Dienstag, 17. März 2015

Virtuelle und Erweiterte Realität – mehr als nur technische Spielereien?

Einer der im Titel genannten Begriffe kam schon in einem früheren Beitrag vor. Als Pionier des Gebiets und früher Nutzer des Begriffs Virtuelle Realität in der Informatik ist uns Jaron Lanier begegnet. Die Erweiterte Realität ist eine andere Anwendungsform, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Beide Gebiete sind nur durch die Benennung miteinander verwandt. Beide sind technisch sehr reizvoll und verdienen daher eine bewertende Betrachtung.

Virtuelle Realität

Wie ich in einer Nachbemerkung zu Laniers letztem Auftritt in Deutschland schrieb, ist Virtuelle Realität (engl. virtual realitiy, kurz VR) an sich ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich, eine Contradictio in adjecto. Wie in einem früheren Beitrag definiert, ist virtuell das Gegenteil von real. Es ist ein eklatantes Beispiel dafür, wie die natürliche Sprache schon mal missbraucht wird, um den Bedürfnissen der technischen Welt gerecht zu werden. In seinem Buch von 2010 [1] hatte Lanier beklagt, dass durch das Internet diese Art von Anwendungsmöglichkeiten in den Hintergrund gedrängt würde. Er war nämlich um 1980 überzeugt, dass durch die VR-Technik in ferner Zukunft einmal neue Erlebniswelten, ja sogar auch neue Kunstformen entstehen würden. Die Schuld dafür, dass dies nicht geschah, gab er dem alles überwältigenden Erfolg des Internet. In der Besprechung dieses Buches hieß es:

Was entstanden ist, sei eine massenhafte Verbreitung klassischer Informationen, also von Texten, Fotos, Musik und Filmen. … Jeder kann heute Beitrage zu dieser unendlichen Weltbibliothek leisten. Es sind keine Investitionen in teure Geräte mehr nötig. Vor allem aber werden keine Spezialisten, also keine Experten mehr gebraucht. Jeder kann ein Video erstellen und verbreiten, welches dann von Millionen Menschen auf der ganzen Welt konsumiert werden kann.

Mittels eines VR-Systems wird einem Nutzer der Eindruck vermittelt, dass er sich in dem von einem Rechner projizierten Bild oder Raum aufhält und mit den dort befindlichen Objekten interagiert. Der stereoskopische Effekt wird erzielt, indem jedem Auge ein entsprechend modifiziertes Bild zugeführt wird. Dazu ist unter Umständen erheblicher Rechenaufwand erforderlich. Es sind aber auch mehrere Bildschirme nötig, von denen jeder nur von einem Auge gesehen werden kann.

Im Vergleich zu den vorher genannten klassischen Anwendungen erfordert VR schon durch den ‚Headmounted Display‘ einen unverhältnismäßig großen gerätetechnischen Aufwand gemessen an dem Wert der Anwendungen, die sich erschließen lassen. Von dem Software-Aufwand und der erforderlichen Rechnerleistung braucht man gar nicht erst zu reden. Entsprechende Anschaffungen und Entwicklungen scheinen daher bevorzugt für Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Frage zu kommen. Auch psychologisch ist eine Schwelle zu überwinden, denn wer möchte schon den ganzen Tag in einer Art von Taucherglocke herumlaufen. Eine Alternative bieten Großbildleinwände. 

Ein Großteil der VR-Forschung verschwand, als der so genannte KI-Winter ausbrach, der bekanntlich etwa 20 Jahre anhielt. Inzwischen versucht eine neue Generation von Entwicklern mit neuer Technik wieder langsam den Kopf zu heben. Ein Beispiel ist Oculus Rift, das bereits von Facebook aufgekauft wurde. Was daraus für die Milliarden von Facebook-Nutzern einmal entstehen soll, ist noch nicht abzusehen. Als potentielle Anwendungen von VR-Lösungen werden folgende Gebiete genannt: Bewertung von Prototypen, Ausbildung von Monteuren oder Piloten, Visualisierungen in Architektur, Chemie oder Medizin.

Erweiterte Realität

Bei dem deutschen Begriff der Erweiterten Realität  ̶  mit großgeschriebenen Attribut  ̶  (engl. augmented reality, kurz AR) vermied man die Schaffung eines einprägsamen Wortpaares, was große Nachteile hat. Man benutzt daher meist das englische Wortpaar, um überhaupt eine Chance zu haben, verstanden zu werden.

AR ist eigentlich keine Informatik, also keine Computergrafik, im engeren Sinne. Man versteht darunter die Ergänzung von Bildern oder Videos mit computererzeugten Zusatzinformationen oder durch Einblendung oder Überlagerung mit zusätzlichen Objekten. Ein bekanntes Beispiel sind Fußball-Übertragungen, bei denen bei Freistößen die Entfernung zum Tor eingeblendet wird. AR-Anwendungen sind meist sehr praktisch und erfordern nur geringe Mehrkosten. Andererseits sind auch futuristische Anwendungen vorstellbar, wo Geräte oder Personen eingeblendet werden, die in der Realität nicht existieren.

Eine typische technische Anwendung ist die Steuerung von Montagearbeiten durch das sukzessive Einblenden des nächsten zu montierenden Bauteils. Auch in der Medizin gibt es Anwendungen in der Form, dass einem Chirurgen Daten, die von Tomographie- oder Ultraschallgeräten gewonnen wurden, während einer Operation eingeblendet werden. Das von Google vor kurzem vorgestellte Produkt mit dem Namen Google Glass besitzt limitierte AR-Funktionen. Auch Smartphone können entsprechend eingesetzt werden.

Lob der Computergrafik

Generell kann AR dazu verwandt werden, geometrische Planungsdaten mit der geometrischen Realität zu vergleichen und beide aufeinander abzustimmen. Wie Jose Encarnaçao in einem Interview in diesem Blog schon vor Jahren sagte, ist der Mensch ein ‚Augentier‘. Deshalb, so fährt er fort:.

… werden Visualisierung sowie interaktive, multimediale und multimodale Kommunikation immer wichtiger, wenn es um Benutzbarkeit, Bedienbarkeit und Akzeptanz von rechner-unterstützten Leistungen und Dienstleistungen in unserer vernetzten, allgegenwärtigen Informationsgesellschaft geht. Dieses Arbeitsgebiet ist deshalb eine Basistechnologie und ein Ermöglicher (engl. ‚enabler‘) für viele Erfindungen, sowie für neue Entwicklungen und neue Anwendungen, die uns auch für die Zukunft bevorstehen.

Außer der visuellen Wahrnehmung besitzt der Mensch noch den akustischen und haptischen Sinn, mit denen Informatikanwendungen ebenfalls interagieren können. Insgesamt erfolgt jedoch über 70% unserer Interaktion mit der Umwelt durch visuelle Kommunikation.

Zusätzliche Referenz 
  1. 1. Lanier, J.: You Are Not a Gadget. New York: Knopf  2010. Rezension von A. Endres im Informatik-Spektrum 33,3 (2010), 332-333 

1 Kommentar:

  1. Soeben schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    engl. to augment = u.a. auch ergänzen.

    Das wäre eine genauere Übersetzung und sicher besser als „erweitern“. Beispiel: Putin hat sein Land durch die Krim erweitert. Hat er sein Land auch ergänzt? Er behauptet das sicherlich.

    „Erweitern“ ist schlicht extensional, „ergänzen“ eben nicht. In „ergänzen“ steckt „Intensionalität“ und auch „Intentionalität“. Erweitern kann jeder, weil es schlicht ist. Ergänzen kann aber noch lange nicht jeder. Zum Ergänzen braucht man Kenntnisse über den Gegenstand, der ergänzt wird. Ist das zu subtil? Sprache ist halt ein wundersames Ding.

    NB (Bertal Dresen): Deshalb wundert es mich auch, dass es Leute gibt, die sich 'wissenschaftlich' mit Sprache beschäftigen. Aus Küchenabfällen kann man mindestens so viel über ein Volk lernen. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um ein älteres Volk handelt.

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.