Der amerikanische
Politikwissenschaftler und frühere IBM-Mitarbeiter John Naisbitt setzte
1982 den Begriff der Megatrends in die Welt. Sein Buch gleichen Namens wurde in 57 Ländern
veröffentlicht. Naisbitt lebt heute in Wien und Tianjin (China). Es gab mehrere
Folgeveröffentlichungen, etwa die mit den Titeln Megatrends Asien (1995) oder China’s Megatrends (2010).
Der 1955 in Düsseldorf geborene, in Kiel und Frankfurt aufgewachsene Matthias
Horx ist Journalist und bezeichnet
sich selbst als ‚einflussreichster Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen
Raum‘. Sein 2011 erschienenes Buch Das Megatrend-Prinzip
schwimmt auf der von Naisbitt ausgelösten Welle. Es ist keine Frage, dass das
Nachdenken über die Zukunft auch für unsere Wirtschaft und Gesellschaft wichtig
ist. Daher kamen in diesem Blog immer wieder Teilaspekte wie Altern, Bildung
und Globalisierung zur Sprache. Ich las das Buch von Horx vor allem deshalb, um
mir über die Breite des Themas Zukunft klar zu werden und um zu sehen, was im
Markt der Meinungen heute besonders hoch gehandelt wird. Ich erwartete keine
wissenschaftliche Ausarbeitung.
Nach Horx gibt es zurzeit elf Megatrends:
Globalisierung, Frauenaufwertung, Individualismus, Altern, Urbanisierung,
Mobilität, Neue Formen der Arbeit, Bildung, Gesundheit, Ökologie und
Konnektivität. Ein Megatrend ist zwar groß, aber eher breit und langanhaltend
als stark und überstürzend. Typischerweise ist sein Effekt etwa ein Prozent pro
Jahr. Beispiele sind ein Prozent mehr Frauen in Führungspositionen pro Jahr
oder ein Prozent durchschnittliche Steigerung der Lebenserwartung pro Jahr.
Jeder Trend wird von zwei
möglichen Quellen gespeist, den Bedürfnissen der Menschen und den Möglichkeiten
der Technik. An die Stelle von Bedürfnissen können Wünsche treten. Statt der
Technik kann auch die Wirtschaft neue Möglichkeiten schaffen. Da jeder Trend eine
Repriorisierung der derzeitigen Verhältnisse veranlasst, wird er auf Widerstand
stoßen. Vorhandene Lösungen werden verbessert. Trends müssen daher nicht linear
steigend sein. Sie können Pausen einlegen oder sogar eine Weile rückläufig
sein. Manche Trends unterstützen sich gegenseitig.
Nicht-linearer Trend
Ein Schleifenbild entsteht dann, wenn
man die Abzisse nicht als absolute (Kalender-) Zeit auffasst, sondern als
relativen Abstand vom Endpunkt der Kurve.
Soweit das Grundsätzliche. Es
folgen ausgewählte Aussagen zu den einzelnen Trends, die mir interessant erschienen.
Es liegt mir fern, die Fülle des Materials vollständig wiederzugeben. Markante Aussagen
zu andern Themen folgen im Anschluss.
Globalisierung: Das ist der am häufigsten zitierte Trend. Es
gibt ihn – mit Unterbrechungen – seit Menschen aus Afrika auswanderten. Von
1961 bis 2003 haben sich Getreideerträge in Afrika verdoppelt. Es ist alles
eine Frage der Arbeitsteilung, wie schon Adam Smith sagte. Ein Engländer hat es
bewiesen, indem er einen Toaster selbst herstellte und das benötigte Eisen und
Kupfer eigenhändig gewann. Volatilität ist kein Privileg amerikanischer Firmen.
Durch ‚Glokalisierung‘ (Globalisierung verbunden mit Lokalisierung) erfolgt eine
Optimierung mit einer verstärkten Bewertung von Transportkosten. Die Welt ist
nicht ungerecht; sie ist kreuz und quer verwirrend.
Frauenaufwertung: Dass Geburtenraten überall auf der Welt fallen,
wird noch nicht geglaubt. Es ist das Ergebnis von vier Trends (Urbanisierung,
Frauen, Individualisierung und Alterung). Das Maximum von neun Mrd. wird in 2070
erreicht sein.
Individualismus: Individualismus braucht Verbundenheit. Kuschelhormon
(Oxytocin) fördert Wir-Gefühl, aber auch Hass auf Andersgeartete.
Altern: Zunahme der Lebenserwartung ist in 186 von
194 Ländern festzustellen. Ausnahmen sind ‚failed states‘ (Haiti, Somalia),
arme Länder (Mali, Äthiopien), Russland (wegen schlechtem Wodka) und Südafrika
(wegen Aids). Altern bedeutet Tod der Ambitionen und Geburt der Akzeptanz. Weisheit
ist höher integrierte mentale Konnektivität.
Urbanisierung: In 40 Stadtregionen wohnen zwei Drittel der
Weltbevölkerung. Stadtleben macht gleichgültig (und ‚gleich gültig‘);
entkoppelt von Raum; Suburbia ist nicht mehr das Ideal. Trend legt Schleife ein.
Megastädte schrumpfen. Singapur funktioniert, weil es Disneyland mit
Todesstrafe ist. Urbanisierung und Technisierung in dritter Welt lassen dennoch
langfristigen Investitionsschub erwarten.
Mobilität: Begann mit Auswanderung aus Afrika (siehe
oben). Technik hat sich seither enorm verbessert.
Neue Arbeitsformen: Der Lohnarbeiter ist ein moderner Höriger.
Beschäftigung wurde erkauft durch Entselbständigung. Das ist nichts für
Kreative. Neuer Trend heißt Verwissenschaftlichung und Re-Verselbständigung.
Gesellschaft benötigt neue Kooperationsformen, nicht nur 'wie Du mir, so ich
Dir'. Mehr ‚fluide‘
Organisationen. Hartz-Reformen förderten Teilhabe an Gesellschaft statt
Abhängen.
Bildung: Im Ausbildungssystem wird Produktivität
vernichtet. Es schafft keine kreativen Eliten. Jäger und Sammler besaßen
hervorragendes Wissen über die Natur; Straßenkinder kennen ihre Welt; heutige
Bildung muss Könnerschaft für Morgen besorgen. Die Internet-Revolution erzeugt
die freie Verfügbarkeit des Wissens. Welche Knappheit wird als Folge hervorgerufen?
Mangel an Orientierung?
Gesundheit: Die Kindersterblichkeit ist in einigen Ländern
der Dritten Welt (z.B. Sri Lanka) geringer als in einigen Schwellenländern
(z.B. Türkei). Bei Demenz brechen verschüttete Konflikte auf. Lösung heißt Validieren.
Epigenetik (Umwelt beeinflusst Phänotyp) reduzierte die Hoffnungen der
Genetiker.
Ökologie: Verstädterung ist ein Gewinnspiel für die
Umwelt.
Konnektivität: Lebewesen brauchen Energie und Konnektivität
(Austausch von Information). Vertrauen spart Transaktionskosten; Zivilisation
zentriert Verantwortung. Wissen entsteht schichtenweise; atomisiertes Wissen
ist uninteressant. Nur Wissen, das wir mit andern teilen, ist nützlich.
Soweit die elf Megatrends. Die
folgenden weiteren Aussagen fand ich ebenfalls beachtenswert.
Evolution: Megatrends sind Ausdruck des evolutionären
Prinzips der Komplexität. Ausdifferenzierung ist sicherste Pfad der Evolution. Evolution
hat uns die Fähigkeit gegeben eher einen Säbeltiger zu viel zu sehen als einen
zu wenig.
Gesellschaft: Menschliche Gesellschaften sind problemlösende
Organisationen mit sinkenden Grenzerträgen.
Innovation: Innovation ist nicht dadurch bestimmt, was
möglich gemacht wird, sondern was genutzt wird. Die Entwicklung von Neuem wird umso
langsamer, je mehr auf dem Spiel steht (J. Lanier)
Märkte: Märkte soll man nicht unterschätzen. Sie lenken
Investitionen auf Wellness, Gesundheit und Bildung. Es gibt viele Teilmärkte;
immer sind irgendwo Krisen. Bis 2008 galt Ökonomie als die letzte ‚harte‘
Wissenschaft. Nach Kondratjew ist der Markt keine Mathematik, sondern ein
Kultursystem, in dem Technik und menschliche Organisation interagieren.
Kondratjew wurde von Schumpeter weiterentwickelt.
Krisen: Krisen sind notwendig und produktiv. Es
bilden sich neue Ordnungen heraus. Krisen sind ein Anreiz zu höherer
Komplexität. Das gilt auch für die Euro-Krise.
Komplexität: Durch Feedback erlöste Kompliziertheit oder
dynamische Adaptivität. Eine Bakterie ist so kompliziert wie ein Passagierflugzeug.
Beide funktionieren dank Feedback-Schleifen und Systemhilfe. Komplexe Systeme
brauchen viel Energie; Knappheit von Ressourcen führt zur Spezialisierung. Komplexität
ist Kollaterialbonus (sic!) der Evolution, nicht ihr Ziel.
Emergenz: Wechselbeziehungen zwischen Einzelteilen führen
zu neuen Eigenschaften, die kein Einzelteil besitzt.
Resilienz: Zurückspringen auf Ausgangsform, auch Robustheit;
neues Modewort wird den Begriff Nachhaltigkeit ablösen. Eine Gesellschaft muss
resilient sein, d.h. fähig Lernprozesse zu organisieren.
Ein mir bisher unbekannter Guru
scheint es Horx angetan zu haben. Er hieß Clare
Graves (1914-1986) und lebte im Staat New York. Nach dessen Meinung sind die
Lösungen von Heute die Probleme von Morgen. Er erklärte die Entwicklung eines
Individuums vom Baby bis zum Greis anhand derselben Prinzipien wie die Geschichte
der Menschheit. Die vom Individuum erzeugten Bewältigungsstrategien des Ichs
verursachen neue Organisationsweisen der Gruppe. In einer Art Spirale werden abwechselnd
Individualismus und Konnektivität betont und weiterentwickelt. Es gibt noch
kein deutsches Buch darüber. Vielleicht wird es nie eins geben. Abschließend empfiehlt
er, sich mit so bekannten ‚Großhistorikern‘ wie Jared Diamond, Niall Ferguson und Ian Morris zu befassen, aber auch mit wissenschaftlichen Querdenkern wie Antonio Damasio, David Deutsch und Martin Nowak.
Zumindest Morris und Damasio sind den Lesern dieses Blogs bereits begegnet.
Nachtrag am 20.1.2013: Martin Nowak kommt im übernächsten Eintrag vor.
Nachtrag am 20.1.2013: Martin Nowak kommt im übernächsten Eintrag vor.
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