Die Wissenschaftssendungen des Gert Scobel bei 3sat sind fast immer ein Genuss. Die Sendung am Donnerstag, den 17.1.2013, war da keine Ausnahme. Das Thema hieß Paläogenetik. Das ist ein neues Wort, bestehend aus zwei Begriffen, deren Kombination etwas überrascht. Die Paläontologie erforscht Lebewesen vergangener Erdzeitalter. Die Genetik ist die Vererbungslehre, ein Teilgebiet der Biologie.
Der Gesprächspartner, auf den ich besonders gespannt war, war der Schwede Svante Pääbo. Er gilt als Begründer der Paläogenetik und ist derzeit in Leipzig tätig. Als Doktorand klonierte er 1985 erstmals die DNA einer ägyptischen Mumie. Pääbo hat inzwischen außer für den Neandertaler auch für den Denisova-Menschen das Genom sequenziert. Das ist zwar eine andere Menschenart, aber entfernt verwandt mit dem Neandertaler. Die nordamerikanischen und australischen Ureinwohner haben etwa 1% Neandertaler-Gene. Die heutige Lehrmeinung ist, dass alle Menschen miteinander verwandt sind. Sie haben ihre Gene gemischt. Vermutlich wird es auch die 250.000 Jahre alte Steinheimerin (auch Heidelberg-Mensch genannt) getan haben. Wir haben es nicht mehr mit ein oder zwei Linien von Vorfahren zu tun, sondern einem ganzen Busch, meinte der ebenfalls an der Sendung teilnehmende Friedemann Schrenk vom Senkenberg-Museum. Die Daten des Denisova-Menschen sind inzwischen sehr zuverlässig und mehrmals überprüft. Sie stammen von drei verschiedenen Skeletten aus einer Höhle im Altai-Gebirge.
Sehr interessant ist, dass die Idee der egoistischen Gene der Vergangenheit angehört. Mit einem Buch gleichen Namens konnte 1976 der Engländer Richard Dawkins Bestseller-Erfolge erzielen. Die Gegenmeinung wird am klarsten von Martin Nowak vertreten, einem Österreicher am MIT, der uns in einem früheren Blog-Eintrag bereits begegnete. Nach seiner Ansicht beruht nicht nur die Entwicklung des Menschen, sondern die ganze Evolution auf genau dem gegenteiligen Prinzip. Wenn man fragt, warum die Evolution immer mit Komplexität einhergeht, kann das nur daran liegen, dass Kooperation erfolgreicher ist als Konkurrenz. Menschen sind sogar ‚Superkooperateure‘. Sie nutzen nicht nur das Prinzip der direkten Reziprozität (‚Wie Du mir, so ich Dir‘), sondern auch das der indirekten Reziprozität. Das ist nur möglich dank Sprache; man benötigt einen guten Ruf. Daneben gibt es den Zusammenhalt innerhalb der Verwandtschaft oder zwischen Gesinnungsgenossen (Hier kommen – wenn man böswillig ist ‒ Religionen, Ideologien und Lehrmeinungen nebst zugehörigen Fundamentalisten ins Spiel).
Bei den Zellen aller Lebewesen gibt es diese Kooperationsbereitschaft auch. Sie teilen sich, wenn das der Gruppe von Zellen nützt. Eine Ausnahme bilden die Krebszellen. Sie betreiben noch reinen Egoismus. Die grabenden Paläologen haben auch nie an den Menschen als Raubaffen geglaubt. Schon frühe Hominiden verringerten ihre Eckzähne schon vor sieben Millionen Jahren.
Die Out-of-Africa-Theorie findet immer mehr Argumente. So gibt es mehr genetische Variationen des Menschen in Afrika als im Rest der Welt. Es gibt - erstaunlicherweise - weniger genetische Vielfalt bei sieben Milliarden Menschen als bei 250.000 Großaffen. Bei der genetischen Entwicklung des Menschen gab es immer wieder Flaschenhälse. Die Fortentwicklung wurde eingeschränkt auf etwa 10.000 Individuen. Auslöser dafür können Pandemien oder Naturkatastrophen gewesen sein. Die Mutationsrate scheint relativ konstant zu sein. Die Reproduktionsphasen (Dauer der Gebärfähigkeit) oder die Reproduktionskraft (Kinderzahl) haben öfters variiert.
Die kulturelle Entwicklung des Menschen hinterließ Spuren im Genom. Man spricht daher von Ko-Evolution. Das bekannteste Beispiel ist die Milchzuckerunverträglichkeit, auch Laktose-Intoleranz genannt. Sie wurde zuerst vor 8000 Jahren von einer Handvoll anatolischer Bauern überwunden. In Europa dauerte es 3000 Jahre, d.h. bis zum Ende der Bronzezeit, bis sich ein mutiertes Gen (LCT) in einer größeren Population „durchgesetzt“ hatte, weil es einen evolutionären Vorteil bot. Auch in afrikanischen Ländern mit Rinderkulturen finden sich große Populationen mit Milchzuckerverträglichkeit. In asiatischen Ländern verträgt 90% der erwachsenen Bevölkerung bis heute noch keinen Milchzucker.
Die Epigenetik erforscht vor allem heutige Entwicklungen. So hat man bei Mäusen festgestellt, dass sie per Änderungen im Erbgut auf Stress reagieren. Darwins großer Gegenspieler Lamarck ist inzwischen voll rehabilitiert. Sein Beispiel waren die Giraffen, denen die Hälse wachsen, wenn Bäume ihre Blätter nur da ansetzten, wo die letzte Generation von Giraffen nicht hin kam. Man kann die Frage stellen, welche unserer vielen jetzigen Krisen sich genetisch auswirken wird.
Von den 23.000 Genen des Menschen sind rund 1% verschieden von den Primaten. Es sind diejenigen, die das Handgelenk und die Größe des Gehirns bestimmen. Ein-eiige Zwillinge unterscheiden sich im Genom. Es variieren bis zu 10% der Gene bezüglich ihrer Herkunft vom Vater oder von der Mutter. Ein 25-jähriger Vater hatte 25 Mutationen hinter sich, ein 50-jähriger vererbt bereits 50 Mutationen. Das sind absolute Werte, bezogen auf mehrere Milliarden von Basenpaaren. Die Weisheitszähne werden die Menschen bald ganz verlieren, ebenso zwei Schneidezähne. Was relativ schnell variiert, sind die Haar- und die Hautfarbe. Das ist ein weiterer Grund, warum Ethnozentrismus, also die Voreingenommenheit einer ethnischen Gruppe gegenüber allen anderen, Unsinn ist. Auch die in diesem Zusammenhang geäußerte Idee, einen Neandertaler zu klonen, ist nicht nur unethisch, es ist auch kaum möglich. Anders ist es mit einzelnen Fähigkeiten, die als wünschenswert gelten, z.B. gewisse Immunitäten.
Die drei Begriffe, die hier eine Rolle spielen, seien noch kurz erläutert. Mit Sequenzieren ist gemeint, dass man die in kleinen Schnipseln aufgefundenen DNA-Abschnitte zu einem zusammenhängenden Strang zusammenfügt. Es ist eine Art von Kartierung und entspricht der Wiederherstellung eines Bildes aus Fragmenten. Mit Klonieren ist die Herstellung identischer DNA-Moleküle gemeint. Im Gegensatz dazu versteht man unter Klonen die Wiedererweckung zum Leben, also die Erzeugung ganzer Organismen. Die DNA wird dabei einer Eizelle eingepflanzt und diese von einer Leihmutter ausgetragen.
Heute geht die so genannte sozio-kulturelle Evolution schneller als die biologische. Gemeint ist damit die Weiterentwicklung des Menschen durch Übertragung von Wissen und Können von einer Generation auf die nächste. Die soziale Evolution verfügt über ganz andere Transportmöglichkeiten zum Übertragen von Information als die biologische, vor allem Sprache und Schrift. Mit immer mehr Wissen über unsere Vergangenheit ausgestattet, ist es nahe liegend, auch über die Zukunft des Homo sapiens zu spekulieren. Die Wissenschaftler überlassen das am liebsten der Literatur oder dem Kino. Sehr hervorgetan haben sich Autoren wie H G Wells und Michel Houellebecq. Ihre Warnungen können nicht schaden.
Zweifellos gibt es hier eine Menge Stoff, über den nachzudenken sich lohnt. Dass gerade die Biologie dazu anregt, kommt daher, dass sie heute zu der empirischen Wissenschaft par excellence geworden ist. Die Fülle der Einsichten, die sie vermittelt, kompensiert für die scheinbar fehlende mathematische Strukturiertheit und die nicht ausgeprägte logische Klarheit.
Am 20.1.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:
AntwortenLöschenIch fand noch folgende in der Sendung erwähnte Beobachtung der Neurowissenschaftlerin Elisabeth Binder interessant: Kulturelle Einflüsse wirken sich nicht auf die „Buchstabenfolge“ (der Basenpaare) der DNA aus. Sie bewirken aber Veränderungen, wie genetische Information abgelesen wird. Es handelt sich dabei um epigenetische Veränderungen durch äußere Bedingungen, die das Exprimieren (das An- und Abschalten) von Genen beeinflussen. Binder spricht von „Tuning“ (Abschwächung und Verstärkung) biologischer Prozesse.
Am 22.1.2013 sandte Peter Hiemann folgenden zusätzlichen Kommentar (Teil 1 von zwei Teilen):
AntwortenLöschenDie Aussage, dass verminderte Eckzähne ein Hinweis für die Entstehung oder Zunahme kooperatives Verhalten seien, ist meines Erachtens nur eine populistisch einleuchtende Behauptung. Die Vermutung, große Eckzähne habe etwas mit „Raub“ zu tun, erscheint mir unzutreffend.
Die Behauptung, die großen Halswirbel der Giraffe (sie hat ebenso viele Halswirbel wie alle Wirbeltiere) seien das Ergebnis der Anpassung an hoch hängende „Futterkrippen“, mag einigen Biologen des 19. Jahrhunderts eingeleuchtet haben. Bereits Saurier besaßen die genetische Anlage für große Wirbel und nicht nur für lange Hälse.
Die langen Hälse der Giraffen sind vermutlich ungeeignet, Lamarcks Hypothese von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ gegenüber Darwins Evolutionstheorie „der Vererbung zufälliger Mutationen“ durch Selektion ins rechte Licht zu rücken. Um sowohl Lamarck als auch Darwin gerecht zu werden, muss man Details molekularer Prozesse (von denen weder Darwin noch Lamarck etwas wissen konnten) berücksichtigen. Erkenntnisse über das sehr komplexe Wechselspiel zwischen DNA Sequenzen (nicht nur Genen), Micro-RNA Molekülen und Proteinen (Enzymen) belegen die Existenz sowohl zufälliger als auch programmierter Mutationen des DNA Moleküls. DNA kontrolliert nicht die Entfaltung biologischer Strukturen sondern die Zelle kontrolliert den Einsatz genetischer Information (vor allem auch genetische Schalter) um biologische Strukturen zu entfalten, zu erhalten und zu reproduzieren. Bei der Reproduktion kann es zu programmierten Mutationen der DNA kommen.
Peter Hiemanns Kommentar vom 22.1.2013 (Teil 2 von zwei Teilen):
AntwortenLöschenUm das Phänomen programmierter Mutationen zu beschreiben, hat der Molekularbiologe Joachim Bauer den Begriff „kooperatives Gen“ geprägt. Er wollte mit diesem Begriff verdeutlichen, dass die populäre Hypothese vom „egoistischen Gen“ nicht haltbar ist.
Die Aussagen des Biomathematikers Martin Nowak zum Begriff Kooperation geben Anlass zu Missverständnissen.
Er behauptet:
Zellen teilen sich, wenn das der Gruppe von Zellen nützt. Krebszellen verhalten sich egoistisch, weil sie sich zu schnell vermehren. Eine Krebsentwicklung interpretiert er als Zusammenbruch von Kooperation. Ein Organismus ist ein System kooperativer Organe. Den Mensch bezeichnet er als „Superkooperateur“, weil „bei ihm alle Mechanismen der Kooperation wirksam sind“.
Richtig ist aus meiner Sicht:
Zellen vieler verschiedener Arten reproduzieren sich entsprechend dynamisch veränderter Zustandsbedingungen und entsprechend aktivierter genetischer Programme. Krebszellen sind genetisch entartete Zellen, die sich außerhalb der Kontrolle der Zelle und des Immunsystems ungehindert vermehren. Ein Organismus ist ein offenes dynamisches System, dessen Gleichgewichtszustand (Überlebensfähigkeit) durch interne homöstasische Prozesse geregelt und aufrechterhalten wird. Organische Funktionen sind Bestandteil homöstatischer Systeme wie Zentralnervensystem, Kreislaufsystem und Stoffwechselsystem. Der Mensch ist unter Berücksichtigung aller biologischen, geistigen und sozialen Aspekte kein „Superkooperateur“ sondern ein Wesen (wie andere auch), das sich in seiner Umwelt zurechtfinden muss. Homo sapiens hat allerdings die spezielle Fähigkeit, seine Umweltbedingungen bewusst zu verändern.
Nowaks Vorstellungen von einer „evolutionären Kraft mit einer Richtung zu mehr Komplexität vom Einzeller zum Vielzeller zum Mensch zur Sprache“ sind missverständlich, weil Evolution keine Kraft ist und keine Richtung hat. Es gibt evolutionäre Entwicklungen, die sowohl zu komplexeren Organismen als auch zu rezessiven Organen geführt haben. Die Verwendung des Begriffs „Evolution“ erfordert stets, nicht nur das Objekt sondern auch dessen Umgebungsbedingungen in Aussagen über evolutionärer Entwicklungen zu berücksichtigen. Außerordentliche Umweltbedingen können das Aussterben existierender Organismen nach sich ziehen.
Ich bin der Ansicht, dass heutige Erkenntnisse der Genetik, der Neurobiologie und der Soziologie darauf hinweisen, dass die systematischen Evolutionsmodelle von Maturana und Luhmann, die sich vor allem auf die Prinzipien Kommunikation und Strukturkopplung sich selbst organisierender Systeme berufen, geeignet sind, das Phänomen Evolution besser zu verstehen.
Die Scobel-Gesprächsrunde hat zur Klärung des Begriffs „Rasse“ sehr überzeugende Argumente geliefert. Es gibt keine absoluten genetische Unterschiede im Genom von Menschen sondern lediglich Unterschiede in den Häufigkeiten genetischer Variationen. Sichtbare Unterschiede von Menschen beruhen lediglich auf Häufigkeiten lokaler genetischer Variationen. Der Begriff Rasse ist sinnlos geworden, weil er auf absoluten menschlichen Unterschieden basierte.