Die erste Jahrtausendwende war im römisch-deutschen Abendland die
Zeit der Ottonen und ihres geistigen Lehrers Gerbert
d’Aurillac (946-1003). In Cordoba, Sevilla oder Fez (oder in der Einsamkeit
eines katalanischen Klosters) hatte er die Werke der arabischen Wissenschaft
studiert. Das tat am andern Ende der arabischen Welt ein anderer junger Mann 40
Jahre später. Seine Muttersprache war persisch. Geboren wurde er in dem kleinen
Ort Afschana bei Buchara, im heutigen Usbekistan. Er hieß Abū Alī al-Husain ibn
Abd Allāh ibn Sīnā – kurz Ibn Sina und latinisiert Avicenna. Eine neuere Biografie
stammt von Gotthard Strohmaier (2018, 184 S.). Aus ihr stammen einige der wiedergegebenen
Details.
Jugend und Ausbildung in Buchara
Avicennas Vater war Steuereintreiber der ismailitschen Herrscherdynastie
der Samaniden. Der Sohn lernte Arabisch als erste Fremdsprache. Arabisch spielte damals
im Orient dieselbe Rolle wie Latein in Europa. Es war die Lingua franca, die
Sprache von Religion und Wissenschaft. Zwei Privatlehrer führten ihn im Kindesalter
in den Koran und in die arabische Literatur ein. Bereits mit zehn Jahren kannte
er den Koran auswendig und bildete sich danach autodidaktisch weiter. Bis zum
16. Lebensjahr hatte er alle wichtigen
Werke in Mathematik, Logik, Philosophie und Jurisprudenz studiert. Besonders
die Werke des Euklid, des Ptolomäus (der Almagest) sowie die Metaphysik des
Aristoteles hatten es ihm angetan. Von einem gelehrten Gemüsehändler lernte er die
indische Zahlenrechnung und Algebra. Im Alter von 17 Jahren wandte er sich der
Medizin zu, weil das ihm zu einer Stellung und zu Ansehen verhalf. Außerdem sah
er die Medizin nicht als eine schwierige Wissenschaft an.
Miniaturbild
des Avicenna
Da er alsbald einen beachtlichen Ruf als Arzt erworben hatte, nahm
ihn der Samaniden-Herrscher Nuh ibn Mansur (976-997) in seine Dienste auf. Als
besondere Auszeichnung wurde ihm erlaubt, die königliche Bibliothek mit ihren
seltenen und einzigartigen Büchern zu nutzen. Mit 21 Jahren verfasste er seine
ersten beiden Bücher (Buch des Ertrags und Gewinns, Buch der Rechtschaffenheit
und der Sünde) für seinen Herrn. Dieser nahm sie entgegen, hat sie aber nie
ausgeliehen.
Wanderjahre und Aufenthalt in Isfahan
Als um 1005 sein Vater starb und die Stadt Buchara von einem
Turkvolk erobert wurde, verließ Avicenna seine Heimatstadt. Er begab sich nach Gurgentsch
in Choresmien, nahe am Aralsee. Im Jahre 1012 musste er wegen politischer Unruhen fliehen.
Durch die Wüste Karakorum gelangte er zunächst nach Nisa, und von dort über
mehrere Zwischenstationen nach Gurgan am Südende des Kaspischen Meers.
Avicennas
Wanderungen
Dort hielt er Vorlesungen in Logik und Astronomie und schrieb ein
Buch über die Seele. Mit einem Empfehlungsschreiben
zog er 1014 weiter nach Rayy (in der Nähe des heutigen Teheran) und trat in den
Dienst eines schiitischen Herrschers. Sein Ruf als praktizierender Arzt
erreichte alsbald den Emir von Hamadan, Schams-ad-Daula (997-1021), der an einer Kolik litt.
Außer als Arzt übertrug dieser Avicenna die Aufgabe des Wesirs (entspricht einem Innenminister).
Erste Schüler sammelten sich um ihn. Seine Vorlesungen endeten nicht selten in Trinkgelagen, eine Vorstellung, die
uns heute undenkbar erscheint, die aber im damaligen Persien geduldet war.
Als Hamadan 1023 von einer befeindeten Herrschaft erobert wurde, tauchte Avicenna zunächst unter. Er begann eine Korrespondenz mit Ala ad-Daula (1007-1041), dem Emir von Isfahan. Der hatte den Ruf, ein sehr liberaler Herrscher zu sein. Schließlich wechselte Avicenna als Hausfreund des Emirs nach Isfahan. Dort genoss er einen sehr angenehmen Aufenthalt. Jeden Donnerstag veranstaltete der Emir wissenschaftliche Sitzungen, die Avicenna leiten durfte. Er verfasste mehrere Bücher, auch ein Buch des Wissens in Persisch. Auf Wunsch des Emirs befasste er sich mit Sternbeobachtungen. Auch baute er astronosche Geräte. Studenten sammelten sich in seinem Haus, um Ausschnitte aus seinen Werken zu lesen.
Da Isfahan 1036 kurzzeitig von dem Emir von Ghazna (im heutigen Afghanistan) erobert wurde, wanderten alle in Isfahan befindlichen Bücher Avicennas nach Ghazna. Er selbst ging als gebrochener Mensch zurück nach Hamadan, wo er mit nur 58 Jahren verstarb. Er soll an der Ruhr oder an Darmkrebs gelitten haben. Angeblich wurde sein Ende durch die übermäßige Gabe eines Medikaments durch einen Schüler beschleunigt. Er wurde in Hamadan begraben, wo 1951 (!) für ihn ein Mausoleum errichtet wurde.
Werke und Themengebiete
Von Avicenna sind rund 40 Werke erhalten, die er entweder selbst
geschrieben oder seinen Schülern diktiert hat. Es wird angenommen, dass etwa
dieselbe Anzahl verloren ging. Die meisten sind in Arabisch verfasst, einige in
Persisch. Sie decken folgende Gebiete ab: Astronomie, Geometrie, Logik, Mathematik,
Medizin, Physik, Philosophie, Poesie und Rhethorik sowie Geologie, Mineralogie
und Musiktheorie.
Sein am breitesten angelegtes Werk heißt ‚Buch
der Genesung‘. Es besteht aus fünf Teilen. Etwa ein Drittel befasst sich mit
Logik. Sie dient einerseits als Werkzeug, andererseits als eigene Wissenschaft.
Er rekapituliert die Geometrie des Euklid, die Astronomie des Ptolomäus und die
Philosophie des Aristoteles. Er verteidigt die denkende Seele des Aristoteles
und benutzt den Begriff aktiver Intellekt, um eine Art von Weltseele zu
beschreiben. Die Existenz der Dinge sei nur Akzidenz, sie gehöre nicht zum Wesen
dazu. Meist ist er den Neuplatonikern näher als dem ursprünglichen Aristoteles.
Er wendet sich gegen den atomistischen Realismus des Epikur und des Demokrit.
Im ‚Kanon der Medizin‘ fasste er sein medizinisches Wissen zusammen.
Es beschreibt die Körperfunktionen und listet alle bekannten Krankheiten und
die dazu gehörenden Heilverfahren. Als potentielle Medikamente werden rund 800
Pflanzen beschrieben. Es geht nur selten über den Stand des Wissens hinaus, den
Galen von Pergamon (129-216) besaß, der am Hof von Kaiser Marc Aurel wirkte. So
wird das Blut als der Leber entspringend gedeutet und noch nicht als Kreislauf
gesehen. Physikalische Themen behandelt zum Beispiel ein Briefwechsel mit Al-Biruni
(973-1048), der in die Zeit um 997/998
fällt.
Wirkung und Nachruhm
Avicennas Werke verbreiteten sich zuerst innerhalb der
muslimischen Welt. Besonders der Kanon der Medizin fand große Anerkennung. Die
mehr philosophischen Schriften wurden von orthodoxen Kreisen eher kritisch
gesehen. So wurde Avicenna 1160 in Bagdad zum Ungläubigen erklärt und seine
Bücher verbrannt. Seine Logik wurde aus dem Lehrplan der Medresen gestrichen, selbst
in Buchara. Einige seiner philosophischen Werke wurden lediglich von einer
Nebenlinie, den Mystikern des Sufismus, rezipiert.
Im Abendland fand Avicennas Werk Aufmerksamkeit durch die
Übersetzung in Latein, die Gerhard von Cremona (1114-1187) in Toledo vornahm. Soweit
es dabei um griechische Originalarbeiten ging, fanden Kenner das Ergebnis als
Zumutung, eine physische Qual. Dennoch fanden diese Übersetzungen aufmerksame
Leser an der Sorbonne in Paris sowie an der Universität Köln. Der Dominikaner Albert von
Lauingen (1193-1280), Albertus Magnus genannt, und sein Schüler Thomas von
Aquin (1225-1274), die an beiden
Universitäten lehrten, waren von ihnen sehr beeindruckt. Jedenfalls beauftragten
sie einen Ordensbruder, Aristoteles aus dem Griechischen direkt ins Latein zu
übersetzen. Ohne Aristoteles, d.h. ohne Avicenna, wäre die Scholastik andere
Wege gegangen, wenn es sie überhaupt gegeben hätte.
Das ist aber noch nicht das Ende unserer Geschichte. Die Universitätsbibliothek von Bologna besitzt heute noch eine hebräische Version des Kanons aus dem Jahre 1492. Ein Wegbereiter der neuen Medizin mit Namen Paracelsus von Hohenheim (1493-1541) fand, es sei an der Zeit neue Wege zu gehen und warf in Basel die Schriften des Avicenna ins Feuer.
Das ist aber noch nicht das Ende unserer Geschichte. Die Universitätsbibliothek von Bologna besitzt heute noch eine hebräische Version des Kanons aus dem Jahre 1492. Ein Wegbereiter der neuen Medizin mit Namen Paracelsus von Hohenheim (1493-1541) fand, es sei an der Zeit neue Wege zu gehen und warf in Basel die Schriften des Avicenna ins Feuer.
Schlussgedanken
Wir lernten hier einen Vertreter des Islams kennen, der einem
Menschenbild und einer Geisteshaltung entspricht, die wir uns heute kaum noch vorstellen
können. Wir haben es damals mit einer pluralistisch angelegten Kultur zu tun. Was uns
heute als Isolationsblock erscheint, förderte die geistige Interaktion. Vor
allem aber zeigt es, dass Europa nicht zu dem geworden wäre, was es heute ist,
hätte es nicht Hilfe von außen bekommen.
Um die Popularisierung des Aristoteles im Abendland machte sich auch Ibn Ruschd (1126-1198), latinisiert Averroes, verdient. Er stammte aus Córdoba und starb in Marrakesch.
AntwortenLöschenIn Rüdiger Inhetveens Schrift 'Das arabische Erbe in Wissenschaft und Philosophie' von 2014 befindet sich folgender Hinweis auf Seite 21: 'Nach den alten Statuten der Wiener medizinischen Fakultät vom Jahre 1389 musste jeder Scholar, um zum Baccelaureus promoviert zu werden, sich ausweisen, den ersten und vierten Canon Avicennae ... gehört zu haben'.
AntwortenLöschenHartmut Wedekind schrieb: Der Beitrag ist eine wunderschöne Erweiterung dessen, was Rüdiger Inhetveen über Avicenna im Gesamtzusammenhang der arabischen Gelehrtenwelt schrieb:
AntwortenLöschenhttps://blogs.fau.de/wedekind/files/2015/12/R%C3%BCdiger-Inhetveen-Arabisches-Erbe.pdf
Dort wird Avicenna nur als Mediziner aufgeführt. Das waren damals aber Universalgelehrte, die es heute nicht mehr gibt.
Als Universalgelehrter gab Avicenna auch psychologische Empfehlungen ab: Wer an Liebeskummer leidet, der solle sich Sklavinnen kaufen und in ihren Armen Vergessen suchen.
AntwortenLöschenÜbrigens, als Ersatz für Sklavinnen stehen 1000 Jahre später osteuropäische oder gar exotische Gunstgewerblerinnen im Angebot.
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