Immer wieder gibt es Situationen, in denen man besser dran ist, wenn man im Internet flexibel reagieren kann. Vor einigen Tagen konnte ich plötzlich nicht mehr mit meinem befreundeten Verleger kommunizieren. Fast zwanzig Jahre lang ging es gut. Diese Woche wurde elektronische Post von seinem Anbieter (auf Neudeutsch Provider) als Spam abgewiesen, sofern sie von Konten beim selbigen Anbieter stammte. Näheres konnte man noch am selben Tage bei Focus Online oder im Handelsblatt lesen oder im Fernsehen hören. Ich konnte trotzdem meine Post an ihn loswerden, da ich noch ein E-Mail-Konto bei einem andern Anbieter hatte.
Seit ich E-Mails schreibe – ich schätze seit Anfang der 1970er Jahre – wollte ich mich nicht von einem einzigen Anbieter abhängig machen. Anfangs ging es mir darum, die funktionalen Unterschiede zwischen den Anbietern kennen zu lernen und ggf. auszunutzen. Der zweite Grund war, dass ich nicht überblicken konnte, welcher Anbieter auf Dauer einen akzeptablen Dienst hinbekommen würde, ja, ob er überhaupt überleben würde. Diese Sorge hat sich gelegt. Auch die funktionalen Unterschiede sind heute nur noch minimal.
Für alle Konten benutze ich neben der primären Adresse noch eine oder mehrere Zweitadressen, in der Fachsprache Alias genannt. Sie sind fast so wichtig wie Zweitkonten. Ein relativ oberflächlicher Grund war, dass ich Adressen wählte, die leichter einzuprägen waren als die Primäradresse. Auch wollte ich bei Reisen, sei es in Europa oder sonst irgendwo in der Welt, E-Mails lesen und verschicken können. An zwei Situationen erinnere ich mich noch sehr lebhaft. Im Hafen von Montevideo lag das Internet-Café direkt an der Hafenmole, von dem aus ich E-Mails in alle Welt versandte. Auf der Südsee-Insel Vavau im Tonga-Archipel stand in einer Palmenhütte ein Rechner, von dem E-Mails zu verschicken sogar besonders billig war. Für solche Zwecke habe ich eine Adresse, die ich nur auf Reisen verwende, da ich hier keinerlei Datenschutz erwarte.
Das größte Problem, bei dem eine Zweitadresse helfen kann, sind Spam-Nachrichten. Nach meiner Erfahrung schaukelt sich die Spam-Belastung über einen gewissen Zeitraum auf. Ist eine Adresse einmal in diesen Kreisen bekannt, gibt es keinen Halt mehr. So ist es mir mehrmals passiert, dass der Spam-Verkehr mit 30-50 Nachrichten pro Tag ein Ausmaß annahm, dem ich nur Herr werden konnte, indem ich diese Adresse aufgab. Danach hatte ich wieder für einige Monate oder Jahre Ruhe. Ich wunderte mich immer wieder, für welche Art von Wirtschaftsgütern oder Dienstleistungen man mich ausgewählt hatte.
Eine ganz andere Diskussion betrifft die Frage, wie man sich in den so genannten Sozialen Netzen des Internets selbst darstellt. Für manche Zeitgenossen ist Internet heute gleichbedeutend mit Facebook, StudVZ, Xing und dergleichen. Ich konnte mich bis heute für keines dieser Netze wirklich erwärmen. Der Mehrwert gegenüber einer eigenen Homepage und einer einheitlichen Kontaktliste für E-Mails und Smartphone ist gering. Da ich die Homepage zwecks Selbstdarstellung schon besaß, habe ich mich den neuen Netzen nur versuchsweise genähert. Überall benutze ich einen Decknamen, mit einer einzigen Ausnahme. Das ist LinkedIn. Hier haben etwa 80 Fachkollegen aus aller Welt mich als Kontakt akzeptiert. Dafür erfahre ich, welche Kontakte sie (außer mir) noch haben, und – bei noch beruflich aktiven Kollegen – ob sie den Job oder die Hochschule wechselten.
Die unter anderem von Thomas de Maizière, dem damaligen Bundesinnenminister und jetzigen Bundesverteidigungsminister, aufgebrachte Idee, im Internet nur Klarnamen zuzulassen und Decknamen zu verbieten, zeugt nicht von einem ausgeprägten Sinn für Praxis. Sie hat wohl auch politisch keine Chance, realisiert zu werden. Dagegen ist auf lange Sicht eine Trennung zwischen offizieller Kommunikation einerseits, die eine gesicherte Identität voraussetzt, und inoffizieller Kommunikation andererseits, die Pseudonyme zulässt, vielleicht die einzig sinnvolle Lösung. Wenn ein Anbieter wie Google dafür wirbt, oder gar vorschreibt, nur Klarnamen zu verwenden, so ist dies nur ein Ausfluss des benutzten Geschäftsmodells. Werbung lässt sich halt umso leichter verkaufen, je mehr man über die Zielgruppe weiß.
Bei einem Pseudonym entscheidet der Empfänger, ob er Post akzeptiert oder im Netz den Kontakt pflegen will. Alle meine Kontakte in Sozialen Netzen (außer bei LinkedIn) haben hier eine gewisse Hürde überwinden müssen. Entweder wussten sie, wer hinter dem Alias oder Pseudonym steckt, oder ich musste es ihnen auf anderem Wege erklären. Natürlich bin ich nicht in einer beruflichen Situation oder in einer Lebensphase, wo ich partout nach neuen, bisher unbekannten Kontakten Ausschau halten muss.
Beim Internet-Händler eBay ist es ganz normal, sich unter einem Pseudonym in einen Bieterwettbewerb einzuschalten. Ich sehe auch keinen Grund, dies zu ändern. Wenn immer es ans Bezahlen geht, will ich jedoch meine wahre Identität nicht länger verheimlichen. Trotzdem bin ich natürlich sehr vorsichtig, wem ich meine Konto- oder Kreditkartennummer gebe. Ich empfinde es allerdings nicht als Eingriff in meine Privatsphäre, wenn ich mir ein Buch bei Amazon kaufen will und mir gesagt wird, welche anderen Bücher die Leute noch kauften, die vor mir dieses Buch kauften.
Wer nicht weiß, oder nicht glaubt, dass er bei jedem Auftreten im Internet Spuren hinterlässt, hat eine falsche Vorstellung von diesem Medium. Auch in der realen Welt passieren Dinge, die man nicht sieht. Wer meint, dass Facebook nicht erfasst, wer wann auf einen ‚Gefällt mir‘-Schaltknopf drückt, ist naiv. Wozu soll der wohl sonst da sein? Außerdem kann man jeden Rechner und jedes Mobiltelefon überall in der Welt lokalisieren, sobald sie eingeschaltet sind. Daher ist ein verheirateter Mann, der auf Abwege geraten ist, gut beraten, sein Handy auszuschalten.
Jeder Internet-Nutzer muss sich überlegen, wem er vertraut und welche Risiken er einzugehen bereit ist. Auch das ist nicht viel anders als im wahren Leben. Um abwägen zu können, muss man sich informieren, es sei denn er oder sie können dem Reiz eines Abenteuerspielplatzes nicht widerstehen. Wer heute eine Schiffsladung um das Horn Afrikas transportieren will, wägt die damit verbundenen Risiken ab. Dasselbe tut – mit andern Vorzeichen – die Sorte von Piraten, die dort aktiv ist. Die Piraten des Internet leben manchmal auch gefährlich, es sei denn sie lassen sich in Parlamente wählen.