Samstag, 5. Januar 2013

Organisations-Anthropologie – was ist das?

Am 5.1.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

Ist [der mitgesandte Beitrag] eigentlich etwas für Ihren Blog?  Formelzeichen werden nicht benutzt! Ich glaube aber, er passt nicht, weil eine Einführung mit dem Thema „Was ist Anthropologie“?  fehlt. Gehlen und  Plessner  waren die deutschen Heroen der Anthropologie (biologisch, sozial, geistig).

Mir gefällt unter den sonstigen  Heroen natürlich der Erlanger Wilhelm Kamlah am besten. Bevor er seine „Philosophische  Anthropologie“ schrieb, verfasst er einen Aufsatz mit dem Thema „Der Mensch in der Profanität“. Und das genau ist mit Anthropologie gemeint. Es gilt: „Wer profan ist, ist nicht heilig“. Alles, was nach Heiligkeit riecht,  ist  anthropologisch draußen.

Zuviel Philosophie kann nicht sein, dachte ich mir, und las es. Die  offen gelassene Frage ‚Was ist Anthropologie?‘ ließe sich mit einem Hinweis auf Wikipedia erklären. Auch die Hinweise auf Gehlen, Plessner und Kamlah ließen sich auf diese Art ersetzen.

An einer Stelle mitten im Text begann ich hellhörig zu werden, nämlich als Wedekind sich die Frage stellt: Was ist ein Fehler? Seine Antwort: ‚Technisch gesprochen ist ein Fehler eine nicht tolerierbare Abweichung von einer Spezifikation (Soll).‘ Da fühlte ich mich auf einmal herausgefordert. Da mich dieselbe Frage schon seit Jahrzehnten beschäftigt hat, gab es auch in diesem Blog bereits einige Hinweise. Bei dem Wort ‚Spezifikation‘ ist Wedekind – im Gegensatz zu vielen andern Kollegen – vorsichtig und fügt in Klammern das Wort ‚Soll‘ hinzu.

Die Soll-Spezifikation heißt genauer Anforderungsdefinition. Sie ist sehr oft die Basis eines Vertrags zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Das Schwierige sind meist die nicht-funktionalen Anforderungen (Leistung, Benutzbarkeit, Sicherheit). Leider lassen sie sich nicht formal ausdrücken, wie dies bei den funktionalen Anforderungen sehr oft der Fall ist. Je vollständiger eine Spezifikation ist, umso genauer lässt sie sich implementieren. Je mehr Freiheitsgrade offen gelassen werden, umso mehr Bedarf besteht für eine Ist-Spezifikation. Der Entwerfer trifft dann die Auswahl.

Nun zu den Fehlern: Aus technischer Sicht ist es sinnvoll, sie nach der Entwicklertätigkeit zu unterscheiden, etwa in Anforderungsfehler, Entwurfsfehler, Implementierungsfehler, Testfehler, Installationsfehler und Nutzerfehler. Um das Vorwort nicht zu einem eigenen Beitrag ausarten zu lassen, nehme ich an, dass Wedekind im obigen Zitat nur an Anforderungsfehler dachte. Es sind Situationen (engl. use cases), die besonderer Behandlung bedürfen. Typische Beispiele sind 'Speicher voll' und 'Batterie leer'. Was wir leichthin als Fehler bezeichnen, ist manchmal nur ein Aspekt der Realität, der beachtet werden muss.

Jetzt zu meinen eigentlichen Einwänden. Es ist eine der üblichen Lebenslügen, an die besonders akademische Informatiker zu glauben scheinen, dass sich komplexe Systeme, wie wir sie heute täglich benutzen (Amazon, Google, Facebook, Autobahn-Maut, Arbeitslosenhilfe), vollständig und exakt spezifizieren lassen. Eine weitere Gefahr besteht darin, Informatikern und Ingenieuren einzutrichtern, dass ihre Verantwortung nur beim Vorliegen einer Soll-Spezifikation einsetzt. Steve Jobs hat deutlicher als andere Kollegen erkannt, dass der Ingenieur die nicht-artikulierten Wünsche der potentiellen Nutzer erkennen muss. Schließlich ist es unprofessionell, alle Wünsche eines Auftraggebers unbesehen zu akzeptieren. Wohin es führt, wenn wir hier versagen, darauf hat das Ehepaar Mitscherlich in seinem bekannten Buch hingewiesen. Selbst KZ-Ärzte sahen sich im Dienste der Wissenschaft handeln, als sie Menschen quälten und töteten.

Ich hoffe, es gelingt Ihnen, trotz dieser Vorbemerkungen und der nur schwer verdaulichen Begrifflichkeit des beigefügten Wedekind-Beitrags seine fachliche Substanz zu genießen.

1 Kommentar:

  1. Am 7.1.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    1. Wedekind bezeichnet Arnold Gehlen als „Hero der Anthropologie“. In Gehlens Publikation „Der Mensch“ von 1940 postuliert er, dass Integration der Gesellschaft allein über das „Gesinnungsmäßige“ erreichbar sei. Für Gehlen bedurfte es dazu einer von oben her institutionalisierten „Weltanschauung“ und „Oberster Führungssysteme“. Unter der nationalsozialistischen Herrschaft sei gesichert, dass ein derartiges (auf Transzendenz verzichtendes) „immanentes Zuchtbild [...] imstande sei, tragende Grundsätze des Handelns aufzustellen und durchzuführen, eine feste Organisation des Wachstums und der Leistung des Volkes aufzustellen sowie notwendige, gemeinsame Aufgaben nachzuweisen und zu realisieren.“ ...

    Im übertragenen Sinn habe ich mich gefragt, welchen Stellenwert Herr Wedekind Ottmanns bzw. Luhmanns Thesen im Rahmen seiner Überlegungen zu "Organisations-Anthropologie" wohl beimessen würde. Stellt man Ottmanns und Luhmanns Sicht gegenüber, werden grundlegende Unterschiede theoretischer Ansätze deutlich. Die Sicht von Henning Ottmann (geb. 1944) zu Gesellschaft und Politik kommt u.a. in einem Interview Süddeutsche Zeitung vom 28.12.2012 zum Ausdruck. Niklas Luhmanns (1927-1998) Sicht von Gesellschaft und Politik finden sich vor allem in dem Werk: Die Politik der Gesellschaft.

    2. Wedekind meint es gut, wenn er dem Menschen gut klingende Eigenschaften zuspricht. Wedekinds Sichtweise entspricht Gehlens und Ottmanns philosophischen anthropologischen Hypothesen, wenn er den Zweck gesellschaftlicher Strukturen darin sieht, hauptsächlich „positive“ moralische und ethische Ziele verwirklichen zu können. Naturwissenschaftliche Hypothesen über die Natur des Menschen geben weniger Anlass, menschliche Organisationen und Verhaltensweisen in einem hauptsächlich ethisch „positiven“ Licht darzustellen. Dagegen sprechen die vielen historischen und gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisensituationen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Das einzige Allgemeine, was sich über die komplexen biologischen und geistigen Strukturen und Prozesse des Menschen aussagen lässt, ist wohl: Der Mensch als biologisches, geistiges und soziales Wesen funktioniert recht und schlecht. Der Neurowissenschaftler David Linden („Das Gehirn – ein Unfall der Natur – und warum es dennoch funktioniert“) ist überzeugt, dass das menschliche Gehirn zwar ein beeindruckendes Produkt der Evolution ist, aber genau „daher ist das menschliche Gehirn sowohl auf der System- als auch auf der zellulären Ebene im Wesentlichen ein unnötig komplizierter, zusammengeschusterter und ineffizienter Apparat“. Joachim Bauer („Das kooperative Gen“) kann in biologischen Systemen immerhin Prozesse wirksam sehen, die auf den „positiven“ Prinzipien Kommunikation, Kooperation und Kreativität basieren. Ich setze die Worte „positiv“ in Gänsefüße, weil es bei evolutionären Entscheidungen (Selektionen) nicht darum geht, ob etwas die Kriterien „positiv“ oder „negativ“ erfüllt. Es geht nur darum, ob etwas Neues (Variation) funktioniert oder nicht.

    Die Herren Gehlen, Ottmann und Wedekind haben natürlich mit der Beobachtung Recht, dass viele der heutigen gesellschaftlichen Strukturen unter Zuhilfenahme ethisch/moralischen Orientierungsvorgaben funktionieren. Aber eben nur recht und schlecht. Viele historische und heutige Gesellschaftssysteme basierten bzw. basieren schlicht auf diktatorischen Orientierungsvorgaben. Ob dynamischen evolutionären Prinzipien in zukünftigen Gesellschaftssystemen eine anthropologisch wesentlichere Rolle zukommen wird, als von Theoretikern der „Organisations-Anthropologie“ angenommen, lässt sich nicht vorhersagen

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