich und technisch weiterbringt.

Beispiel J: Viele Informatiker scheinen Sympathisanten von WikiLeaks und Julian Anssage zu sein. Der Öffentlichkeitseffekt, den die durch Raub oder Täuschung erworbenen Informationen erzielen, scheint die Illegalität des Erwerbs zu rechtfertigen. Es erscheint mir recht anmaßend zu sein, wenn zwielichtige Gestalten sich das Recht nehmen der Welt zu erklären, was öffentliches Interesse ist. Die Argumente für offenen Quellcode und schwachen Patentschutz deuten nicht selten auf mangelndes Unrechtsbewusstsein hin.

Nachbemerkung

Die Frage des professionellen Verhaltens von Informatikern hat viele Aspekte. Hier wurde nur ein ganz bestimmter Ausschnitt betrachtet. Auf eine etwas anders ausgerichtete Behandlung [1] des Themas sei hingewiesen.

Referenz

1. Endres, A.: Professionalität und Verantwortung in der Informatik. Informatik Spektrum 26,4 (2003), 261-266

Mittwoch, 6. März 2019

Vereinigung von Relativitäts- und Quantentheorie aus der Sicht der Schleifenquantengravitation

Seit Max Planck im Jahre 1900 feststellte, dass Licht als Körnchen (Quanten) zu verstehen ist und seit Albert Einstein 1915 die Allgemeine Relativitätstheorie in die Welt setzte, haben Physiker darum gerungen, beide Auffassungen in Übereinstimmung zu bringen. Man suchte die umfassende Vereinigung dieser Theorien (engl. great unifying theory, Abk. GUT). Ohne auf die diversen Alternativen einzugehen, wird im Folgenden ein Kandidat näher beschrieben, der nach meinem Dafürhalten zur Zeit gute Aussichten hat, akzeptiert zu werden. Noch ist es ein Vorschlag neben andern. Der Vorschlag hat einige bestechende Eigenschaften.

Urheber und Namensgebung

Meist werden drei Physiker als die Urheber dieser Theorie genannt: der Inder Abhay Ashtekar (*1949), der US-Amerikaner Lee Smolin (*1955) und der Italiener Carlo Rovelli (*1956). Im Folgenden dient Rovellis Buch Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint (2016, 320 Seiten) als primäre Quelle und Bezugspunkt. Auch der zugehörige Wikipedia-Eintrag ist sehr ausführlich und hilft daher dem Verständnis. Meinem Freund Hans Diel bin ich für einige klärende Diskussionen zum Thema Quantenphysik sehr dankbar. Der vorliegende Blog-Beitrag wurde durch ein dieser Tage stattgefundenes Gespräch veranlasst.

Der Name Schleifen-Gravitation (engl. loop gravitation) stammt von Ashtekar und Smolin. Sie hatten 1986 nachgewiesen, dass die Wheeler-DeWitt-Gleichung, mit der die Gravitation in Wellenform beschrieben wird, zu Lösungen führt, wenn man für die Feldlinien eines Kraftfelds Schleifen zulässt.

Grundlegende Annahmen

Das, was man als Raum bezeichnet, ist nicht ein Hintergrund für das physikalische Geschehen, sondern Teil desselben. Er ist selbst ein dynamisches Objekt, das den Gesetzen der Quantenmechanik gehorcht. Vor allem ist er nicht unendlich teilbar. Die Untergrenze für die Teilbarkeit des Raumes ergibt sich aus der Planckschen Länge. Diese beträgt bekanntlich 10-33 cm.

Elementarteilchen lassen sich als Knoten in einem mehrdimensionalen Netz auffassen. Ein Kubikzentimeter enthält maximal 1099 Knoten. Anstatt an ein Netz zu denken, ist die Vorstellung eines Schaumes hilfreicher. Da Knoten Eigenschaften haben, die man mit dem Spin des Teilchens vergleichen kann, spricht man vereinfachend von Spin-Schäumen. Wenn Teilchen neu entstehen oder vorhandene verschwinden, wenn ihre Eigenschaften oder ihre Beziehungen untereinander sich ändern, verändert sich der Schaum. Der Schaum kann wachsen oder in sich zusammenfallen. Diese Veränderungen stellen den Zeitfluss dar. Auch hier gibt es eine Untergrenze. Sie heißt Plancksche Zeiteinheit und entspricht 10-43 Sekunden. Keine Ereignisse können kürzer sein. Dadurch sind Raum und Zeit ‚gequantelt‘. Sie stellen kein Kontinuum mehr dar. Das unendlich Kleine gäbe es weder auf den Raum bezogen, noch auf die Zeit. Dasselbe gilt übrigens am anderen Ende für das unendlich Große in Raum und Zeit – ist aber außerhalb dieses Themas.

Den Raum sollte man sich vorstellen als ein Gewebe vibrierender Quantenkörnchen. Quantenfelder bilden Raum und Zeit, Materie und Licht. Die Realität sei ein Netzwerk von körnigen Ereignissen. Wenn sie sich beeinflussen, d.h. wenn Prozesse wechselwirken, dann tauschen sie Information aus. Zwischen Ereignissen seien Raum und Zeit in einer Wolke aus Wahrscheinlichkeiten aufgelöst.

 

Raum mit Quantenkörnchen

Der Raum sei ein Gravitationsfeld und sonst nichts. Der Raum sei real, er wogt, biegt und krümmt sich, so wie ein Magnetfeld. Mathematisch beschreiben lässt er sich als Riemann-Raum. Der Gauß-Schüler Bernhard Riemann (1826-1866) behandelte gekrümmte Oberflächen und Räume mittels eines Krümmungstensors. Der ist verschieden von Null, sofern die Krümmung größer oder kleiner als Null ist. Bei einer positiven Krümmung handelt es ich um einen Buckel, bei negativer Krümmung um eine Delle. In der physikalischen Realität ist die Krümmung da am größten, wo Masse oder Materie ist. Der Raum würde gebildet durch die Wechselwirkung von Gravitationsquanten. Er entspricht einem Spin-Netzwerk, in dem Knoten Beziehungen zur Umgebung darstellen. Das Spin-Netz ist eine Aussage über den Quantenzustand des Gravitationsfelds. Die Links sagen, welche Punkte Nachbarn sind. Auch die Zeit entsteht wie der Raum im Gravitationsfeld. Prozesse, die Netzwerke verändern, laufen in Raumzeit ab. Sie werden als Spin-Schäume dargestellt. Die Zeit kann nicht beliebig in kleinere Einheiten zerlegt werden, Bei einem Pendel können zwischen der Ausschlaglänge von 5 und der von 6 cm nur endlich viele Pendelausschläge liegen. Die uns hier fehlende Information ist endlich.


Detailausschnitt eines Seifenschaums

Physikalisch gesehen bestehe die Welt nur aus Feldern und Teilchen (auch Partikel genannt). Im Grunde seien Felder und Teilchen dasselbe. Sie seien Quantenfelder. Felder bestehen aus Quanten. Teilchen sind die Quanten eines Feldes. Teilchen sind nur da, wo sie mit anderen Teilchen interagieren. Sie haben keinen absoluten, sondern nur einen relativen Ort. Was uns als ein Objekt erscheint, sei in Wirklichkeit ein monotoner Prozess, der eine Weile andauert. Eine Welle dagegen sei kein Objekt. Zusammengefasst: Die Welt im subatomaren Bereich bestehe nicht aus Steinchen, sondern aus einem ständigen Wimmeln und Vibrieren.

Ganz anders erscheint uns dagegen die makroskopische Ebene. Hier können Längen miteinander verglichen werden, ebenso Zeiten. Es macht dort Sinn, über die Dauer von Ereignissen zu sprechen. Längen oder Zeiten müssen geometrischen Anordnungen oder Ereignisketten zugeordnet werden können, die nahe genug zueinander sind, dass wir sie vergleichen können. Messen ist hier stets nur ein Vergleichen.

Erklärte Phänomene in der Realität

Eine Theorie ist nur dann besser als eine andere, wenn sie bereits beobachtete Phänomene erklären kann, die andere Theorien nicht erklären können. Hier einige Kandidaten, die genannt werden:
  • Langwellige Gravitationswellen auf einer flachen Hintergrund-Raumzeit
  • Die Formel von Jacob Bekenstein, wonach die Entropie eines schwarzen Lochs proportional zu dessen Oberfläche ist
  • Die Hawking-Strahlung, die von schwarzen Löchern emittiert wird
  • Eine positive kosmologische Konstante, für deren Existenz astronomische Beobachtungen zwingende Indizien geliefert haben.

Keiner dieser Fälle erscheint mir wirklich so konkret zu sein, dass seine Erklärung als schlüssiger Beweis gelten könnte. Im Grunde handelt es sich dabei weniger um beobachtete Phänomene als um Vermutungen oder Theorien. Vielleicht finden sich noch bessere Beispiele.

Vorhersagen der Theorie

Neue Theorien führen manchmal dazu, dass Vorhersagen von Ereignissen gemacht werden können, die bisher nicht wahrgenommen wurden. Es könnte sich herausstellen, dass die Lichtgeschwindigkeit von der Wellenlänge des Lichtes abhängt. Die Abweichungen von dem üblichen Wert fallen besonders dann ins Gewicht, wenn die Wellenlänge vergleichbar mit den Knotenabständen und damit der Plancklänge wird. In diesem Falle würden Photonen gewissermaßen die Quantenstruktur der Raumzeit zu spüren bekommen. Auch hier bestehen noch Verbesserungsmöglichkeiten.

Historische Wurzeln

Rovelli ist bemüht zu zeigen, dass diese Theorie uralte Wurzeln hat. Er sieht ihren Ursprung im griechischen Altertum. Es sei Demokrit von Abdera (459-371 vor Chr.), ein Schüler des Leukipp aus Milet, gewesen, der ein sehr ähnliches Weltbild vertrat. Sein Hauptsatz lautete: Tiere und Träume bestehen aus Atomen, so auch Licht, Meer, Städte und Sterne. Außerdem lehrte er, dass Materie nicht unendlich teilbar sei. Schon im Altertum wurde er von Platon und Aristoteles bekämpft. Sie postulierten, dass das Geistige über dem Materiellen stünde, und dass die Idee Vorrang vor der Realität habe. Die Welt habe weder Ziele noch Ursachen, meinte Demokrit.

Alle Schriften des Demokrit gingen verloren, von Aristoteles dagegen keine einzige. Nur was der römische Autor Lukrez (94-53 vor Chr.) über ihn überlieferte, wurde wiederentdeckt. Im Mittelalter galt sein Denken als noch heidnischer als das des Aristoteles. Noch das Konzil von Trient im Jahre 1551 verbot das Studium und die Verbreitung dieser Ideen. Demokrits Weltbild wird als atomistischer Materialismus bezeichnet.

Moderne Wissenschaftssoziologie

Im Schluss sei vermerkt, dass die hier beschriebene Theorie ein weiteres Beispiel darstellt, wie Wissenschaft arbeitet. Schon vor Jahren beklagte sich Lee Smolin, dass überall auf der Welt Physiklehrstühle nur von Anhängern der String-Theorie besetzt seien, und dass Leute, die eine alternative Theorie verträten, kaum eine Chance hätten, sich erfolgreich zu bewerben. Es scheint mir dies eine Erklärung dafür zu sein, dass Rovelli, obwohl in Verona geboren, in Marseille lehrt und seine Schüler überall in Europa tätig sind, nur nicht in Italien.

Was Rovelli über Information in der Physik sagt, kann nicht sehr befriedigen. Er gesteht dies auch ein. Wie alle Physiker ist er nicht über Claude Shannons Gedanken aus den 1950er Jahren hinausgekommen. Das führt ihn zu Aussagen folgender Art: Der Tee in einer Tasse wird kälter, weil Information verloren geht. Über jedes System lässt sich stets neue Information gewinnen. Information (gemeint ist wohl Entropie) kann nur abnehmen und nie zunehmen. Wer eine andere Auffassung kennenlernen will, sei auf einen Beitrag von 2011 in diesem Blog verwiesen.