Auf den Kapitalismus zu schimpfen gehört in manchen Kreisen fast zum guten Ton. Besonders beliebt ist es derzeit, dem langen Wort noch mehrere Vorsilben hinzuzufügen, etwa Turbo oder Kasino. Beginnen wir mit einer klassischen Begriffsdefinition, etwa der von Wikipedia. Danach ist Kapitalismus
eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und einer Steuerung von Produktion und Konsum über den Markt beruht.
Die Verwendung des Begriffs in der Volkswirtschaftslehre geht vor allem auf Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823) zurück. Seit Karl Marx (1818-1883) ist der Begriff vorwiegend negativ belegt, nämlich als Ursache für das Entstehen von Klassengesellschaften. Es ist heute üblich, statt von dem Kapitalismus von einer Vielzahl verschiedener Ausprägungen des kapitalistischen Systems zu sprechen. Der Unterschied besteht darin, wie das Kapital verteilt ist und wer es kontrolliert.
Wer sich heute im Hinblick auf die Dritte Welt mit diesem Thema befassen möchte, kommt an dem im Jahre 2000 erschienenen Buch des peruanischen Ökonomen Hernando de Soto nicht vorbei. Zufällig hat der Autor denselben Namen wie einer der berühmten spanischen Konquistadoren des 16. Jahrhunderts. Im Deutschen hat das Buch den Titel: Freiheit für das Kapital - Warum der Kapitalismus nicht weltweit funktioniert. Das hört sich sehr selbstsicher an. Dem gegenüber ist der englische Titel eher fragend (The Mystery of Capital – Why Capitalism Triumphs in the West and Fails Everywhere Else).
Das Buch erschien, als nach dem Fall der Berliner Mauer der Kapitalismus sich als die einzige noch ernst zu nehmende Wirtschaftstheorie anbot. De Soto und sein Forscherteam gingen der Frage nach, warum der Kapitalismus in den Entwicklungsländern und im Bereich der ehemals kommunistischen Staaten sich nicht so entwickelt wie im Westen. Dabei steht der Ausdruck Westen für die Länder, die wirtschaftspolitisch stark von Europa und den USA beeinflusst wurden, also auch Australien, Neuseeland und Japan. Seine Untersuchungen erstreckten sich außer auf Südamerika auf Ägypten, Haiti, die Philippinen und Russland. Seine Erkenntnisse sind durchaus überraschend.
Als verantwortlich für den Unterschied zum Westen sieht er nicht den Mangel an Geld oder Vermögen, das Fehlen von Unternehmer-Persönlichkeiten, den Volkscharakter oder gar kulturelle oder religiöse Traditionen (Stichwort. Protestantische Ethik). Es sei vielmehr der katastrophale Zustand des Rechtssystems in vielen Ländern der Dritten Welt. Der Kapitalismus, wie ihn der Westen kennt, setzt nämlich ein ganz bestimmtes Rechtsgefüge voraus, unterstützt von einer effizienten Verwaltung.
Da es in den meisten Entwicklungsländern so schwierig ist, sich im rechtlichen Rahmen zu betätigen, wandert der größte Teil der Wirtschaft in die Illegalität ab. Das gilt für abhängig Beschäftigte ebenso wie für Unternehmensgründer. Eine Folge – aber nicht das Hauptproblem – ist die Allgegenwart von Bestechungs- oder Schutzgeldern. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass die meisten Menschen nicht in der Lage sind, für das wenige was sie besitzen, eindeutige Rechtstitel zu bekommen. Alles, was an Vermögenswerten existiert, seien es Viehbestände, Wertgegenstände, Haus- oder Grundbesitz, ist daher ‚totes Kapital‘. Sie können nicht als Sicherheiten für Kredite verwendet werden. Nur wenn die Menschen in der Dritten Welt in dieser Hinsicht dieselben Möglichkeiten hätten wie ihre Zeitgenossen im Westen, wären sie in der Lage, ihren ökonomischen Zustand selbst zu verbessern. Die Mittel, die dadurch verfügbar würden, lägen um mehrere Größenordnungen über dem, was der Westen als Entwicklungshilfe aufbringen kann.
Für uns im Westen ist das Vorhandensein eines verlässlichen Rechtssystems so selbstverständlich, dass wir dazu neigen, seine Bedeutung zu vergessen. Es hat sich bei uns über Jahrhunderte entwickelt. Selbst die USA waren während der so genannten Pionierzeit, also vor etwa 150 Jahren, in rechtlicher Hinsicht ein Dritte-Welt-Land. So bedurfte es im Wettstreit zwischen Indianern, Siedlern, Spekulanten und Regierung einiger Mühen, bis dass die Rechtstitel auf Landbesitz eindeutig zugeordnet waren. Anzunehmen, dass Regionen, die eine völlig andere Rechtstradition haben, die notwendigen Anpassungen innerhalb weniger Jahre schaffen, ist daher eine Illusion. Das gilt übrigens auch für die Staatengruppe, in der im Moment der ‚arabische Frühling‘ ausgebrochen ist.
Für uns im Westen ist das Vorhandensein eines verlässlichen Rechtssystems so selbstverständlich, dass wir dazu neigen, seine Bedeutung zu vergessen. Es hat sich bei uns über Jahrhunderte entwickelt. Selbst die USA waren während der so genannten Pionierzeit, also vor etwa 150 Jahren, in rechtlicher Hinsicht ein Dritte-Welt-Land. So bedurfte es im Wettstreit zwischen Indianern, Siedlern, Spekulanten und Regierung einiger Mühen, bis dass die Rechtstitel auf Landbesitz eindeutig zugeordnet waren. Anzunehmen, dass Regionen, die eine völlig andere Rechtstradition haben, die notwendigen Anpassungen innerhalb weniger Jahre schaffen, ist daher eine Illusion. Das gilt übrigens auch für die Staatengruppe, in der im Moment der ‚arabische Frühling‘ ausgebrochen ist.
Das Wirtschaften außerhalb der Legalität hat seine spezifischen Kosten, auf die bereits hingewiesen wurde (z. B. Bestechungs- und Schutzgelder). Die Kosten für ein legales System können sogar noch höher sein. Sie drücken sich meist in Steuern aus. Sind diese sehr hoch, kann dies Individuen und Firmen – sowohl in Entwicklungsländern wie auch bei uns – in die Illegalität treiben. Selten ist es ein ideologisches Vorurteil, welches Leute dazu bringt, von der einen auf die andere Seite zu wechseln, sondern reine Arithmetik.
Der Anker unseres Rechtssystems ist der Eigentumsbegriff. Der betrifft materielles wie geistiges Eigentum gleichermaßen. Erst das Rechtssystem schafft den Unterschied zwischen Besitz und Eigentum. Nicht die Tatsache, dass man etwas besitzt, macht daraus auch gleich ein Eigentum. Es bedarf eines Rechtsaktes, um Eigentum zu erwerben. Im Falle von Grundbesitz sind die entsprechenden Regeln bei uns besonders aufwendig. Sie haben das Ziel, kurzfristige Veränderungen zu erschweren und Täuschungsversuche zu verhindern. De Soto ist der Meinung, dass Eigentum fünf maßgebliche Effekte für Wirtschaft und Gesellschaft hat. Ich finde diese Überlegungen interessant und will sie daher kurz andeuten. Eigentum, so heißt es:
- Bestimmt den wirtschaftlichen Wert von Vermögen: Was sonst verborgen bleibt, kann bewertet werden.
- Integriert verteilte Informationen: Alle relevanten Aspekte über ein Wirtschaftsgut werden zusammengefasst.
- Macht Menschen verantwortlich: Eigentum wird gepflegt. Man vermeidet die Tragik der Allmende.
- Macht Vermögen handelbar (fungibel): Es kann geteilt und übertragen werden.
- Vernetzt Leute: Je mehr Leute über Eigentum verfügen, umso mehr schätzt man es, umso mehr ist es wert (analog zum Metcalfeschen Gesetz aus der Informatik). Kapital ermöglicht Spezialisierung und Arbeitsteilung.
- Schützt Transaktionen: Eigentumsänderungen erfolgen kontrolliert.
Erwähnen möchte ich, dass sich am Begriff des Eigentums die politischen Geister immer noch spalten. Nicht ohne Grund steht deshalb im § 14 unseres Grundgesetzes der Satz ‚Eigentum verpflichtet‘. Seine Benutzung kann eingeschränkt werden, sofern dies das Interesse der Gemeinschaft verlangt.
De Soto kommt nach seinen Untersuchungen zu folgendem Schluss: Um den Menschen in den Entwicklungsländern die Chance zu geben als Kapitalisten Erfolg zu haben – alles andere ist heute uninteressant – , müssen die dortigen Politiker ihnen Wege eröffnen, um an rechtlich abgesichertes Eigentum zu gelangen. Die oben skizzierte amerikanische Geschichte kann ihnen als Vorbild dienen. Dort erhielten die zunächst rechtslosen Landbesetzer (engl. squatters) nach und nach auch rechtliche Titel. Es wurde in der Regel juristisch nachvollzogen, was sich von unten her etabliert hatte.
Zwei Entwicklungen, die De Soto nicht vorhersehen konnte, spielen in der heutigen Diskussion eine besondere Rolle. So erlebt die Volksrepublik China einen fulminanten wirtschaftlichen Aufstieg, ohne nominell den Kapitalismus anzunehmen. Allerdings hat sie den Akteuren weitgehende Eigentumsrechte eingeräumt. Griechenland dagegen ist das Lehrbeispiel dafür, dass Kredite nicht nur gute Seiten haben. Werden sie in einem Maße in Anspruch genommen, dass ihre Bedienung in Frage gestellt wird, kann dies zu einer sehr kritischen Lage führen. Schulden wirken mitunter wie ein süßes Gift.
Die beiden am Anfang des Beitrags erwähnten Schlagworte will ich noch kurz erläutern. Das Wort Turbokapitalismus wird neuerdings von mehreren Autoren verwandt, um eine moderne Entwicklung des Kapitalismus zu bezeichnen, der sich neue Technologien gezielt zunutze macht, um zeitliche und räumliche Beschränkungen des Wirtschaftens zu durchbrechen.
Er wird verstanden als Tendenz zu immer schnellerer Produktion …, angetrieben von Kapital auf der Suche nach höchstmöglicher Rendite. Diese Beschleunigung erfasse auch die Individuen, die stetig höheren Belastungen ausgesetzt seien und mit den Anforderungen immer weniger zurechtkämen.
Bei dem Begriff Kasino-Kapitalismus hat man die globalisierten Finanzmärkte im Auge, die sich von der Realwirtschaft abgekoppelt haben. Hier gehen die Teilnehmer teilweise Risiken ein, die man am ehesten mit einem Glücksspiel vergleichen kann, dazu noch mit kurzfristig geliehenem Geld.
Vielleicht sind Entwicklungsländer von diesen beiden Phänomenen noch nicht direkt betroffen. Gerät der Westen ihretwegen in Schwierigkeiten, kann dies jedoch auf die Dritte Welt ausstrahlen.
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