Otthein Herzog (Jahrgang 1944) ist seit
2015 Professor für Künstliche Intelligenz an der Tongji Universität in Shanghai.
Seit 2010 ist er Professor of Visual Information Technologies an der Jacobs
Universität in Bremen. Von 1993 bis 2009 leitete er die Forschungsgruppe für
Künstliche Intelligenz an der Universität Bremen sowie das Technologiezentrum
für Informatik (TZI). Von 1977 bis 1993 war er Mitarbeiter der IBM Deutschland
in der Softwareentwicklung und der Forschung. Im Jahre 1989 war er
Gründungsmitglied des SFB “Grundlagen der Computerlinguistik” der Universitäten
Stuttgart, Tübingen und der IBM. Er leitete von 1986-1991 das IBM Deutschland
Projekt LILOG – Linguistik und Logik im Institut für Wissensbasierte Systeme
des IBM Wissenschaftlichen Zentrums Heidelberg.
Bertal
Dresen (BD):
Sie sind bereits mehrere Jahre in China tätig. Würden Sie bitte kurz erklären,
was Sie veranlasste, nach einer durchaus bewegten Karriere in Deutschland nach
China zu wechseln. Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?
Otthein
Herzog (OH): Warum sollte ich nicht noch einmal etwas Neues anfangen? Vielleicht
muss ich ein wenig ausholen: Wenn man offiziell im „Ruhestand“ ist und trotzdem
noch etwas in der „alten“ Umgebung bewegen will, setzt man sich nur zu leicht
dem Vorwurf aus, nicht „loslassen zu können“. Deshalb habe ich mich außerhalb
der Universitäten, aber in einem zentralen Wissenschaftsbereich intensiv bei
acatech – Nationale Akademie der Technikwissenschaften engagiert, und während
meiner Beauftragung für „Internationale Angelegenheiten“ im acatech Präsidium
viele internationale Kontakte geknüpft, z. B. nach Indien an das Indian
Institute of Science und nach China an die Tongji University in Shanghai.
BD: Wie kamen sie auf die
Tongji-Universität? Wie ist sie nach Bedeutung und Größe einzuordnen? Wie
unterscheidet sich die Ausrichtung der Informatik von Europa oder den USA?
Überwiegen Hardware- oder Software-Themen? Welche Anwendungen werden behandelt?
Dürfen politische oder gesellschaftliche Implikationen behandelt werden?
OH: Von der Tongji University, mit der ich von acatech aus vier gemeinsame
Konferenzen über „Smart Cities“ organisiert hatte, kam 2015 die Anfrage, ob ich
für zwei Monate als Gastforscher an das „China Intelligent Urbanization
Co-Creation Center for High Density Region“ nach Shanghai kommen wolle, um dort als Berater
für Methoden der KI zu arbeiten. Das tat ich, und aus den zwei Monaten sind nun
schon fast vier Jahre geworden. Die wissenschaftliche Dynamik und die
Forschungsbedingungen sind herausragend, und die Kooperation mit den
chinesischen Kollegen ist ausgezeichnet – solche Arbeitsbedingungen kann man
bei uns lange suchen!
Die Informatik an der Tongji University dort ist stark Software-
und Anwendungs-orientiert und behandelt dieselben Themen wie überall auf der
Welt.
Die Stadtplanung, wo ich arbeite, ist eines der Hauptgebiete der (immer noch sehr deutsch geprägten) Tongji University, die 1907 von einem deutschen Arzt gegründet wurde und heute 35.000 Studierende hat als eine der Top-Universitäten in China. Da die Stadtplanung offensichtlich gesellschaftliche Implikationen hat, spielen diese auch eine große Rolle derart, dass bei allen Planungen immer explizit gemacht wird, dass die Stadtplanung den betroffenen Menschen ein besseres Leben in einer für sie gesünderen Umwelt zu ermöglichen hat.
Die Stadtplanung, wo ich arbeite, ist eines der Hauptgebiete der (immer noch sehr deutsch geprägten) Tongji University, die 1907 von einem deutschen Arzt gegründet wurde und heute 35.000 Studierende hat als eine der Top-Universitäten in China. Da die Stadtplanung offensichtlich gesellschaftliche Implikationen hat, spielen diese auch eine große Rolle derart, dass bei allen Planungen immer explizit gemacht wird, dass die Stadtplanung den betroffenen Menschen ein besseres Leben in einer für sie gesünderen Umwelt zu ermöglichen hat.
BD: Wie laufen Ihre
Lehrveranstaltungen ab, primär in Englisch oder Chinesisch? Welche von Ihnen
angebotenen Themen finden große Aufmerksamkeit? Wie wird die Forschung
organisiert und finanziert?
OH: Da ich dort eine
Forschungsprofessur habe, veranstalte ich selbst keine regelmäßigen
Lehrveranstaltungen, arbeite aber viel mit Bachelor-, Master- und PhD-Studenten
zusammen, die
durchweg – mehr oder weniger – Englisch sprechen können.
In der
Stadtplanung finden die Lehrveranstaltungen auf Chinesisch statt, während die
Studierenden im Maschinenbau und der Elektrotechnik während der ersten Semester
Deutsch lernen, und viele deutsche Professor*innen dieser Fächer dort Blockveranstaltungen auf Deutsch
durchführen. Außerdem gibt es an der Tongji University ein Deutsch-Chinesisches
Hochschulkolleg, in dem die deutsche Industrie zur Zeit 23 Stiftungslehrstühle
finanziert.
BD: Welche anderen
Universitäten oder Forschungseinrichtungen Chinas verdienen Beachtung? Reicht
es aus, englisch-sprachige Fachzeitschriften und Tagungen (ACM, IEEE) zu
verfolgen, wenn man wissen will, was geforscht wird? Wie hoch sind die
Absolventenzahlen in Informatik in China insgesamt? Wie ist die Einstellung zu
technischen Fächern allgemein? Was sollte ein deutscher Studierender beachten,
der einige Semester in China studieren will?
OH: Es gibt zwei chinesische
Universitäten, die in dem anerkannten internationalen Ranking „THE World
University Rankings“ vor deutschen Universitäten stehen, z. B. Tsinghua
University: Platz 22), Peking University (Platz 31, direkt vor der LMU, der
ersten deutschen Universität in diesem Ranking), Da die Master-und
PhD-Abschlussarbeiten in Chinesisch geschrieben werden, sind im Westen nur die
Konferenz- und Zeitschriftenbeiträge sichtbar, die auf Englisch publiziert
werden. Hinzu kommt, dass es inzwischen in China viele „Internationale
Konferenzen“ gibt, bei denen die Konferenzsprache dennoch Chinesisch ist.
Zusammengefasst: meiner Einschätzung nach werden die meisten chinesischen
Forschungsergebnisse im Westen nicht wahrgenommen.
Ein
deutscher Studierender sollte vor allem mindestens Grundkenntnisse des
Chinesischen mitbringen, wenn er/sie nach China kommt, weil es nur dann möglich
ist, von Anfang an Kontakte zu knüpfen.
BD: Welche Unternehmen
mit Informatik-Bezug sind besonders erfolgreich? Für Aktienfreunde sind
Alibaba, Baidu und Tencent bekannt. Im Zusammenhang mit 5G-Mobilfunk wird immer
wieder Huawei als Marktführer erwähnt. Worin liegt der Schwerpunkt des
Geschäfts, auf Hardware, Software oder Dienstleistungen? Wie verhält sich das
Inlands- zum Auslandsgeschäft? Gibt es ein gegenseitiges Befruchten?
OH: Der chinesische Markt
allein ist schon riesig, und infolge der offiziellen Abschottung vor Google,
LinkedIn, Facebook und Twitter sind die entsprechenden chinesischen Firmen im
Land sehr erfolgreich. Der online-Einkauf ist wesentlich weiter verbreitet als
im Westen, ebenso Bezahlsysteme wie WeChatPay und AliPay, die schon fast das
Bargeld abgelöst haben. Im Allgemeinen sind die Chinesen der Technik gegenüber
wesentlich aufgeschlossener als ich das z. B. aus Deutschland kenne (und es
gibt mehr Smartphones in China als Einwohner…).
BD: Wie funktioniert in
China die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Industrie, anders (oder vielleicht
sogar besser) als in Deutschland? Gibt es Vorzeige-Beispiele? Leidet die
Freiheit der Forschung unter dem Staatseinfluss? Geht von einer der oben erwähnten
Firmen eine Gefahr aus in dem Sinne, dass der chinesische Staat sie für seine
Zwecke missbraucht?
OH: Viele Professor*innen an Technischen
Universitäten in China haben Beratungsaufträge in der Industrie; andererseits
gibt es immer auch noch eine starke Tradition innerhalb von Universitäten für
die „reine“ Lehre. Es gibt aber z. B. keine Institution wie Fraunhofer in
China, die in einem entsprechenden Ausmaß institutionellen Technologietransfer
anbieten könnte – allerdings sind erste Ansätze dazu durch Fraunhofer-Alumni zu
bemerken.
Im Übrigen
sind die chinesischen Firmen ebenso den lokalen Gesetzen unterworfen wie
westliche Firmen in ihren Ländern – ich sehe da höchstens graduelle
Unterschiede. Außerdem gilt für diese weltweit agierenden Firmen durchaus, dass
ein expliziter staatlicher Einfluss sich sehr negativ auf ihre Geschäfte im
Ausland auswirken würde.
BD: Welche Haltung
empfehlen Sie Ihren deutschen oder europäischen Hochschulkollegen gegenüber
China? Wie soll sich die deutsche oder die westliche Industrie und Wirtschaft
verhalten? Auf was sollen sich unsere Politiker und Bürger einstellen? Was
können wir allgemein von China lernen? Wie kann man Nutzen aus der Kooperation
ziehen? Muss man Angst vor dem Koloss China haben?
OH: Meine Empfehlung
gegenüber Hochschulkolleg*innen ist ganz klar: auch wenn man sich in der
Vergangenheit vor allem an den USA orientiert hat, wird es in Zukunft immer
wichtiger werden, sich (auch) an China zu orientieren: der 2016 World Economic
Forum report: Human Capital Index, p. 21 nennt die Anzahl von „Recent
Graduates“ in den STEM Fächern in China mit 4,7 Mio (USA: 0,6 Mio). Wir können auch
deshalb, und auch im Hinblick auf die Qualität der Universitäten m. E.
wissenschaftlich nur mithalten, wenn wir intensive wissenschaftliche Kontakte
nach China pflegen.
Die
deutsche Industrie und Wirtschaft hat schon lange klar erkannt, dass der Zugang
zu dem chinesischen Markt für sie enorm wichtig ist und hat sich entsprechend
aufgestellt, wie man an den Beispielen der Automobilindustrie und der
Realisierung von Industrie 4.0-Konzepten in China deutlich sehen kann.
Hochachtung
sollten wir alle haben vor den Leistungen in China während der letzten 40
Jahre: es ist dort gelungen, die Armut zu besiegen (500 Millionen wurden inzwischen
über die Armutsgrenze gehoben, und bis 2020 soll die Armut zu 100% beseitigt
sein), ein leistungsfähiges Erziehungssystem aufzubauen und der gesamten
Bevölkerung eine moderne medizinische Versorgung zu sichern.
Lernen
kann man sicherlich von China, dass Bildung wertvoll ist, und wie man wirtschaftliche
Strategien mit langem Atem realisiert und koordiniert mit Wissenschaft,
Wirtschaft und Politik auf diese Ziele hin arbeitet.
BD: Vielen Dank für einen
sehr interessanten Bericht. Es ist mir eine besondere Freude nach dem Interview von 2014 dieses weitere Interview bringen zu dürfen.
Klaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb: Die Begeisterung für die chinesischen Universitäten und insbesondere für die Tongji-Universität kann ich gut nachvollziehen. Wahrscheinlich kann man da viel bewegen und das Engagement wird mit Wertschätzung vor Ort aufgenommen. Da stehen wohl nicht, wie in Deutschland, hinter jedem Wissenschaftler ja gleich zwei professionelle Bedenkenträger.
AntwortenLöschenÄhnlich ist’s ja - außerhalb des Wissenschaftsbereichs - mit den zahlreichen früheren deutschen Automobilmanagern, die sich in der chinesischen Automobilindustrie engagieren, dies oft bei Start-ups. Da mag freilich heutzutage auch viel in der Mischung machbar sein aus Vor-Ort-Präsenz in China und „remote“ von Deutschland aus.