Mittwoch, 24. April 2019

Manfred Broy über die Digitalisierung in Bayern

Manfred Broy (*1949) ist seit 2015 Gründungspräsident des Zentrum Digitalisierung.Bayern (ZD.B). Das ZD.B ist von der bayrischen Landesregierung eingerichtet und wirkt als Bindeglied zwischen Hochschulforschung, außeruniversitärer Forschung und industrieller Entwicklung. Es adressiert die Themen IT-Sicherheit, digitalisierte Produktion, vernetzte Mobilität sowie Anwendungen in Medizin und Verwaltung. Es fördert die Gründung einschlägiger Unternehmen oder Interessengruppen.

Von 1989 bis 2015 war Broy Professor für Informatik an der TU München. Er forschte auf dem Gebiet der Modellierung und Entwicklung komplexer softwareintensiver Systeme. Ziel war die Fundierung und Weiterentwicklung der Methoden des Software & Systems Engineering mit Fokus auf Qualitätssicherung und langfristiger Systemevolution. Von 1983 bis 1989 war Broy Professor für Informatik an die Universität Passau. Broy ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften, der Leopoldina, der acatech und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er veröffentlichte über 420 wissenschaftliche Publikationen. 


Bertal Dresen (BD): Das Zentrum Digitalisierung.Bayern (ZD.B) wurde meines Wissens gegründet, um dem Thema Digitalisierung in Ihrem Bundesland erhöhten Nachdruck zu verleihen. Anstatt von einer digitalen Transformation, also von einer Umwandlung, zu sprechen, möchte ich lieber von einer digitalen Ertüchtigung reden. Die Menschen und auch die Wirtschaft sollen doch nicht in ihrem Wesen verändert werden. Sie sollen doch nur zusätzliche wichtige Fähigkeiten erhalten. Wie beurteilten Sie die Ausgangssituation um 2015 in Bayern (auch im Vergleich zu anderswo)? Welches waren die primären Ziele und Zielgruppen Ihres Projekts? Welche Maßnahmen und Mechanismen kamen für die Umorientierung und die Umstellung zur Anwendung?

Manfred Broy (MB): Digitalisierung ist wohl die größte technologische Veränderung in Wirt­schaft, Gesellschaft, aber auch Politik in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhun­derts und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Es ist nicht ganz einfach, hier einen angemessenen Vergleich zu finden, aber die Veränderungen sind wohl tiefgreifender als die Veränderungen durch die Einführung des Buchdrucks, die erste industrielle Revolution durch Produktionsmaschinen oder die Einführung des Automobils. Es ist wohl berechtigt, von einer zweiten industriellen Revolution zu reden: Der Revolution der Informationsmaschinen. Diese ist noch nachhaltiger als Vieles, was zum Vergleich angeführt wird, da sie nicht nur die Wirtschaft betrifft, sondern auch den Alltag jedes Einzelnen in ganz unterschiedlicher Art und Weise verändert.

Klar ist, dass der Begriff der Digitalisierung auf den ersten Blick nicht ganz passend erscheint, verstehen wir doch darunter im Wesentlichen den Übergang von analoger zu digitaler Darstellung, aber im Kern trifft er das, was passiert. Durch die mit den Rechnern und Computern aufkommende digitale Darstellung wird alles erfasst, wird alles zu Daten, zu etwas, was durch Algorithmen verarbeitet werden kann.

Bayern hat seit fünf Jahrzehnten immer großen Wert darauf gelegt im High-Tech-Be­reich eine Führungsposition einzunehmen. Man denke nur an die Veränderungen in der Luftfahrtindustrie und die Bildung des Airbus-Konzerns: Ein Vorgang, der nach­drücklich auch durch Bayern mit angestoßen wurde. Bayern war auch sehr en­gagiert in der Biotechnologie, hat über die Jahre hinweg im­mer größten Wert auf eine konsequente Universitäts- und Forschungspolitik gelegt und ein tiefes Verständnis entwickelt für das Wechselspiel zwischen Technologie, wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Wohlstand. Um 2010 herum suchten poli­tische Kreise in Bayern nach den aktuellen technologischen Herausforderungen. Nicht sehr überraschend sind sie dabei auf das Thema der Digitalisierung gestoßen und schnell war klar, dass diese Veränderungen eine sehr stark produzierendes und technologisch orien­tiertes Land wie Bayern nachhaltig treffen werden.

Ich möchte hier ein wenig Ihrer Frage oder vielmehr der in der Frage enthaltenen Aussage widersprechen: Ich denke doch, dass sich durch die Digitalisierung die Men­schen und die Wirtschaft in gewisser Weise ein Stück in ihrem Wesen verändern. Es entstehen neue Wertschöpfungsmodelle. Menschen verändern die Art und Weise, wie sie leben. Ihr soziales Umfeld ist weniger von ihrer geografischen Umgebung ge­prägt, sondern zunehmend mehr von ihrer digitalen Umgebung. Das führt zu riesigen Veränderungen.

Bayern ist ein Land, das sehr stark wirtschaftlich von dem Maschinenbau geprägt war, aber auch von der Finanzwirtschaft wie Versicherungen und Banken und bis zu einem gewissen Grad auch von der Medienindustrie. Das liegt auf der Hand, dass ge­rade diese Wirtschaftsgebiete sich besonders stark unter dem Einfluss der Digitalisie­rung verändern. Das hat Bayern frühzeitig erkannt und in einem engen Dialog mit Maß­nahmen ergriffen. Es entstand die Initiative „Bayern Digital“ mit dem Zentrum Digitalisierung.Bayern. Kernziel war und ist es, Forschung, Wissenschaft und Ausbildung in ganz Bayern für das Thema Digitalisierung zu ertüchtigen. Die große Herausforderung für alle Akteure ist dabei die Geschwindigkeit mit der sich diese Veränderung abspielt, die zu einem reinen Kommentieren der Situation verführt. Wir müssen aber entschlossen darauf reagieren, um zu gestalten.

BD: Stießen Sie bei Ihrer Zielgruppe auf ein hinreichendes Verständnis dessen, was die Digitalisierung technisch und organisatorisch für sie bedeutet? War es klar, was sie erfordert und was sie bewirkt? Welche Fähigkeiten der Mitarbeiter mussten neu entwickelt oder aber verstärkt werden? Welche Abläufe und Verantwortungen in den betroffenen Unternehmen änderten sich? Welche Investitionen in Geräte und Medien waren erforderlich?

MB: Das ist eine sehr schwierige Frage, die man sehr umfänglich beantworten müsste, wenn man auf alle Aspekte eingehen möchte. Beginnen wir beim Verständnis der Zielgruppen und betrachten wir – stark vereinfacht – folgende Zielgruppen: Die Politik und Ministerien, die Wirtschaft, also große, mittelständische und kleine Unternehmen, die Wissenschaft und einzelne Bürger. Bei allen diesen Gruppen gibt es erhebliche – mitunter sehr unterschiedliche – Defizite im Verständnis der Digitalisierung. Diese liegen zum einen in einem nicht sehr ausgeprägten Verständnis der digitalen Technologie als solches, aber auch in der oft sehr weitgehenden Unfähigkeit einzuschätzen, was die digitale Transformation als Veränderung insgesamt bewirkt. Dies ist eine der großen Schwie­rigkeiten. Wir brauchen schnell sehr viel mehr Kompetenz auf allen Ebenen, aber dies ist nicht so einfach zu bewirken, insbesondere weil die Technologie relativ komplex ist, weit weg von dem, was Bayern und die verschiedenen Gruppierungen gewohnt sind, und sich rasant und oft unvorhersehbar, entwickelt.

Natürlich hat die Digitalisierung enorme technische und organisatorische Auswirkun­gen, auch auf die Kompetenz, auf die benötigten Fähigkeiten der Mitarbeiter. Auch hier tun sich viele Unternehmen schwer zu erkennen, dass sie Hand in Hand organisa­torische Veränderungen vornehmen, viel stärker kooperativ führen, digitale Kompetenzen entwickeln und dabei gleichzeitig ihre Produkte, Services und Geschäftsmodelle schnell weiterentwickeln müssen. Wenn das nicht gelingt, besteht die große Gefahr für die Unternehmen von der Digi­talisierungswelle überrollt zu werden.

Die Investitionen liegen dabei allerdings weniger in Geräten oder Medien sondern in den  Applikation, also Software – auch wenn es Nachholbedarf bei der Breitbandvernetzung gibt. Investitionen in Geräte oder Medien sind erst die Kon­sequenz aus erkannten Potentialen, die ganz neue Geschäftsmöglichkeiten erlauben.

BD: Wie haben Sie in Ihrem Projekt das zu erreichende bzw. das erreichte Digitalisierungsniveau, d.h. den Durchdingungsgrad, bewertet? Konnte man von 50%er oder 100%er Digitalisierung sprechen? Bezog sich diese Aussage nur auf isolierte Experimente oder auf echte Tagesarbeit? Ging es um einen einzelnen Geschäftsprozess, um eine Mitarbeitergruppe, um das ganze Unternehmen oder gar um die ganze Branche? Wie weit bestimmte die methodische Herangehensweise den Erfolg der Digitalisierung?

MB: Als Gründungspräsident des Zentrums Digitalisierung Bayern hatte ich von Anfang an, genaugenommen sogar noch vor der Gründung des Zentrums, erfreulich gute Mög­lichkeiten auf Maßnahmen einzuwirken, die notwendige Veränderungen voranbringen. So haben wir 20 neue Professuren eingerichtet, 10 Nachwuchsprofessuren-Stellen und ein Gradu­iertenprogramm aufgestellt, Innovationslabore an unseren Universitäten und Hochschulen geschaffen und in einer Vielzahl von Einzelaktivitäten, beispielsweise der Verstärkung der Entre­preneurship-Ausbildung an den Universitäten und Hochschulen, das Thema Digitali­sierung stärker auf die Tagesordnung gebracht. Soweit zum Thema Wissenschaft und Forschung.

Parallel haben wir eine ganze Reihe von Themenplattformen ins Le­ben gerufen zur intensiven Zusammenwirkung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Das sind Initiativen, die sich inhaltlich auf bestimmte, wichtige Themen­bereich konzentrieren wie etwa vernetzte Mobilität, digitale Produktion, „Digital Engineering“, Digitalisierung in der Medizin, im Energiebereich, aber auch auf Fragen wie Digitalisierung in der Agrarwirtschaft oder „Smart City“. Details finden Sie auf un­seren Webseiten.

Grundsätzlich sind wir daher von Anfang an breit aufgestellt, haben uns nichtsdestoweniger auch um Fragen bemüht, die etwas außerhalb der eigentlichen Fragen der Digitalisierung in Wirtschaft und Wissenschaft liegen. So haben wir das Thema Digitalisierung und Verbraucher aufgegriffen, sowie Digitalisierung und Arbeit und uns auch intensiver um die Frage der Veränderung in der Schule gekümmert. Da­bei muss man berücksichtigen, dass wir ein verhältnismäßig kleine Initiative sind von gerade einmal knapp 40 Mitarbeitern, die auch erstmal gewonnen werden muss­ten. Trotzdem konnten wir – so denke ich – enorme Impulse setzen, Projekte anstoßen, durch eine Fülle von Veranstaltungen die Diskussion weiterführen. Es gibt auch eine ganze Reihe von strategischen Überlegungen, die wir angestellt haben. Nicht alle konnten wir bis ins Detail umsetzen. Ein kritischer Punkt dabei ist tatsäch­lich die Planung und Steuerung der Digitalisierung auf politischer Ebene. Das erfor­dert viel inhaltliche Kompetenz, die aber oft nur eingeschränkt gegeben ist.

BD: Gab es gute, d.h. nachahmenswerte Beispiele? Was zeichnete die Gewinner unter den Unternehmen aus? Lag es an den Mitarbeitern, der Organisation oder der ‚Unternehmenskultur‘? Hing das Interesse bzw. der Erfolg von der Branche oder der Firmengröße ab? Haben Sie Hinweise, dass die digitale Ertüchtigung von Wirtschaftsunternehmen sich auch in einer messbaren Leistungssteigerung niederschlug, zum Beispiel im Umsatz, Gewinn oder gar dem Bruttoinlandsprodukt (BIP)?  Bayerns BIP ist ja mit dem von Schweden vergleichbar.

MB: Auf der politischen oder staatlichen Ebene gibt es natürlich eine Reihe interessanter Entwicklungen. Das ist vor allem Nord-Amerika mit seinen Zentren wie dem „Silicon Valley“, die Boston-Area oder auch zunehmend Texas mit Austin neben einer Reihe von weiteren, dann aber auch China mit seiner atemberaubenden Entwicklung und nicht zuletzt auch in anderen asiatische Länder wie Korea oder Indien. Leider hat es un­seren Auftrag  überstiegen, diese Regionen uns im Detail anzusehen, aber wir haben uns schon Gedanken darüber gemacht, was dort passiert um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.

Innerhalb der Unternehmen gibt es auch in Bayern große Unterschiede. Es gibt tatsächlich einige Unternehmen, die hier gut aufgestellt sind, aber die Mehrheit der Unternehmen tut sich schwer, darunter auch viele Großkonzerne. Kritisch ist, dass auf der Ebene der Geschäftsführung, wenn überhaupt, nur vereinzelt echte Fachleute für das Gebiet existieren, die für eine strategische Umsetzung der Digitalisierung außer­ordentlich wichtig sind.

Was eine messbare Leistungssteigerung betrifft, so gebe ich mich da keinerlei Illusio­nen hin. Es ist relativ schwierig, einen Zusammenhang herzustellen zwischen den Maßnahmen eines Landes und seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Wir haben das auch intensiv mit der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft vbw versucht, aber es ist schwierig. Die Diskussionen dauern immer noch an. Hinzu kommt, dass viele Phänomene der Digitalisierung sich konventionellen Methoden der Volks- und Betriebswirtschaftslehre entziehen und somit neue Formen der Messung erforderlich werden.

BD: Es kam doch sicher auch hin und wieder zu Schwierigkeiten. Wenn ja, worin lagen diese? Was waren schlechte Beispiele? Womit wurden Mitwirkende am ehesten überfordert oder abgeschreckt? Welche latenten Konflikte innerhalb von Unternehmen kamen zum Ausbruch? Deckte der Übergang zur Digitalisierung Probleme unerwarteter Art auf? Wurde die Rolle des Geschäftsmodells hinreichend beachtet? War man bereit, das Geschäftsmodell anzupassen?

MB: Natürlich gab es immer wieder Schwierigkeiten. Wenn Sie auf Unternehmen abzie­len, so ist die Veränderung durch die Digitalisierung natürlich auch immer im Zusam­menhang mit der Veränderung der Machtstrukturen in den Unternehmen zu sehen und auch vor dem Hintergrund der entsprechenden Kompetenzen. Denn in den ein­zelnen Unternehmen hängt die Frage, wie schnell die Digitalisierung erfolgreich um­gesetzt wird, im Wesentlichen von den einigen, wenigen Köpfen ab, die entweder in der Lage sind, das in Angriff zu nehmen oder eben überfordert oder abgeschreckt. In den Unternehmen kann man beobachten, dass es oft ein vor und zurück gibt, manch­mal haben die „Erneuerer“ das Sagen und versuchen, stärker in die Digitalisierung einzusteigen, und dann wird durch „Reaktionäre“ das Rad wieder zurückgedreht.

Was in großen Firmen zu sehen ist: Dort stellt man CDOs (Chief Digital Officers) ein mit der Idee, dass diese dann die Digitalisierung vorantreiben. Ich finde kritisch, dass diese – ähnlich wie die früher so beliebten CIOs (Chief Information Officers) – in der Hierarchie zu niedrig angesiedelt sind, bestenfalls eine unter der Vorstands­ebene, obwohl gerade die Digitalisierung eine Vorstandsaufgabe ist, weil man nur aus dem Vorstand heraus mit entsprechender Kompetenz in sowohl inhaltlicher als auch verantwortungsbezogener Weise die Digitalisierung umsetzen kann. Oft sind die CDOs nur ein wirkungsloses Feigenblatt. Auch wenn viele etablierte CEOs die Digitalisierungsaufgabe gerne an CDOs oder eigene Inkubatoren auslagern möchten, aus meiner Sicht ist die Gestaltung der Digitalen Transformation Aufgabe des CEO.

Geschäftsmodelle waren für uns immer eines der wesentlichen Themen. Wir haben immer versucht deutlich zu machen, dass Digitalisierung eben nicht nur eine Ände­rung bedeutet in den Abläufen, etwa in der Produktion, einer Effizienzverbesse­rung in der Verwaltung, oder das Angebot einzelner neuer Services, sondern dass die Digitalisierung ganz neue Geschäftsformen eröffnet. Erst wenn alle Aspekte aufgegriffen werden, kann man mit Recht von ei­ner digitalen Transformation sprechen.

BD: Wurde von Ihrem Projekt die digitale Ertüchtigung auch außerhalb von Wirtschaftsunternehmen angestrebt bzw. herbeigeführt? Wie wirkte sie sich aus? In der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits- und Bildungswesen, bei Privaten? Welche Unterschiede zur Wirtschaft machten sich bemerkbar? War irgendwo ein emotionaler Widerstand zu erkennen?

MB: Natürlich war die Frage der digitalen Veränderung auch außerhalb der Wirtschaft von großer Bedeutung. Wir selbst vom Zentrum Digitalisierung.Bayern waren nicht für die Digitalisierung der Verwaltung zuständig. Das lag und liegt in Bayern im Finanzministerium, in Teilen auch in dem neuen Digitalministerium in Bayern. Wir haben uns über unseren Auftrag hinaus auch um das Thema Digitalisierung im Privatleben geküm­mert. Gesundheits- und Bildungswesen war ja ohnehin auf unserer Agenda. Gerade hier, denke ich, gäbe es unglaubliche Potentiale, aber es zeigt sich, dass beispiels­weise in den oft sehr bürokratischen, sehr rigiden Verwaltungsstrukturen sich die Di­gitalisierung der Medizin oft schwertut.

Mein Eindruck ist, dass eine konsequente Di­gitalisierung in der Medizin im Augenblick auf große Hemmnisse stößt, die mit dem gesamten Gesundheitssystem in Deutschland zu tun haben. Dies lässt sich belegen am Beispiel von Dänemark: Dort ist das Gesundheitssystem im staatlichen Zuständig­keitsbereich, von staatlicher Seite können Vorgaben gemacht werden, die dann umgesetzt werden. In Deutschland scheitern viele Maßnahmen daran, dass es im Gesundheitswesen zu viele Einzelinteressen gibt, die dafür sorgen, dass wesentliche Veränderungen nicht statt­finden. Das schafft natürlich eine gewisse Ernüchterung, die uns aber von Anfang an bewusst war.

BD: Wie wirkte sich bei Ihnen der Einfluss der Politik aus (Landes- und/oder Bundespolitik)? Was gab den entscheidenden Anstoß zur Veränderung? Was können Hochschulen leisten? Was sollte anders sein als heute? Welche Erwartungen ließen sich kaum oder nicht erfüllen? Gab es auch so etwas wie die digitale Ernüchterung? Wenn ja, wie machte sie sich bemerkbar? 

MB: Der Einfluss der Politik war natürlich immer da und spürbar – im Positiven wie im Negativen. Man muss sagen, dass gerade in den Anfängen unserer Arbeit in Bayern die Politik sehr entschlossen war. Der damalige Ministerpräsident und die damalige Wirtschaftsministerin haben das Thema sehr energisch unterstützt und angetrieben. Das hat unsere Arbeit sehr gefördert und er­leichtert.

Auch in den Hochschulen gab es bald viel positiven Widerhall. Ich denke, die Hochschulen in Bayern haben in der Zwischenzeit erkannt, dass die Digitalisierung eine der großen Potentiale darstellt. Das betrifft zum einen den Ausbau der klassischen Fächer der Di­gitalisierung wie die Informatik, zum anderen aber auch die Nutzung der digitalen Möglichkeiten durch andere Disziplinen. Schwierig dabei ist, dass fast alle Strukturen hier in Bayern auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind und auf Veränderungen nur in lan­gen Zeitabläufen. Das ist aber gerade in der Digitalisierung, die eine der größten Ver­änderungsgeschwindigkeit aller Zeiten mit sich bringt, ein Handicap.

Seit Ende 2018 haben wir in Bayern eine neue Staatsregierung. Der Umstand, dass es sich hierbei um eine Koalition handelt, macht das Leben nicht unbedingt leichter, da auch koalitionspolitische Entscheidungen bis auf die Ebene der Digitalisierung durchschlagen. Inzwischen hat Bayern auch ein Digitalministerium. Es bleibt abzuwarten, wie sich das mittelfristig auswirkt und ob hier durch diese Maß­nahme entscheidende Impulse gegeben werden können.

BD: Was lehrt uns der Blick ins Ausland? Sind die USA und China schneller und erfolgreicher in die Digitalisierung gestartet als Europa? Welche Faktoren spielten dabei eine Rolle? Was muss geschehen, damit Deutschland aufholt, was die Kompetenz bei digitalen Dienstleistungen und Produkten betrifft? Können wir es uns leisten, es nicht zu versuchen?

MB: Die USA und China habe ich ja bereits angesprochen. Ich denke, in beiden Fällen le­ben wir mit der schwierigen Erkenntnis, dass dort gigantische Plattformunternehmen entstanden sind. In den USA sind es die „Big Five“: Google, Apple, Amazon, Microsoft und Face­book. In China haben Unternehmen inzwischen nahezu die gleiche Größenord­nung erreicht wie die in den USA und wachsen auch noch schneller. Die amerikani­schen Unternehmen gehören zu den weltweit wertvollsten Unternehmen überhaupt, wenn man das in Börsenwerten rechnet. Besonders bemerkenswert ist, dass unter den 10 teuersten, börsennotierten Unternehmen der Welt sieben Plattformunter­nehmen sind. Davon sind sechs erst in den letzten 10 Jahren in diese Rangliste aufge­stiegen, zwei davon kommen aus China, fünf aus den USA. Allein daran sieht man die Geschwindigkeit und Wucht. Bisher kann dem Bayern, Deutschland oder Europa bedauerlicherweise wenig ent­gegensetzen.

Beachtenswert ist, dass die genannten Unternehmen allesamt Softwareunternehmen sind und von Managern geführt werden, die zum einen selbst Unternehmensgründer sind und zum anderen aber auch enorme Kenntnisse im Bereich der Softwaretechnik aufweisen. Wir haben in Europa – sieht man von SAP ab – nichts annähernd Ver­gleichbares. Das macht mir schon große Sorgen und Gedanken, inwieweit wir hier die Chance haben mitzuhalten. Ich will gar nicht von „aufholen“ reden. Ich bin daher eher et­was skeptisch. Ich fürchte, wir werden in der Digitalisierung weiter zurückfallen, wenn es uns nicht gelingt, einen eigenen Weg zu finden, also ein Technologiegebiet oder wenigstens eine technologische Nische, die es Bayern, Deutschland und Europa ermöglichen wird auch in Zukunft auf der wirtschaftlichen Ebene eine Rolle zu spielen. Die Bundesregierung möchte hier ja mit Frankreich im Bereich KI voran gehen. Wenn man sich den französischen Beauftragten Cédric Villani zu dem Thema anhört, gestaltet sich die konkrete, länderübergreifende Zusammenarbeit aber schwierig.

Die große Herausforderung sind aus meiner Sicht nicht zu wenig Ressourcen, sondern die Notwendigkeit die Akteure und Ressourcen zielgerichtet zu bündeln um – wie oben schon einmal angesprochen – eine Wirkung zu entfalten und dann auch eine positive Würdigung der maßgeblich von der Politik und Wirtschaft eingeleitete Programme zur Unterstützung des Digitalen Wandels zu erhalten. In Deutschland wird das zu sehr als alleinig staatliche Aufgabe gesehen, die Wucht der KI geht international aber von einschlägigen Unternehmen aus, die es Deutschland zu wenig gibt. Der Staat kann Rahmenbedingungen schaffen, die Ausbildung an Hochschulen fördern. Er kann privatwirtschaftliche Initiative nicht ersetzen.

BD: Bringen Informatiker in Deutschland heute die richtige Ausbildung mit, um die digitale Ertüchtigung der Wirtschaft und Gesellschaft in die Wege zu leiten? Was muss sich in den Studiengängen und Lehrplänen ändern? Was sollte bei andern Studiengängen (BWL, VWL, Jura. Medizin) getan werden?

MB: Die Ausbildung in Deutschland beginnt sich langsam zu ändern und die richtige Rich­tung zu bewegen. Das geht zunächst einmal die Schulen an. Hier haben wir in Bayern tatsächlich in den letzten 20 bis 30 Jahren gewisse Fortschritte erzielt. Ich habe mich bereits in den 90er Jahren dafür eingesetzt, dass Informatik Pflichtfach in allen wei­terführenden Schulen wird. Nun gab es vor zwei Jahren einen Beschluss der Bayeri­schen Staatsregierung, der genau dies zum Thema hat.

Es geht aber nicht nur darum, Informatik in die Schule zu bringen, es geht vielmehr darum, die Kinder auch zu er­tüchtigen für eine von Informatik gestaltete Welt und auch in den einzelnen Fächern digitale Medien optimal zu nutzen. Das ist in erster Linie keine Frage der Ausstattung, obwohl die Ausstattung auch eine gewisse Rolle spielt, sondern eine Frage der Nut­zung und Umsetzung didaktischer Konzepte im Hinblick auf Digitalisie­rung und Medienkompetenz.

Für die Universitäten und Hochschulen gilt gerade: Digitalisierung vernetzt alles. Folglich müssen wir an den wissenschaftlichen Bildungseinrichtungen ein Stück weit weg von den klassischen Gräben, die die Fakultäten tei­len. Heute darf es keine Ausbildung mehr für Maschinenbauer, Elektrotechniker, Phy­siker, Mediziner oder Geisteswissenschaftler geben, die nicht die wichtigsten Elemente der Informatik als Treiber der Digitalen Transformation umfasst. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen schafft die In­formatik neue wissenschaftliche Methoden, man denke nur an Datenanalyse. Zum anderen schafft die Informatik mit ihren Möglichkeiten der Modellbildung und Simu­lation auch ein neues Verständnis für die unterschiedlichsten Fachgebiete. Hinzu kommt, dass später im Beruf grundsätzliches Informatik-Knowhow erforderlich ist. Hier ist noch eine lange Strecke zu bewältigen, da Universitäten und Hochschulen – nach den Kirchen – die ältesten Organisationsformen sind, die wir haben und sich entsprechend träge bewegen.

BD: Was ist weiter Ihre Rolle im Bereich der Digitalisierung in Bayern?

MB: Meine Aufgabe als Gründungspräsident des Zentrums Digitalisierung Bayern ist abge­schlossen. Die Gründung ist gelungen. Vor drei Monaten wurde unser Zentrum evaluiert mit herausragend positiven Ergebnissen. Dazu möchte ich an dieser Stelle allen danken, die die Initiative Bayern Digital und das Zentrum Digitalisierung.Bayern auf den Weg gebracht haben und es in ganz Bayern über Veranstaltungen und Projekte mit Leben gefüllt haben und füllen werden. Ich hoffe, dass das ZD.B – unterstützt durch den Landtag, die bayerische Staatskanzlei und Ministerien − mit seinem Team in der ersten Phase hier tragfähige Strukturen geschaffen hat und diese zukünftig weiter ausbauen wird.

Damit scheint es für mich jetzt an der Zeit zu sein, mich aus dieser Aufgabe zurückzuziehen, so wie es von Anfang an zwischen mir und der dama­ligen Wirtschaftsministerin, Frau Aigner, abgesprochen war. Ich blicke zurück auf knapp vier hochinteressante Jahre. Diese Aufgabe bedeutete für mich eine ganz an­dere Perspektive einzunehmen. Ich war immer mit großer Begeisterung in der Infor­matik wissenschaftlich aktiv und werde dies auch in den nächsten Jahren beibehal­ten.

Die vergangenen vier Jahre sehe ich nicht als eine Zeit, die mich von der wissen­schaftlichen Arbeit abgehalten hat. Es ist mir gelungen, auch in dieser Zeit weiter wissen­schaftlich zu arbeiten. Wichtig war, neue Perspektiven zu gewinnen, viele interes­sante Fragestellungen zu erkennen und aufzugreifen, neue faszinierende Kontakte zu knüpfen und letztendlich auch zu verstehen, warum es in vielen Fällen so schwierig ist, mit einem solchen Thema voranzugehen. Ich denke, große Hemmnisse in dem Bereich sind unsere Verwaltungsstrukturen – auch in den Ministerien, aber auch die Schwierigkeit und Trägheit des demokratischen Systems. Wenn es uns nicht gelingt, mehr technisches Verständnis in die Politik zu bringen, und wenn es nicht gelingt, mehr inhaltliche Kompetenz in die Verwaltungs­apparate der Ministerien zu bekommen, dann wird die Digitalisierung – zumindest aus Sicht des Staates – daran kranken, dass die Dinge sich nicht in eine vernünftige, zukunftsorientierte Richtung bewegen.

BD: Vielen Dank für diesen Rückblick auf vier intensive Jahre! Wie Sie sagen, sehen Sie Ihren Ausflug in Politik und Wirtschaft als Bereicherung an und nicht als Irrweg. Ich freue mich dies zu hören.

Übrigens, nach 2011 und 2014 ist dies das dritte Interview, das der Kollege Manfred Broy für diesen Blog gab. Außerdem stammten viele Kommentare zu andern Beiträgen von ihm.

Mittwoch, 17. April 2019

Ein Luxemburger erklärt uns die Welt − sein Name ist Ranga Yogeshwar

Vielen Zuschauern ist es ein vertrautes Bild. Ein volkstümlicher Österreicher, namens Frank Elstner, überrascht sein Publikum mit spannenden Geschichten oder riskanten Experimenten. Erzählt oder durchgeführt werden diese von seinem stets freundlichen und arbeitswilligen Assistenten Ranga. Nicht der Vatergott Wotan lässt den Berggeist Alberich für sich arbeiten, sondern der Nachfolger des großen Camille Feltgen von RTL einen Luxemburger Physiker mit einem indischen Namen. Ranga Yogeshwar (*1959) und sein Zwillingsbruder Pierre haben eine Mutter aus Diekirch und einen Vater aus Bangalore. Beide gingen in Indien in die Grundschule, in Luxemburg aufs Gymnasium und studierten in Aachen Physik. Ranga fühlte sich nach einer kurzen Tätigkeit im Kernforschungszentrum Jülich zum Wissenschaftsjournalismus gezogen. Sein Landsmann Jean Pütz verstand es, ihn beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) unterzubringen.

Gesammelte Geschichten

Das Buch Nächste Ausfahrt Zukunft: Geschichten aus einer Welt im Wandel (2017, 400 S.) ist größtenteils eine Sammlung von früheren Beiträgen und Vorträgen. Die Beiträge erschienen teilweise in überregionalen Zeitungen wie der FAZ oder der Süddeutschen. Die Vorträge waren nicht Teil einer Fernsehsendung. Einige der Kapitel stellen eine Erstveröffentlichung dar.

Das Spektrum der Themen, das Yogeshwar behandelt. Ist sehr breit. Im Folgenden greife ich nur einige der Themen heraus, mit denen der Autor sich oft mehrmals befasst. Er vertritt eine Meinung, die ich fast immer teile. Dazu gehört, dass wir beide weder Utopien noch Dystopien mögen. Entscheidend ist es, die Realität zu erkennen und von ihr aus zu extrapolieren. Dabei müssen natur- oder sozialwissenschaftliche Methoden und Prinzipien zur Anwendung kommen. So wie jeder Mensch den eigenen Regenbogen sieht, so sehen wir die Welt und ihre Vergangenheit und Zukunft jeder auf eigene Art.

Irrweg Atomenergie

Für ihn als ausgebildeten Atomphysiker sind die beiden großen Havarien 1986 in Tschernobyl und 2011 in Fukushima besonders erschütternd. War Tschernobyl die Folge eines menschlichen Fehlers, so war Fukushima durch ein Erdbeben und einen nachfolgenden Tsunami verursacht. Heute sind beides strahlende Sarkophage. Der Autor war an beiden Orten, in Tschernobyl sogar mehrfach. Im Februar 2016, also 30 Jahre nach dem Unfall, war die Gegend noch im Umreis von 50 km entvölkert, nur ein einzelner Hund streunte umher. Die Strahlung war teilweise das 30-fache des Erlaubten. Über dem früheren Reaktor wölbt sich eine 25 Meter hohe Betonhülle. Als Nächstes wird über allem eine 50 Meter hohe Hülle gebaut.

In Fukushima durfte Yogeshwar 2014 zum ersten Mal im Gelände des Kraftwerks Aufnahmen machen. Wegen zu hoher Strahlung konnte das eigentliche Kraftwerksgelände bis heute nicht aufgeräumt werden. Dieser Tage ging die Nachricht durch die Medien, dass ein Brennstab per Roboter einige Hundert Meter weit transportiert werden konnte. Niemand weiß, wie hoch die Strahlung im Innern des Reaktors ist. Täglich werden 700 Tonnen Kühlwasser benötigt, das anschließend für einige Hundert Jahre auf dem Gelände gelagert werden muss, weil es kontaminiert ist.

Gefährdung des Planeten Erde

Im Jahre 2011 tauchte der Autor vor Norwegen mit einer Tiefsee-Kapsel bis zum Meeresgrund. Dort sah er 8000 Jahre alte Kaltwasser-Korallen. Es ist zu befürchten, dass, diese wegen des zu hohen CO2-Gehalts der Ozeane demnächst absterben. Ihm wurden Schildkröten vor Costa Rica gezeigt, die Plastikreste mit Quallen verwechselten und an ihnen erstickten. In Inzwischen schaffte es das Problem des Plastikmülls in das Bewusstsein der Allgemeinheit. Immerhin hat das EU-Parlament inzwischen bestimmte Plastikprodukte verboten.

Es steht für Yogeshwar außer Frage, dass wir Menschen nicht so fortfahren können wie bisher, wenn wir die Ressourcen, über die unsere Erde verfügt, nicht überstrapazieren wollen.

Wundertüte Genetik und sonstige Medizin

Yogeshwar beschreibt mehrfach die großen Fortschritte, die die Medizin erzielt hat, und hier speziell die Genetik. So besuchte er ein Labor in den USA (Jackson Lab, Bar Harbor, ME); das genetisch veränderte Mäuse massenhaft erzeugt und an Kliniken und Labors auf der ganzen Welt liefert.

Im Jahre 2004 besuchte er das Labor des Tierarztes Woo-Suk Hwang in Seoul, der von sich reden machte, da er aus menschlichen Körperzellen Embryonen klonte, um aus diesen Stammzellen zu gewinnen. Normalerweise arbeitet Hwang mit Eizellen aus Gebärmüttern von Schlachthofschweinen. Als er auf menschliche Eizellen überging, bedankte er sich zwar bei den Spenderinnen, dachte aber nicht daran, die nationale Ethik-Kommission zu befragen.

Sehr beeindruckt ist er von der Entdeckung des CRiSP/R-Verfahrens. In ihm wird nachgeahmt, wie Bakterien es schaffen in ihrem Erbgut einen Virus zu finden und herauszuschneiden. Es ist auf 6000 Erbkrankheiten anwendbar, die durch ein einzelnes Gen übertragen werden.

Grenzen maschineller Intelligenz

Das Lieblingsbeispiel, um die Grenzen der Künstlichen Intelligenz (KI) zu diskutieren, ist heute das selbstfahrende Auto. Yogeshwar beschreibt ausführlich eine Testfahrt auf der Autobahn zwischen Hannover und Hildesheim mit einem deutschen Prototypen. Er konstatiert, dass es ihm schwerfiel, seine Aufmerksamkeit so wach zu halten, dass er notfalls der Automatik zu Hilfe kommen konnte.

Er zweifelt nicht daran, dass die Software immer dazulernen kann und die Fahrereigenschaften diejenigen eines Menschen bald übertreffen können. Bedenken hat er, wenn wir dazu neigen, moralische Entscheidungen und die Abwägung von Schäden stets auf den Menschen zu verlagern. Was diese Art von Entscheidungen betrifft, ist der Mensch nämlich alles andere als ein Ideal. Das kann sogar besonders schlecht sein, da der Mensch oft irrational handelt.

Bildung – gestern und heute

Der Autor verbindet katastrophale Erinnerungen mit seiner Schulzeit in Indien. Heute stehen überall auf der Welt bessere Methoden zur Verfügung, sowohl was Pädagogik wie technische Ausstattung betreffen. Er verweist auf die Khan Academy für individuelles Lernen und das MOOC-Angebot der Harvard University. Harvard hatte 155.000 Nutzer im ersten Jahr. MOOC steht für Massive Open Online Courses. [Auf ein deutsches MOOC-Angebot wird vom Kollegen Christoph Meinel in diesem Blog hingewiesen]

Ängste und Gegenreaktionen

Oft wird Yogeshwar vorgeworfen, dass er zu technik-freundlich und zu fortschrittsgläubig sei. Den Eindruck habe ich nicht. Auf jeden Fall ist er sich voll bewusst, dass andere Menschen unter Umständen ganz anders reagieren als er selbst. Oft nutzt er einen historischen Vergleich, um die Dinge, die heute manche Menschen aufwühlen, in Relation zu früheren Situationen oder Ereignissen zu setzen. Folgende Ängste werden im Buch besprochen: 
  • Angst vor zu vielen und zu schnellen Änderungen. Die Welt verändere sich zu schnell, so sagen 51% der Meinungsführer. Darauf reagieren viele Menschen, indem sie ihr Heil in der Rückwärtsgewandtheit suchen. Auch glauben sie an Heilsbringer und alternative Fakten. Wird die modere Medizin zu komplex, werden die Patienten misstrauisch. Sie gehen lieber zu Quacksalbern. 
  • Fehlendes Vertrauen in die Zukunft. Laut Umfragen glauben in Deutschland nur noch 4% der Leute, dass die Zukunft besser wird. Das ist in andern Ländern anders, vor allem in Asien. Wir versäumen es – vor allem in Deutschland − zu Gestaltern der Zukunft zu werden.
  • Angst vor der Macht der Maschinen. Viele Menschen glauben daran, dass Maschinen dem Menschen Konkurrenz machen werden, ja ihn verdrängen können. Ray Kurzweil malt diese Vision in immer neuen Farben.
  • Angst vor der Macht der Konzerne bzw. des Staates. Den Firmen, die moderne Techniken besitzen und verbreiten, wird unterstellt, dass sie versuchen die Massen der Menschen manipulieren. Facebook hat sich besonders verdächtig gemacht. Es will steuern, was wir lesen. Google wurde sogar bereits verurteilt, weil es gewisse Produkte bevorzugt bewarb. Im Falle Chinas müssen wir leider annehmen, dass der Staat die Hand im Spiel hat, wenn dank des Citizen Score eine vollständige Kontrolle vorbereitet wird.

Wirtschaftlicher Nutzen darf nicht alles sein

Eine eindimensionale Ausrichtung auf die Wirtschaft vernachlässige die Kultur und die Religion. Vom Silicon Valley kann man nichts anderes erwarten. Dort hat man nur das Ziel, wenige schnell reich zu machen. Genau da passt das Internet. Es ermöglicht große Zahlen von Nutzern. Genau das macht uns Amazon vor. Bald wird man auch ein eigenes Mode Label haben. Das bindet Kunden.

Auch die wissenschaftliche Forschung sollte nicht nur nach ihrem Nutzen für die Menschen begründet werden. Die Vermehrung des Wissens an sich reiche als Motiv aus. Die Neugier des Menschen sollte höher stehen als die Krämerdenke. Das Foto, das die Raumsonde Voyager 1 vom ganzen Sonnensystem im Februar 1990 machte, sage mehr aus über die Position des Menschen als alle bisherigen Philosophen zusammen. Niemand wird uns je vermissen. Nur dort, wo der Kreis ist, entstand einmal Leben. Es hat bereits gelitten. Wir Menschen haben es in der Hand, es auch ganz zu zerstören.
Milchstraße von Voyager 1 aus im Februar 1990

Auszug aus einem Interview im Informatik-Spektrum 1/2019

Anlässlich der GI-Jahrestagung gab Ranga Yogeshwar ein Interview für die Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft für Informatik (GI).  Hier einige Sätze, die über sein Buch hinausgehen:
  • Zuerst kommt die neue Technik, danach erst die Regeln dafür. Zuerst gab es Autos, dann Ampeln und schließlich Gurte.
  • Die Chinesen entdecken gerade Plattenbauten als großen Luxus im Vergleich zu dem, was sie hatten.
  • Nur der. dem es materiell gut geht, stellt die Sinnfrage.
  • ‚Darf ich eine intelligente Maschine taufen?‘ Das ist eine gute Frage für einen Theologen.
  • Erziehen wir unsere Kinder nur zu Konsumenten, oder auch zu Gestaltern?
  • Bibliotheken und Museen haben heute die Chance mit Multimedia-Lernmaterial viele Leute anzulocken.
  • Sagt bei uns jemand, er weiß was ‚Machine Learning‘ ist, so bekommt er sofort ein Stellenangebot von Google.
  • Bildung gibt es heute genauso gut in Mumbai wie in München.
  • Wenn ältere Menschen sagen, sie hätten keine Zeit zum Lernen, dann ist das meist eine glatte Lüge.
Zusammengefasstes

Der Eindruck ist berechtigt, dass durch das Zusammenfügen getrennter Veröffentlichungen eine gewisse Redundanz entsteht. Auch geht dadurch die Zielstrebigkeit verloren. Es fehlt der ‚Zug zum Tor‘ nennt dies ein Kommentator. Trotzdem ein lesenswertes Buch von einem engagierten Welterklärer. Ich werde ihm gerne weiter zuhören.

Nachtrag am 18.4.2019

Der SPIEGEL 15/2019 enthält ein Interview mit Thomas Straubhaar, dem ehemaligen Leiter des Hamburger Weltwirtschaftinstituts (WWI). Hier einige Sätze daraus:
  • Wir leben länger, wir sind gesünder, wir genießen mehr Wohlstand, und zwar weltweit.
  • Unsere Kindeskinder werden noch länger leben als wir, werden weniger arbeiten und werden bessere Jobs haben.
  • Wir müssen auf die Fähigkeiten der einzelnen Menschen vertrauen. Wir sollten keine Lösungen von oben verordnen. Wir sollten nicht aus Europäern Chinesen machen.
  • Wir wissen alle nicht, was wird. Nur wer die Veränderung mitgeht, wird den Umbruch erfolgreich meistern.

Sonntag, 14. April 2019

China, ein Koloss kehrt auf die Weltbühne zurück – Interview eines deutschen Informatikers vor Ort

Otthein Herzog (Jahrgang 1944) ist seit 2015 Professor für Künstliche Intelligenz an der Tongji Universität in Shanghai. Seit 2010 ist er Professor of Visual Information Technologies an der Jacobs Universität in Bremen. Von 1993 bis 2009 leitete er die Forschungsgruppe für Künstliche Intelligenz an der Universität Bremen sowie das Technologiezentrum für Informatik (TZI). Von 1977 bis 1993 war er Mitarbeiter der IBM Deutschland in der Softwareentwicklung und der Forschung. Im Jahre 1989 war er Gründungsmitglied des SFB “Grundlagen der Computerlinguistik” der Universitäten Stuttgart, Tübingen und der IBM. Er leitete von 1986-1991 das IBM Deutschland Projekt LILOG – Linguistik und Logik im Institut für Wissensbasierte Systeme des IBM Wissenschaftlichen Zentrums Heidelberg.


Bertal Dresen (BD): Sie sind bereits mehrere Jahre in China tätig. Würden Sie bitte kurz erklären, was Sie veranlasste, nach einer durchaus bewegten Karriere in Deutschland nach China zu wechseln. Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?

Otthein Herzog (OH): Warum sollte ich nicht noch einmal etwas Neues anfangen? Vielleicht muss ich ein wenig ausholen: Wenn man offiziell im „Ruhestand“ ist und trotzdem noch etwas in der „alten“ Umgebung bewegen will, setzt man sich nur zu leicht dem Vorwurf aus, nicht „loslassen zu können“. Deshalb habe ich mich außerhalb der Universitäten, aber in einem zentralen Wissenschaftsbereich intensiv bei acatech – Nationale Akademie der Technikwissenschaften engagiert, und während meiner Beauftragung für „Internationale Angelegenheiten“ im acatech Präsidium viele internationale Kontakte geknüpft, z. B. nach Indien an das Indian Institute of Science und nach China an die Tongji University in Shanghai.

BD: Wie kamen sie auf die Tongji-Universität? Wie ist sie nach Bedeutung und Größe einzuordnen? Wie unterscheidet sich die Ausrichtung der Informatik von Europa oder den USA? Überwiegen Hardware- oder Software-Themen? Welche Anwendungen werden behandelt? Dürfen politische oder gesellschaftliche Implikationen behandelt werden?

OH: Von der Tongji University, mit der ich von acatech aus vier gemeinsame Konferenzen über „Smart Cities“ organisiert hatte, kam 2015 die Anfrage, ob ich für zwei Monate als Gastforscher an das „China Intelligent Urbanization Co-Creation Center for High Density Region“ nach Shanghai kommen wolle, um dort als Berater für Methoden der KI zu arbeiten. Das tat ich, und aus den zwei Monaten sind nun schon fast vier Jahre geworden. Die wissenschaftliche Dynamik und die Forschungsbedingungen sind herausragend, und die Kooperation mit den chinesischen Kollegen ist ausgezeichnet – solche Arbeitsbedingungen kann man bei uns lange suchen!

Die Informatik an der Tongji University dort ist stark Software- und Anwendungs-orientiert und behandelt dieselben Themen wie überall auf der Welt. 

Die Stadtplanung, wo ich arbeite, ist eines der Hauptgebiete der (immer noch sehr deutsch geprägten) Tongji University, die 1907 von einem deutschen Arzt gegründet wurde und heute 35.000 Studierende hat als eine der Top-Universitäten in China. Da die Stadtplanung offensichtlich gesellschaftliche Implikationen hat, spielen diese auch eine große Rolle derart, dass bei allen Planungen immer explizit gemacht wird, dass die Stadtplanung den betroffenen Menschen ein besseres Leben in einer für sie gesünderen Umwelt zu ermöglichen hat.

BD: Wie laufen Ihre Lehrveranstaltungen ab, primär in Englisch oder Chinesisch? Welche von Ihnen angebotenen Themen finden große Aufmerksamkeit? Wie wird die Forschung organisiert und finanziert?

OH: Da ich dort eine Forschungsprofessur habe, veranstalte ich selbst keine regelmäßigen Lehrveranstaltungen, arbeite aber viel mit Bachelor-, Master- und PhD-Studenten zusammen, die durchweg – mehr oder weniger – Englisch sprechen können.

In der Stadtplanung finden die Lehrveranstaltungen auf Chinesisch statt, während die Studierenden im Maschinenbau und der Elektrotechnik während der ersten Semester Deutsch lernen, und viele deutsche Professor*innen dieser Fächer dort Blockveranstaltungen auf Deutsch durchführen. Außerdem gibt es an der Tongji University ein Deutsch-Chinesisches Hochschulkolleg, in dem die deutsche Industrie zur Zeit 23 Stiftungslehrstühle finanziert.

BD: Welche anderen Universitäten oder Forschungseinrichtungen Chinas verdienen Beachtung? Reicht es aus, englisch-sprachige Fachzeitschriften und Tagungen (ACM, IEEE) zu verfolgen, wenn man wissen will, was geforscht wird? Wie hoch sind die Absolventenzahlen in Informatik in China insgesamt? Wie ist die Einstellung zu technischen Fächern allgemein? Was sollte ein deutscher Studierender beachten, der einige Semester in China studieren will?

OH: Es gibt zwei chinesische Universitäten, die in dem anerkannten internationalen Ranking „THE World University Rankings“ vor deutschen Universitäten stehen, z. B. Tsinghua University: Platz 22), Peking University (Platz 31, direkt vor der LMU, der ersten deutschen Universität in diesem Ranking), Da die Master-und PhD-Abschlussarbeiten in Chinesisch geschrieben werden, sind im Westen nur die Konferenz- und Zeitschriftenbeiträge sichtbar, die auf Englisch publiziert werden. Hinzu kommt, dass es inzwischen in China viele „Internationale Konferenzen“ gibt, bei denen die Konferenzsprache dennoch Chinesisch ist. Zusammengefasst: meiner Einschätzung nach werden die meisten chinesischen Forschungsergebnisse im Westen nicht wahrgenommen.

Ein deutscher Studierender sollte vor allem mindestens Grundkenntnisse des Chinesischen mitbringen, wenn er/sie nach China kommt, weil es nur dann möglich ist, von Anfang an Kontakte zu knüpfen.

BD: Welche Unternehmen mit Informatik-Bezug sind besonders erfolgreich? Für Aktienfreunde sind Alibaba, Baidu und Tencent bekannt. Im Zusammenhang mit 5G-Mobilfunk wird immer wieder Huawei als Marktführer erwähnt. Worin liegt der Schwerpunkt des Geschäfts, auf Hardware, Software oder Dienstleistungen? Wie verhält sich das Inlands- zum Auslandsgeschäft? Gibt es ein gegenseitiges Befruchten?

OH: Der chinesische Markt allein ist schon riesig, und infolge der offiziellen Abschottung vor Google, LinkedIn, Facebook und Twitter sind die entsprechenden chinesischen Firmen im Land sehr erfolgreich. Der online-Einkauf ist wesentlich weiter verbreitet als im Westen, ebenso Bezahlsysteme wie WeChatPay und AliPay, die schon fast das Bargeld abgelöst haben. Im Allgemeinen sind die Chinesen der Technik gegenüber wesentlich aufgeschlossener als ich das z. B. aus Deutschland kenne (und es gibt mehr Smartphones in China als Einwohner…).

BD: Wie funktioniert in China die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Industrie, anders (oder vielleicht sogar besser) als in Deutschland? Gibt es Vorzeige-Beispiele? Leidet die Freiheit der Forschung unter dem Staatseinfluss? Geht von einer der oben erwähnten Firmen eine Gefahr aus in dem Sinne, dass der chinesische Staat sie für seine Zwecke missbraucht?

OH:  Viele Professor*innen an Technischen Universitäten in China haben Beratungsaufträge in der Industrie; andererseits gibt es immer auch noch eine starke Tradition innerhalb von Universitäten für die „reine“ Lehre. Es gibt aber z. B. keine Institution wie Fraunhofer in China, die in einem entsprechenden Ausmaß institutionellen Technologietransfer anbieten könnte – allerdings sind erste Ansätze dazu durch Fraunhofer-Alumni zu bemerken.

Im Übrigen sind die chinesischen Firmen ebenso den lokalen Gesetzen unterworfen wie westliche Firmen in ihren Ländern – ich sehe da höchstens graduelle Unterschiede. Außerdem gilt für diese weltweit agierenden Firmen durchaus, dass ein expliziter staatlicher Einfluss sich sehr negativ auf ihre Geschäfte im Ausland auswirken würde.

BD: Welche Haltung empfehlen Sie Ihren deutschen oder europäischen Hochschulkollegen gegenüber China? Wie soll sich die deutsche oder die westliche Industrie und Wirtschaft verhalten? Auf was sollen sich unsere Politiker und Bürger einstellen? Was können wir allgemein von China lernen? Wie kann man Nutzen aus der Kooperation ziehen? Muss man Angst vor dem Koloss China haben?

OH: Meine Empfehlung gegenüber Hochschulkolleg*innen ist ganz klar: auch wenn man sich in der Vergangenheit vor allem an den USA orientiert hat, wird es in Zukunft immer wichtiger werden, sich (auch) an China zu orientieren: der 2016 World Economic Forum report: Human Capital Index, p. 21 nennt die Anzahl von „Recent Graduates“ in den STEM Fächern in China mit 4,7 Mio (USA: 0,6 Mio). Wir können auch deshalb, und auch im Hinblick auf die Qualität der Universitäten m. E. wissenschaftlich nur mithalten, wenn wir intensive wissenschaftliche Kontakte nach China pflegen.

Die deutsche Industrie und Wirtschaft hat schon lange klar erkannt, dass der Zugang zu dem chinesischen Markt für sie enorm wichtig ist und hat sich entsprechend aufgestellt, wie man an den Beispielen der Automobilindustrie und der Realisierung von Industrie 4.0-Konzepten in China deutlich sehen kann.

Hochachtung sollten wir alle haben vor den Leistungen in China während der letzten 40 Jahre: es ist dort gelungen, die Armut zu besiegen (500 Millionen wurden inzwischen über die Armutsgrenze gehoben, und bis 2020 soll die Armut zu 100% beseitigt sein), ein leistungsfähiges Erziehungssystem aufzubauen und der gesamten Bevölkerung eine moderne medizinische Versorgung zu sichern.

Lernen kann man sicherlich von China, dass Bildung wertvoll ist, und wie man wirtschaftliche Strategien mit langem Atem realisiert und koordiniert mit Wissenschaft, Wirtschaft und Politik auf diese Ziele hin arbeitet.

BD: Vielen Dank für einen sehr interessanten Bericht. Es ist mir eine besondere Freude nach dem Interview von 2014 dieses weitere Interview bringen zu dürfen.

Freitag, 12. April 2019

Wert-orientierte und erkenntnis-orientierte Vorstellungen (von Peter Hiemann)

In vielen politischen und gesellschaften Diskussionen treffen oft die so genannten wert-orientierten Positionen auf die mehr erkenntnis-orientierten. Es tut sich dann meist ein fundamentaler Gegensatz auf. Fast alle Angehörige einer Religionsgemeinschaft beanpruchen, dass sie wert-orientiert argumentieren.

In seinem heutigen Essay vertritt Peter Hiemann den Standpunkt, dass der Gegensatz nicht zwangsläufig oder inhärent ist. Umfassende Erkenntnisse erlauben umfassende Wertschätzungen, oberflächliche Erkenntnisse verursachen oberflächliche Wertschätzungen.

Interessant finde ich, dass Hiemann uns Informatiker besonders in die Pflicht nimmt. Kollegen von uns erhalten beträchtliche Forschungsmittel, um die Wirkungsweise des menschlichen Gehirn zu erforschen. Das geschieht einerseits im Human Brain Projekt (HBP) der EU, andererseits im Brain Activity Map Project  (Project BRAIN) der NSF. Die erhofften Erkenntnisse sollten Vieles zurechtrücken, über das heute meist noch spekuliert wird. Außerdem fand Hiemann relevant, was über die Veranstaltung des German Chapters der ACM anläßlich ihres 50-jährigen Bestehens berichtet wurde.

Wie immer gelangen Sie zu seinem Essay,  indem Sie hier klicken.

Mittwoch, 3. April 2019

Avicennas (980-1037) Leben und Nachruhm

Die erste Jahrtausendwende war im römisch-deutschen Abendland die Zeit der Ottonen und ihres geistigen Lehrers Gerbert d’Aurillac (946-1003). In Cordoba, Sevilla oder Fez (oder in der Einsamkeit eines katalanischen Klosters) hatte er die Werke der arabischen Wissenschaft studiert. Das tat am andern Ende der arabischen Welt ein anderer junger Mann 40 Jahre später. Seine Muttersprache war persisch. Geboren wurde er in dem kleinen Ort Afschana bei Buchara, im heutigen Usbekistan. Er hieß Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā – kurz Ibn Sina und latinisiert Avicenna. Eine neuere Biografie stammt von Gotthard Strohmaier (2018, 184 S.). Aus ihr stammen einige der wiedergegebenen Details.

Jugend und Ausbildung in Buchara

Avicennas Vater war Steuereintreiber der ismailitschen Herrscherdynastie der Samaniden. Der Sohn lernte Arabisch als erste Fremdsprache. Arabisch spielte damals im Orient dieselbe Rolle wie Latein in Europa. Es war die Lingua franca, die Sprache von Religion und Wissenschaft. Zwei Privatlehrer führten ihn im Kindesalter in den Koran und in die arabische Literatur ein. Bereits mit zehn Jahren kannte er den Koran auswendig und bildete sich danach autodidaktisch weiter. Bis zum 16. Lebensjahr  hatte er alle wichtigen Werke in Mathematik, Logik, Philosophie und Jurisprudenz studiert. Besonders die Werke des Euklid, des Ptolomäus (der Almagest) sowie die Metaphysik des Aristoteles hatten es ihm angetan. Von einem gelehrten Gemüsehändler lernte er die indische Zahlenrechnung und Algebra. Im Alter von 17 Jahren wandte er sich der Medizin zu, weil das ihm zu einer Stellung und zu Ansehen verhalf. Außerdem sah er die Medizin nicht als eine schwierige Wissenschaft an.


Miniaturbild des Avicenna

Da er alsbald einen beachtlichen Ruf als Arzt erworben hatte, nahm ihn der Samaniden-Herrscher Nuh ibn Mansur (976-997) in seine Dienste auf. Als besondere Auszeichnung wurde ihm erlaubt, die königliche Bibliothek mit ihren seltenen und einzigartigen Büchern zu nutzen. Mit 21 Jahren verfasste er seine ersten beiden Bücher (Buch des Ertrags und Gewinns, Buch der Rechtschaffenheit und der Sünde) für seinen Herrn. Dieser nahm sie entgegen, hat sie aber nie ausgeliehen.

Wanderjahre und Aufenthalt in Isfahan

Als um 1005 sein Vater starb und die Stadt Buchara von einem Turkvolk erobert wurde, verließ Avicenna seine Heimatstadt. Er begab sich nach Gurgentsch in Choresmien, nahe am Aralsee. Im Jahre 1012 musste er wegen politischer Unruhen fliehen. Durch die Wüste Karakorum gelangte er zunächst nach Nisa, und von dort über mehrere Zwischenstationen nach Gurgan am Südende des Kaspischen Meers.


Avicennas Wanderungen

Dort hielt er Vorlesungen in Logik und Astronomie und schrieb ein Buch über die Seele.  Mit einem Empfehlungsschreiben zog er 1014 weiter nach Rayy (in der Nähe des heutigen Teheran) und trat in den Dienst eines schiitischen Herrschers. Sein Ruf als praktizierender Arzt erreichte alsbald den Emir von Hamadan, Schams-ad-Daula (997-1021), der an einer Kolik litt. Außer als Arzt übertrug dieser Avicenna die Aufgabe des Wesirs (entspricht einem Innenminister). Erste Schüler sammelten sich um ihn. Seine Vorlesungen endeten nicht selten in Trinkgelagen, eine Vorstellung, die uns heute undenkbar erscheint, die aber im damaligen Persien geduldet war. 

Als Hamadan 1023 von einer befeindeten Herrschaft erobert wurde, tauchte Avicenna zunächst unter. Er begann eine Korrespondenz mit Ala ad-Daula (1007-1041), dem Emir von Isfahan. Der hatte den Ruf, ein sehr liberaler Herrscher zu sein. Schließlich wechselte Avicenna als Hausfreund des Emirs nach Isfahan. Dort genoss er einen sehr angenehmen Aufenthalt. Jeden Donnerstag veranstaltete der Emir wissenschaftliche Sitzungen, die Avicenna leiten durfte. Er verfasste mehrere Bücher, auch ein Buch des Wissens in Persisch. Auf Wunsch des Emirs befasste er sich mit Sternbeobachtungen. Auch baute er astronosche Geräte. Studenten sammelten sich in seinem Haus, um Ausschnitte aus seinen Werken zu lesen. 

Da Isfahan 1036 kurzzeitig von dem Emir von Ghazna (im heutigen Afghanistan) erobert wurde, wanderten alle in Isfahan befindlichen Bücher Avicennas nach Ghazna. Er selbst ging als gebrochener Mensch zurück nach Hamadan, wo er mit nur 58 Jahren verstarb. Er soll an der Ruhr oder an Darmkrebs gelitten haben. Angeblich wurde sein Ende durch die übermäßige Gabe eines Medikaments durch einen Schüler beschleunigt. Er wurde in Hamadan begraben, wo 1951 (!) für ihn ein Mausoleum errichtet wurde.

Werke und Themengebiete

Von Avicenna sind rund 40 Werke erhalten, die er entweder selbst geschrieben oder seinen Schülern diktiert hat. Es wird angenommen, dass etwa dieselbe Anzahl verloren ging. Die meisten sind in Arabisch verfasst, einige in Persisch. Sie decken folgende Gebiete ab: Astronomie, Geometrie, Logik, Mathematik, Medizin, Physik, Philosophie, Poesie und Rhethorik sowie Geologie, Mineralogie und Musiktheorie.

Sein am breitesten angelegtes Werk heißtBuch der Genesung‘. Es besteht aus fünf Teilen. Etwa ein Drittel befasst sich mit Logik. Sie dient einerseits als Werkzeug, andererseits als eigene Wissenschaft. Er rekapituliert die Geometrie des Euklid, die Astronomie des Ptolomäus und die Philosophie des Aristoteles. Er verteidigt die denkende Seele des Aristoteles und benutzt den Begriff aktiver Intellekt, um eine Art von Weltseele zu beschreiben. Die Existenz der Dinge sei nur Akzidenz, sie gehöre nicht zum Wesen dazu. Meist ist er den Neuplatonikern näher als dem ursprünglichen Aristoteles. Er wendet sich gegen den atomistischen Realismus des Epikur und des Demokrit.

Im ‚Kanon der Medizin‘ fasste er sein medizinisches Wissen zusammen. Es beschreibt die Körperfunktionen und listet alle bekannten Krankheiten und die dazu gehörenden Heilverfahren. Als potentielle Medikamente werden rund 800 Pflanzen beschrieben. Es geht nur selten über den Stand des Wissens hinaus, den Galen von Pergamon (129-216) besaß, der am Hof von Kaiser Marc Aurel wirkte. So wird das Blut als der Leber entspringend gedeutet und noch nicht als Kreislauf gesehen. Physikalische Themen behandelt zum Beispiel ein Briefwechsel mit Al-Biruni (973-1048), der in die Zeit um 997/998 fällt.

Wirkung und Nachruhm

Avicennas Werke verbreiteten sich zuerst innerhalb der muslimischen Welt. Besonders der Kanon der Medizin fand große Anerkennung. Die mehr philosophischen Schriften wurden von orthodoxen Kreisen eher kritisch gesehen. So wurde Avicenna 1160 in Bagdad zum Ungläubigen erklärt und seine Bücher verbrannt. Seine Logik wurde aus dem Lehrplan der Medresen gestrichen, selbst in Buchara. Einige seiner philosophischen Werke wurden lediglich von einer Nebenlinie, den Mystikern des Sufismus, rezipiert.

Im Abendland fand Avicennas Werk Aufmerksamkeit durch die Übersetzung in Latein, die Gerhard von Cremona (1114-1187) in Toledo vornahm. Soweit es dabei um griechische Originalarbeiten ging, fanden Kenner das Ergebnis als Zumutung, eine physische Qual. Dennoch fanden diese Übersetzungen aufmerksame Leser an der Sorbonne in Paris sowie an der Universität Köln. Der Dominikaner Albert von Lauingen (1193-1280), Albertus Magnus genannt, und sein Schüler Thomas von Aquin  (1225-1274), die an beiden Universitäten lehrten, waren von ihnen sehr beeindruckt. Jedenfalls beauftragten sie einen Ordensbruder, Aristoteles aus dem Griechischen direkt ins Latein zu übersetzen. Ohne Aristoteles, d.h. ohne Avicenna, wäre die Scholastik andere Wege gegangen, wenn es sie überhaupt gegeben hätte. 

Das ist aber noch nicht das Ende unserer Geschichte. Die Universitätsbibliothek von Bologna besitzt heute noch eine hebräische Version des Kanons aus dem Jahre 1492. Ein Wegbereiter der neuen Medizin mit Namen Paracelsus von Hohenheim (1493-1541) fand, es sei an der Zeit neue Wege zu gehen und warf in Basel die Schriften des Avicenna ins Feuer.

Schlussgedanken

Wir lernten hier einen Vertreter des Islams kennen, der einem Menschenbild und einer Geisteshaltung entspricht, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Wir haben es damals mit einer pluralistisch angelegten Kultur zu tun. Was uns heute als Isolationsblock erscheint, förderte die geistige Interaktion. Vor allem aber zeigt es, dass Europa nicht zu dem geworden wäre, was es heute ist, hätte es nicht Hilfe von außen bekommen.