Rainer Janßen ist Bereichsleiter Informatik (engl. Chief Information Officer, CIO) der Münchner Rückversicherungsgesellschaft, kurz Munich Re. Janßen trat 1984 in die mathematische, auch mit Informatikthemen betraute Abteilung am Wissenschaftlichen Zentrum der IBM in Heidelberg ein. Ihm wurde bald die Leitung jener Abteilung übertragen und er baute sie, unter dem Namen Institut für Supercomputing und Angewandte Mathematik (ISAM), zu drei Abteilungen weiter auf und aus. Auch mit der Rechenzentrumsleitung der IBM Heidelberg war er eine Zeit lang betraut. Ab 1993 leitete Janßen dann als Direktor das Wissenschaftliche Zentrum Heidelberg insgesamt und anschließend das Europäische Zentrum für Netzwerkforschung der IBM in Heidelberg. Gleichzeitig war er über Jahre auch Niederlassungsleiter der IBM Lokation Heidelberg.
Im
Jahre 1997 wechselte Janßen als CIO zur Münchener Rückversicherung. Er
zeichnete dort in den Folgejahren für wesentliche Veränderungen der
Konzern-IT-Landschaft und -Strukturen weltweit verantwortlich. Mit 17 Jahren
Tätigkeit ist er heute einer der dienstältesten CIOs in den DAX-Unternehmen. Janßen
war und ist auch firmenextern sehr sichtbar, u.a. wurde er 2008 als ein „CIO
des Jahres" von der COMPUTERWOCHE und dem CIO-Magazin ausgezeichnet. Er
war und ist häufiger Konferenzredner und Keynote Speaker, lange Jahre war er
Zeitschriftenmitherausgeber und -beitragender u.dgl. Janßen studierte
Mathematik und Informatik an der Universität Kiel und war anschließend wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Fachbereich Mathematik der Universität (heute TU) Kaiserslautern.
Dort wurde er 1984 zum Dr. rer. nat. promoviert.
Klaus
Küspert (KK): Herr
Janßen, Sie sind jetzt nach der Promotion seit genau 30 Jahren im IT-Bereich
der Wirtschaft tätig: erst 13 Jahre in der IBM, nun seit 17 Jahren CIO der
Münchener Rück. Sie kommen aus der Mathematik. Wie „prägend" war diese
fachliche Herkunft für Ihr berufliches Leben und spielt es u.U. auch heute noch
eine merkliche Rolle?
Rainer
Janßen (RJ):
Einerseits bin ich strikt gegen die verbreitete deutsche Haltung, das Studium
nur als eine Art vorbereitende Berufsausbildung zu sehen. Eigentlich ist beim Studium
vor allem wichtig, den Hirnmuskel zu trainieren, um die immer neuen und sich
verändernden Herausforderungen des Berufslebens zu stemmen. Andererseits ist
ein Studium, insbesondere mit Promotion, schon eine lebenslang prägende
Denkschule. Da gibt es natürlich erst einmal die Differenz zwischen den
Hard-Core-Sciences (MINT-Fächer) und den eher diskursorientierten Studiengängen
wie MBA, BWL oder Jura. Und ich bin, ehrlich gesagt, immer noch lieber auf der
MINT-Seite. Aber auch zwischen den Menschen mit einem MINT-Background habe ich
in IT-Projekten erstaunlich unterschiedliche Verhaltensweisen beobachtet.
Mathematiker
wollen die Probleme oft eher etwas grundsätzlicher durchdringen, bevor sie mit
der Implementierung loslegen. Physiker sind oft unerschrockener, aber
vielleicht lernt man das ja, wenn man schon im ersten Semester mathematische
Werkzeuge benutzt, die der Mathematikstudent erst frühestens im siebenten Semester
verstehen lernt. Und Ingenieure neigen dazu, bei jedem Designproblem Erfahrungswerte
aus der Praxis zu berücksichtigen – und dass man im wirklichen Leben immer eine
Notfalllösung braucht, weil doch alles schief gehen kann. Informatiker sind ein
bisschen dazwischen, weil sie sich als junge Wissenschaft noch nicht so ganz
klar einsortiert haben.
KK: Als Sie 1984 zur IBM
und speziell nach Heidelberg gingen, was waren die Gründe? Welches waren da die
wesentlichsten Alternativoptionen und ggf. -verlockungen für einen frisch promovierten
Mathematiker wie Sie?
RJ: Für Mathematiker gab
es noch nie ein klares Berufsprofil. Ein Notar brachte es beim Tod meines Vaters
auf den Punkt, als ich als Beruf Mathematiker angeben wollte bei der Beantragung
eines Erbscheins: „Das ist eine Ausbildung, aber kein Beruf.“
Ich
wollte nicht wirklich in die typischen studienfachnahen Berufe, in denen man
eher Rechenknecht für die Ingenieure war (etwa in der Automobilindustrie), aber
auch nicht in die typischen Alternativen wie Management- oder IT-Beratung.
Bei IBM
bot man mir eine unglaublich spannende Mischung zwischen Forschung und konkreter
Anwendung mit durchaus dem Blick für gesellschaftlich Sinnhaftes, da konnte man
nicht Nein sagen. In meinem ersten Projekt haben wir ein Transplantationsinformationssystem
(TRAINS war der Projektname) aufgebaut, in dem ganz viele Nierentransplantationszentren
rund um den Globus über die Vorläufer des Internet Informationen über
Spender/Empfänger-Matching, prä- und postoperative Behandlungen und deren Einfluss
auf den Transplantationserfolg austauschten und studierten. Das war intellektuell
unglaublich spannend und gleichzeitig von wirklich hohem Nutzen für die Gesellschaft.
KK: Für promovierte und
wissenschaftsnah arbeitende Mathematiker (und andere) ist ja auch die Hochschulkarriere
potentiell interessant. Spielten Sie einmal mit dem Gedanken, vielleicht nach
Jahren doch wieder an die Hochschule zurückzukehren ̶ das soll's ja geben ̶ oder
wurde dies mit zunehmender Industriekarriere einfach unattraktiver, inhaltlich
und generell?
RJ: Ich habe eine eher
breite Neugier. Ich mag mich nicht dauerhaft in einem Thema festbeißen. Die
akademischen Fördermechanismen zwingen einen aber sehr stark, auf einem Gebiet
zu bleiben, in dem man einmal Erfolg hatte. Die Bewertungen von Vorerfahrungen,
Publikationen auf einem Gebiet, in dem man sich um Fördermittel oder einen
Lehrstuhl oder einen DFG-Schwerpunkt bewirbt, veranlassen einen, bei dem einmal
gewählten Thema zu bleiben.
Dann
war schon damals erkennbar, dass in den mir nahen Positionen der Anteil an Managementarbeit
sehr hoch war, dies aber weder finanziell, noch vom inneruniversitären Wertesystem
anerkannt würde. Und wenn ich die Degeneration der Ideale akademischer Bildung,
die ich einmal hatte, durch Bachelor- und Master-Studium heute sehe, dann bin
ich (m)einem glücklichen Schicksal dankbar, dass ich nie berufen wurde.
KK: Wie wir fast alle,
die wir die IT nun über 30 oder mehr Jahre „leben und/oder lieben", kamen
Sie ja aus dem Mainframe-Bereich und dann hin zu den Workstations, PCs,
Verteilten Systemen, Internet, Cloud.. Wie haben Sie das erlebt (oder
erlitten?) bzw. natürlich auch mit gestaltet?
RJ: Ich habe zu keiner
Technologie jemals irgendeine emotionale Beziehung entwickelt. Ich habe es im
Gegenteil immer gehasst, wenn in der IT immer wieder von Paradigmenwechseln,
ganz neuen bahnbrechenden Technologien etc. gefaselt wurde und es dann meistens
doch nur alter Wein in neuen Schläuchen war.
Wir
haben 1984 bei IBM auf dem Betriebssystem VM (Virtual Machine) entwickelt. War
das konzeptionell so viel anders als das, was wir jetzt mit Virtualisierung und
Serverkonsolidierung im Microsoft/Linux-Umfeld machen? Oder 1995 habe ich bei
IBM die ersten Folien über Network Computing mit gemalt. Zwischendurch hieß das Utility Computing, Application Service
Provisioning, Web Based Services, Business on Demand und jetzt eben Cloud Computing.
Früher
haben wir Rapid Prototyping gemacht, jetzt eben Agile Development. Wenn man ein
bisschen mit Gelassenheit hinter den Hype schaut, dann hat sich viel weniger
geändert, als der ganze Hype uns einreden will.
KK: Den nahtlosen Wechsel
aus der Leitung einer wissenschaftsnahen, wenngleich großen IBM-Einrichtung auf
den CIO-Stuhl der Münchener Rück stelle ich mir als nicht „ohne" vor. Wie
erging's Ihnen, was überraschte Sie auf dem neuen Stuhl oder was vielleicht
auch nicht?
RJ: Es gab viel mehr
Erfahrungen, die ich unmittelbar auf die neue Aufgabe übertragen konnte, als Wissenslücken,
die mich in der neuen Aufgabe behindert hätten. Auch
bei der Münchener Rück war es wichtig, nicht nur der beste Techniker zu sein,
sondern sein Anliegen so ans Management kommunizieren zu können, dass es Unterstützung
fand. Wie bei IBM war es wichtig, unterschiedliche Nationalitäten und ihre
Managementstile zu verstehen.
Man
musste sich mal wieder trauen, auch dünnes Eis zu betreten, aber auch den Angstschweiß
des Programmierers riechen können, selbst wenn man die Technologie, in der er
entwickelte, nicht genau kannte. Natürlich muss man sich in neue Kontexte
einarbeiten, aber das hat man ja als Wissenschaftler gelernt. Ab einem gewissen
Managementlevel sind eher die generellen Managementkompetenzen, als das
konkrete Fachwissen relevant. Daneben ist dann eher entscheidend für den nachhaltigen
Erfolg, ob die eigenen Wertevorstellungen und Vorgehensweisen mit denen des
neuen Unternehmens zusammenpassen.
KK: In der Münchener Rück
war Ihre Stellenbezeichnung ab 1997 „Leiter Informatik": Man benutzte erfreulicherweise
also hier den Begriff Informatik, sonst tat und tut dies die Wirtschaft ja eher
weniger. Was waren die wesentlichen Veränderungen, die Sie als neuer „Leiter Informatik"
als erste anpackten in jenem erfolgreichen Traditionsunternehmen? Was waren
dabei evtl. die Hindernisse?
RJ: Ja, Informatik war
damals passend. Wir waren ein sehr auf die deutschen Teile des Unternehmens
ausgerichteter Bereich. Der alte Begriff EDV war nicht mehr zeitgemäß, also passte
Informatik. Mit zunehmender Globalisierung war Informatik nicht mehr tauglich.
Es ist ein sehr deutscher Begriff, wie das Wort Handy. Auch „Informatics"
oder „Public Viewing" versteht außerhalb des deutschen Sprachraums keiner
oder er versteht es anders und damit falsch.
Was
waren die ersten Veränderungen? Nun, mein erster offizieller Arbeitstag war der
1. Juli 1997, ein Dienstag. Ich war schon am Wochenende angereist und am Montag
im Unternehmen. Am Dienstag nach dem Mittagessen war ein Meeting mit Vorstand,
IT Management und aktuell im Hause tätigen Unternehmensberatern angesetzt. Es
war zu erwarten, dass die Berater vorschlagen würden, alle laufenden Umstellungs-
und Entwicklungsprojekte von Mainframe auf Client-Server einzustellen, um erst
einmal durch Anpassung der Altsysteme auf dem Mainframe den anstehenden Jahrtausendwechsel
(die „Y2K-Problematik" damals) zu schaffen. Am Montag habe ich mich mit vielen
Teilprojektleitern unterhalten („Hallo, ich bin der Neue, wie sehen Sie die
Lage?"). Am Abend war glücklicherweise auf dem Heimweg zwischen
U-Bahnstation und Hoteleingang noch ein Weinladen offen, denn ich brauchte seelischen
Zuspruch. Es war offenkundig nach allen Berichten, dass wir sehr tief im Dreck
steckten, aber alle neuen Kollegen verströmten große Ehrlichkeit in der Statusbeschreibung
und Kompetenz. Sie wussten, wovon sie redeten – ich nicht – und sie zeigten
unbegrenzte Kampfbereitschaft. Auf dieser Basis habe ich dann am Dienstag dafür
votiert – und der Vorstand wartete definitiv auf meine Entscheidung – mit der
Client-Server-Migration fortzufahren. Und am 30.12.1999 um 12 Uhr konnten wir
die letzte Mainframe-Anwendung abschalten!
KK: Die Münchener Rück
ist ja, wie man hört oder weiß, ein Unternehmen mit ausgeprägter Unternehmenskultur.
Können Sie uns das ein wenig erläutern?
RJ: Unternehmenskultur
wird von vielen Managern unterschätzt. Sie gilt als ein weicher Faktor, ist
aber doch extrem hart. Wegen Kultur haben sich in Japan Leute den Bauch
aufgeschlitzt, Offiziere in Petersburg oder Berlin sich die Kugel in den Kopf
geschossen, Priester ihr Leben lang auf Sex verzichtet oder sind Menschen verhungert,
weil sie verfügbare Nahrung aus kulturellen Gründen nicht essen durften.
Und
genauso sind Unternehmen zugrunde gegangen, weil sie ihre Kultur nicht ändern
konnten. Wir beide wissen aus unseren Erfahrungen mit IBM in den frühen
1990ern, dass IBM fast an dem IBM Way of Doing Things zerbrochen wäre.
Eine
starke Unternehmenskultur ist immer beides: Fluch und Segen. Und man kann sie
verdammt schwer managen, weshalb auch so viele Merger schief gehen. Das
erläutert am besten der Spruch über Kanada. Da heißt es: Oh Kanada, Du hättest
das Beste aus drei Welten bekommen können: Amerikanische Technologie, französische
Kultur und britische Regierung. Und was hast Du bekommen? Amerikanische Kultur,
britische Technologie und französische Regierung!
KK: Man spricht
heutzutage gerne von den großen Herausforderungen (Grand Challenges), denen
sich ein Unternehmen gegenüber sieht. Welches würden Sie als die „Grand
Challenges" heute für den IT-Bereich der Münchener Rück bezeichnen?
RJ: Eine zentrale
Herausforderung auf allen Ebenen – von Geschäftsprozessen bis hin zur Technik –
ist die zunehmende Vernetzung und Durchlässigkeit von Unternehmensgrenzen. Dies
reicht von vernetzten Geschäftsmodellen entlang der Wertschöpfungskette bis hin
zum Orchestrieren von Cloud-Services statt des Steuerns und Entwickelns einer
in sich geschlossenen Welt, wie es früher eher der Fall war. Viele Unternehmen,
so auch die Münchener Rück, haben hier starke Aufgaben und Herausforderungen.
KK: Wie sieht es mit dem
Verhältnis zwischen Münchener Rück und den Hochschulen aus, welche Kontakte und
Formen der Zusammenarbeit gibt es?
RJ: Wir arbeiten in
unterschiedlichen Bereichen mit Universitäten zusammen, in der IT vor allem mit
der TU München. Hier gibt es seit längerer Zeit Kooperationen im Bereich des
Software-Engineering, aber auch immer wieder die Einbindung durch Vorträge in
Vorlesungen oder Exkursionen der Wirtschaftsinformatik. Exkursionsgäste, auch
mit Informatikhintergrund, hatten wir ja auch schon von anderswo her, etwa von
der Universität Jena.
KK: Um noch mal und zum
Schluss bei den Hochschulen zu bleiben und Ihrer Rolle als IT-Chef: Wie zufrieden
sind Sie mit „New Hires" bzw. Bewerbern? Was würden Sie sich von den
Hochschulen anderes wünschen in Sachen Vorbereitung aufs Berufsleben?
RJ: Da wir mittlerweile
die typischen Einsteigerjobs für frischgebackene Absolventen fast vollständig
an unsere Sourcing-Partner abgegeben haben, stellen wir nur noch einen geringen
Prozentsatz unserer neuen Mitarbeiter direkt von der Universität ein. Aber wenn
uns jemand durch Persönlichkeit und Intellekt überzeugt, sind wir da andererseits
ganz flexibel. In der jetzigen Ausbildung ist mir der Anspruch an Verstehen und
Bewerten wollen und können im Vergleich zum Auswendiglernen von Prüfungsstoff
zu stark unter die Räder gekommen. Wenn ich früher jemanden gesucht habe, der
schnell ein Buch auswendig lernen und wieder vergessen konnte, habe ich einen
Mediziner gesucht. Heute erfüllt nahezu jeder Bachelor diese Qualifikation.
KK: Herr Janßen, der Blogger
und seine Leser sowie ich persönlich danken herzlich für das Gespräch und die
aufschlussreichen, offenen und pointiert vorgetragenen Argumente und Antworten.
NB:
Dieses Interview ist nicht nur als Idee von Klaus Küspert sondern auch in
seiner Ausführung. Vielen Dank.
2 thoughts to Herr Janßen’s last response:
AntwortenLöschenI doubt that a rote-learning model of education is the source of poorer university graduates. I suspect that the observation is correct [poorer quality] but think the source is a characteristic of the Zeitgeist of our time – a time of faithlessness that makes problems of society (not only IT) appear intractable. A related anecdote – the Chairman of the Electrical Engineering department at one of America’s premier State Universities, with a history of successful research and entrepreneurial vigor, said that none of the current doctoral students in his program was interested in Electrical Engineering. !!
I think it also an expression of that faithlessness that corporations “liebäugeln” a “sourcing model” of “just-in-time-labor” which itself is a kind of self-fulfilling prophesy regarding quality of employees.
Calvin Arnason