Papst Benedikt XVI. hielt am 22.9.2011 eine Rede vor dem Deutschen Bundestag in Berlin. Statt zu aktuellen Fragen der Tagespolitik seine Meinung darzulegen, hielt er eine anspruchsvolle juristisch-philosophische Vorlesung. Er wollte den Abgeordneten aus seiner Sicht erklären, welches die Grundlagen ihrer Tätigkeit als Gesetzgeber sind.
Wie nicht anders zu erwarten, griff der Papst dabei auf Zitate aus der Bibel (König Salomon, Paulus-Briefe) und von Kirchenlehrern (Origenes, Augustinus) zurück. Er argumentierte primär gegen die Positionen des Positivismus. Relevant ist dabei einerseits der erkenntnistheoretische Positivismus, andererseits der Rechtspositivismus. In der positivistischen Erkenntnistheorie wird von folgenden Annahmen ausgegangen:
Wir wissen letztlich nichts über die Außenwelt. Alles, worüber wir verfügen, sind Sinnesdaten. Diese interpretieren wir, wobei sich nun allerdings die Frage stellt, wie wir sie interpretieren.
Der Rechtspositivismus fordert ein Recht,
das sich ausschließlich auf die mit dem Gesetzgeber gegebene menschliche Legitimation beruft. …Es wird weder mit einem Rückbezug auf …das göttliche Recht der Bibel legitimiert, noch über Naturrechte, also allen Menschen natürlich und gleichermaßen zukommende Rechte.
Beginnen wir mit letzterem. Benedikt gibt zu, dass das Naturrecht nur eine katholische Sonderlehre darstellt, die er gar nicht bemühen möchte. Deshalb zitiert er einen Vertreter des Positivismus, Hans Kelsen, der im hohen Alter von 84 Jahren (also im gleichen Lebensalter, das der Redner gerade erreicht hat) zu der Einsicht kam, dass sich aus der Betrachtung der Natur keine Verhaltensregeln (Normen) ableiten lassen. Dafür sei ein Wille erforderlich. Es stellt sich die Frage, wo der zu suchen ist, in der Natur oder außerhalb. Nach Ansicht des Papstes käme dafür natürlich nur der göttliche Schöpferwille in Frage.
Bereits in den 1970ern hätten junge Menschen erkannt, dass die Art, wie wir die Natur sehen, nämlich als Dienerin des Menschen, nicht richtig sein könnte. Die daraus entstandene Ökologie-Bewegung führte zu der heute fast allgemein akzeptierten Einsicht, dass die Natur einen Zweck hat, der vom Menschen unabhängig ist. Sie habe eine eigene Würde. Vielleicht erkennen wir auf ähnliche Weise, dass der Mensch ebenfalls nicht nur Selbstzweck ist. Wir kämen dann zu einer Ökologie des Menschen.
Nicht nur die Mehrheiten von Meinungen schaffen Recht. Es gibt tiefere Wurzeln. Im Gegensatz zu andern Religionen habe das Christentum nie ausschließlich auf göttlichem Recht bestanden. Aus dem Zusammenfluss von jüdischer, griechischer und römischer Tradition entstand eine Rechtsphilosophie, die auch Natur und Vernunft immer als Quellen des Rechts ansah. Als Europäer sollten wir diese Traditionen nicht einfach zur Seite schieben. Nur müsste man erkennen, was Natur und Vernunft uns mitteilen. Das sei nicht immer einfach.
Der Positivismus beschränke die Natur des Menschen auf seine Körperlichkeit und die Vernunft auf das, was verifizierbar oder falsifizierbar ist. Das hält Benedikt für eine unzumutbare Reduktion. Die Vernunft des Menschen weise schließlich über seine Natur hinaus. Die Vernunft könne sich vom Gewissen leiten lassen. Es helfe dabei, Gutes von Bösem zu unterscheiden. Da das Gewissen nicht der Rationalität unterliegt, scheint sich hier eine Brücke zum Irrationalen, zum Metaphysischen, aufzutun. Sie scheint für Benedikt sehr wichtig zu sein, da sie ja auch zu den Religionen führt. Bei seinen Zuhörern bewegte Benedikt sich mit diesem Begriff auf sehr vertrautem Terrain, leitet doch unser Grundgesetz sowohl den Bürgern (in Art. 4) wie den Parlamentariern (in Art. 38) basierend auf ihrem Gewissen sehr fundamentale Rechte ab.
Wenn immer Benedikt über Vernunft spricht – er tut dies sehr oft, so auch 2006 in Regensburg – komme ich nicht umhin an den Kult der Vernunft zu denken, den die französischen Revolutionäre 1793 an die Stelle der Religionen setzten. Sie trieben damit die Ziele der Aufklärung auch äußerlich auf die Spitze. Überall, wo sie hinkamen, wurden aus christlichen Kirchen so genannte Tempel der Vernunft. So geschehen zum Beispiel in Trier und Mainz. Das historische Schicksal dieses Spuks wurde bekanntlich 1801 durch das Konkordat Napoléons mit dem Vatikan besiegelt. Ich frage mich, ob Benedikt jetzt nachträglich die Aufklärung vereinnahmen will oder wird er von ihr vereinnahmt? Die einst sehr extremen Gegensätze wurden ins Gegenteil verwandelt. Kirchenlehre und Vernunft verstehen sich heute als Partner – so sieht es jedenfalls Papst Benedikt.
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