Dienstag, 31. März 2015

Edwin Vogt über Hard- und Software-Entwicklung bei IBM und andere Aktivitäten

Edwin Vogt (Jahrgang 1932) war von 1961 bis 1996 im Entwicklungsbereich der IBM Deutschland tätig. Nach einem Algol-Projekt 1962-1963 im französischen Labor in La Gaude folgte eine Abordnung in die USA. Von 1967 bis 1984 war er Leiter der Systementwicklung des Böblinger Labors und verantwortete die Entwicklung mehrerer IBM Rechnerfamilien. Zu erwähnen sind das System/360 Modell 125 sowie die Systeme IBM 4331, 4361 und 9377. Über mehrere Jahre hinweg schloss seine Verantwortung auch die maschinen-nahe Software-Entwicklung mit ein, d.h. das Betriebssystem DOS/VSE. Im Jahre 1987 übernahm er die Leitung des Programm-Entwicklungszentrums (PPDC) Sindelfingen. Daraus entstand ein eigenes Anwendungsentwicklungslabor mit weltweiter Produktverantwortung im Datenbank- und Data-Warehouse-Bereich.

Nach seiner Pensionierung im Jahre 1996 wurde Vogt zum Geschäftsführenden Vorstand einer Start­up-Förderinitiative ernannt. Das Softwarezentrum Böblingen/Sindelfingen e.V. ist eine vom Land Baden-Württemberg, der örtlichen Bezirkskammer der IHK und den Städten Böblingen und Sindelfingen Ende 1995 initiierte Organisation. Vogt leitete sie bis August 1999. Danach wurde er Vizepräsident Forschung & Entwicklung für Xybernaut, einer Firma, die Rechner baute, die bei Montage-Arbeiten am Körper des Monteurs getragen werden. Seit April 2011 ist er Leiter der Basketballabteilung der Böblingen Panthers. Vogt ist promovierter Elektrotechniker der Universität Stuttgart. Familie Vogt hat drei erwachsene Söhne, acht Enkel und einen Urenkel.



Bertal Dresen (BD): Wir kennen uns seit unserer gemeinsamen Zeit vor über 50 Jahren im französischen Labor der IBM. Das war bei einem Software-Projekt in La Gaude an der Côte d’Azur unweit von Nizza. Wir lassen diese Wanderjahre einmal außen vor und beginnen mit der Prozessoren-Entwicklung in Böblingen. Damit Sie einen Bezugspunkt haben, stelle ich einen Auszug aus einer Tabelle vorne weg, die sich (ohne die Software-Spalte) in Helmut Painkes Buch [1] (Seite 167) befindet. Sie können dann frei zwischen Produktbezeichnung und internem Projektnamen wechseln. Was war der erste technische Höhepunkt, an den Sie sich erinnern? 


Edwin Vogt (EV): Meine Zeit als Leiter der Prozessoren-Entwicklung, intern meist Systementwicklung genannt, begann 1967 mit der Entwicklung des System/360 Model 20 Submodel 5 (Codename 20-I). Diese war das erste ausgelieferte System, in dem der Kontrollspeicher für die Mikroprogrammierung in den Datenspeicher integriert war. Ein prototypischer Vorläufer (Codename M10) unter meinem Vorgänger Wilhelm Spruth hatte diese Technologie erstmals angewandt. Dies erlaubte auch die Mikroprogrammierung durch Entwicklungsverfahren zu unterstützen, die in der Software Stand der Technik waren.

Wir haben damals einen Interpreter für die kommerzielle Programmiersprache RPG (Report Program Generator) direkt im Mikroprogramm (unter dem Codenamen GOML) implementiert. Die 20-I lief dann als RPG-Maschine fantastisch. Die IBM hat aber die Auslieferung gestoppt, weil die 20-I in diesem Modus schneller war als die größeren Modelle 30 und 40 des Systems/360 und gleichzeitig das kleine kommerzielle Systeme/3 der späteren General Sytems Division (GSD) überflüssig gemacht hätte.

BD: Sie heben sofort die interne Konkurrenz hervor. Fast kann man meinen, dass diese wichtiger war als die externe Konkurrenz. Dieser Vorwurf wurde uns IBMern damals häufig gemacht. Halten Sie ihn für berechtigt?

 EV: Dieser Vorwurf ist berechtigt. Die IBM war in „Divisions“ aufgeteilt, die bestimmte Hardwareproduktbereiche und als Anhängsel ein dazugehörendes Betriebssystem abdeckten. Wir gehörten zur Data Systems Division (DSD) und beackerten hier das untere Ende dieses Bereichs. Poughkeepsie hatte das obere Ende und Endicott den mittleren Bereich. Diese beiden viel größeren Labors, die auch das Division Management stellten, hatten kein Interesse sich mit anderen Systemlabors (wie Rochester oder San Jose) anzulegen. Bob Evans [damals Vizepräsident und Entwicklungschef der DSD] versuchte dies, war aber nicht erfolgreich, da das Corporate Management angesichts der Profitabilität der IBM und ihrer Marktmacht im Computerbereich, diese Produktproliferation als nicht kritisch ansah. Es gab sogar Personen, speziell im Marketing- und Forschungsbereich, die  ̶   etwas arrogant und kurzsichtig  ̶  diese sogar positiv unterstützten nach dem Motto „Wenn wir schon keine externe Konkurrenz haben, machen wir dies intern“.

BD: Zurück ins Böblinger Labor. Was beschäftigte Sie als nächstes?

EV: Die Modelle 125 und 115 des Systems/370 waren die ersten Computersysteme, in denen die System/370-Architektur durch ein mikroprogrammiertes Multiprozessorensystem, mit eigenem Speicher per Prozessoreinheit, realisiert wurden. Dabei wurden die Mikroprogramme in Verbindung mit einem Serviceprozessor über eines der ersten zur Verfügung stehenden Diskettensysteme (IGAR) in die einzelnen parallel laufenden Prozessoren geladen und so das Gesamtsystem initialisiert (engl. bootstrapping). Die einzelnen Prozessoren waren auf ihre Aufgaben zugeschnitten, so der Serviceprozessor (SVP), die I/O-Prozessoren und die Instruction Processing Unit (IPU). Ihr Zusammenspiel wurde über den SVP koordiniert. Das war eine technologische Entwicklung, die weit über damals implementierten CPU-Strukturen hinausging.

BD: Zwischen dem Modell 115 und der IBM 4331 liegen fast sechs Jahre. Das war die berühmt-berüchtigte FS-Zeit. Die Ziele der FS-Architektur hatte ich in einem Nachruf auf George Radin in diesem Blog erklärt. Was verbinden Sie mit FS? Waren es wirklich völlig verlorene Jahre aus Böblinger Sicht?

EV: Das FS-Projekt trieb die Computer-Technologien voran in Bezug auf Architektur und Programmierung. Für die Prozessoren-Entwicklung selbst aber waren es verlorene Jahre, welche die IBM nur auf Grund ihrer Markmacht überlebte. Die 4331-1 war meiner Ansicht nach das größte Geheimprojekt (engl. bootlegging) in der IBM-Geschichte und nur so gelang es nach mehr als vier verlorenen Jahren ein System innerhalb kürzester Zeit (18 Monate) auf den Markt zu bringen. Dieses System war voll S/370-kompatibel.

BD: Mit der IBM 4331 verbinde ich zwei technische Problemstellungen, mit denen wir beide gemeinsam zu kämpfen hatten, die spezielle Rechnerarchitektur für die kleinen Systeme der System/370-Familie, E-Mode genannt, und die Plattenarchitektur, als Fixed Block Architecture (FBA) bekannt. Der E-Mode bot einen einzelnen in Mikrocode realisierten virtuellen Adressraum von 16 MB an. Durch FBA wurden Magnetplatten mit fester Blocklänge (damals 512 Bytes) beschrieben. In beiden Fällen ging es darum, Hardware-Kosten zu sparen, teilweise zu Lasten einer speziellen Software-Entwicklung. Ich sehe dies als Tradeoff, der nur in einer spezifischen Phase unserer Technologie zu rechtfertigen war. Sehen Sie dies auch so? War die Koppelung der Böblinger Hardware nur an das Betriebssystem DOS/VS nicht  zu einschränkend, wo doch bereits viele Nutzer mit Hilfe von VM/370 alternative Software-Umgebungen betrieben?

EV: Ich sehe die angeführten Punkte nicht ganz so. Der E-Mode für die S/370-Systeme war am Anfang durch die Hardware-Kosten getrieben. Die 4331 war aber schon voll S/370-kompatibel. Das dadurch entstandene Betriebssystem DOS/VSE hätte sehr wohl als einziges Eingangssystem der IBM dienen können. Dies wurde aber verpasst, weil die DOS/VSE-Entwickler nicht erkannten, dass in diesem Bereich die Benützbarkeit wichtiger ist, als die funktionelle Komplexität. Dadurch entstanden zur S/370 inkompatible Architekturen und Betriebssysteme, die nicht notwendig gewesen wären. Die FBA-Architektur war durch die Plattentechnologie getrieben. Sie hätte ohne weiteres später als Teil einer Erweiterungsstrategie benützt werden können, was ja auch zum Teil geschehen ist.

BD: An der obigen Tabelle ist sehr schön zu sehen, wie die Leistungsfähigkeit Böblinger Systeme wuchs. Schließlich gab es auf der Hardware-Seite keinen Unterschied mehr zu den Großsystemen, was die Architektur der Systeme betraf. Was kennzeichnete diese Systeme?

EV: Die IBM 4361 (intern Anton genannt, nach dem Skiort St. Anton), als Weiter-entwicklung der 4331, war der erste IBM-Rechner, bei dem die Bedienerkonsole ein Bildschirm war, der am Serviceprozessor angeschlossen war. Sowohl das Betriebssystem als auch die Mikroprogramme,  inklusive der Hardware-Wartungsprogramme, konnten von hier aus gesteuert werden. Für die IPU wurde ein Konzept für den S/370-Instruktionssatz entwickelt, bei dem ein sogenannter RISC-Instruktionssatz direkt in Hardware implementiert wurde. Nur die komplexeren Instruktionen wurden per Mikroprogramm ausgeführt. (Weitere Details beschreibe ich bei der späteren Frage über RISC-Prozessoren). Dass dieses Konzept in der IBM nicht erkannt und vorangetrieben wurde, bezeichnete Jack Kuehler [damals IBM Vizepräsident] später als seinen größten Fehler in seinen technologischen Entscheidungen. Die 4361 war in ihrer Leistungsfähigkeit (gemessen als Leistung pro Anzahl der Schaltkreise) allen IBM-Systemen in diesem Zeitraum so überlegen, dass wir  ̶  in einer speziellen durch die Corporation eingesetzten Taskforce  ̶  den Entwicklern aus Poughkeepsie, Endicott und Rochester unseren Designs erklären mussten. Man hat das 4361-Konzept als „best of breed“ anerkannt, aber in den anderen Labors wurden daraus keine Lehren gezogen.

BD: Welche ehemaligen Kollegen trugen den maßgeblichen Anteil an dem Erfolg der Systementwicklung? Mit welchen andern Labors der Firma bestanden intensive Kontakte?

EV: Wichtig war für mich ein Team zu haben, das ich an die durch den schnellen technologischen Fortschritt gegebenen Möglichkeiten heranbringen konnte. Die Struktur des Teams musste so aufgebaut sein, dass es Personen gab, die mich hierbei kritisch begleiteten (z.B. Helmut Painke und Günter Knauft), aber auch Personen beinhaltete die entweder die vorgegebene Richtung dann umsetzen konnten (z.B. Leo Reichl und Horst von der Hayden) oder die auf Grund ihrer technischen Brillanz einsame Spitze waren (z. B: Johann Hajdu und Hans-Hermann Lampe) und Personen mit denen ich dies zu einer Gesamtlösung zusammenbringen konnte (z.B. Helmut Weber und Karl-Heinz Strassemeyer). Diese Entwicklung war auch durch die engen Kontakte mit der Technologieentwicklung des Labors (die Kollegen Folberth und Spielmann) möglich. Es bestanden weiterhin enge Kontakte zu den Labors in Endicott und Poughkeepsie, in Teilen zur Technologieentwicklung in East-Fishkill und zu Research Centers in Yorktown Heights und Almaden.

BD: In der Frage, welche Rolle die RISC-Architektur spielen sollte, waren Sie und George Radin geteilter Meinung. Können Sie in wenigen Sätzen den damaligen Disput beschreiben?

EV: Wie bereits gesagt, hatte die 4361-IPU einen RISC-Instruktionssatz der aus einer Untermenge der S/370 Instruktionen vom Typ RR, RX und SI bestand. Dieser Instruktionssatz war für den sogenannten „Commercial Instruction Mix“ nur 2-3%  langsamer als der von Radin entwickelte, der auch nach dem damaligen Data General Commercial Rating (DGCR) gemessen wurde. Er war auch im Implementierungsaufwand (Schaltkreise/DGCR) absolut konkurrenzfähig. Dies passte Radin und anderen Research-Gurus nicht. Deshalb wurde nie der Versuch unternommen, auf diesem Instruktionssatz basierend, auf der S/370/125 UNIX laufen zu lassen, darauf die DG-Software-Systeme zu konvertieren oder diesen auf Effektivität mit den beim System/1800, dem System/36 und dem späteren System/38 und AS/400 benützten Architekturen zu vergleichen. Wir wussten, dass wir im Durchsatz besser oder zumindest gleich gut wie diese Systeme gewesen wären.

Die IBM hätte in diesem Fall  große Teile ihrer Ressourcen in Research und in GSD nicht mehr gebraucht und hätte immense Mengen an Geld sparen können und sich für Konkurrenzsoftware zu diesem Zeitpunkt öffnen können. Dazu war die IBM Managementstruktur zu wenig flexibel, technisch, in vielen Fällen, zu inkompetent und viel zu stark nach innen orientiert. Ich habe nur zwei Manager kennengelernt, die dies verstanden haben: Jack Kuehler und Earl Wheeler [Wheeler stammte aus der DOS-Entwicklung in Endicott und leitete später das gesamte Software-Produkt-Geschäft der IBM]. Beide haben mir in Gesprächen nach ihrer Pensionierung bestätigt, dass sie die Nichtverfolgung dieses Zieles als einen ihrer größten Fehler sahen und sie die Durchsetzung dieses Konzepts auch unterlassen haben, weil sie nicht gegen den Rest der IBM antreten wollten.

BD: Von Bob Evans [2] stammt die Aussage, dass IBM auch im PC-Geschäft hätte erfolgreich sein können, wenn man voll auf RISC-Mikroprozessoren gesetzt hätte, und zwar unter Beibehaltung aller Software-Rechte. Was wäre, wenn…? Solche Diskussionen sind zwar meist fruchtlos. Dennoch würde mich interessieren, welche Gründe Sie für IBMs Rückgang im Hardware-Geschäft anführen würden. Welche Fehler wurden von unsern ehemaligen Hardware-Kollegen gemacht? Welche Rolle spielten externe Einflüsse?

EV: Bob Evans hat vollständig recht: Nur noch ein zusätzlicher Kommentar: IBM kam hier in Schwierigkeiten, weil sie keine Struktur und zu wenige Manager hatten, die gesehen hätten, dass das Vorantreiben der Technologien interne Strukturveränderungen erfordert. IBM war zu einer Bürokratie degeneriert, in der die Bürokraten, als inkompetente Produktplaner und Produktmanager getarnt, den Fortschritt verhinderten. Die Wenigen, die dies hätten noch ändern können, hatten keine Chance sich durchzusetzen und haben zum Teil dies auch nicht versucht. Tödlich für die IBM war hier das Fehlen einer technisch kompetenten Person (wie z.B. Fred Brooks bei der S/360-Architektur), der die Hardware und Software in ein umfassendes System forciert hätte. Jack Kuehler [von der Plattenentwicklung kommend] hatte hier zu wenig Software-Hintergrund, Bob Evans hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr den Einfluss, um dies weitertreiben und umsetzen zu können. Die Größe der IBM und ihre Inflexibilität über Organisationsstrukturen hinweg machten sich hier bemerkbar.

BD: Während Ihrer Zeit als Leiter des PPDC und auch nach Ihrer IBM-Zeit waren Sie vorwiegend im Software-Geschäft tätig. Kann man daraus schließen, dass Sie der Software ein größeres Potenzial beimessen als der Hardware, oder ist es nur der Ausdruck Ihrer Vielseitigkeit? Teilen Sie die Meinung, die auch unser Ex-Kollege Karl-Heinz Strassemeyer in diesen Blog vertrat, dass eine Firma, die nicht eine Gesamtsystemsicht vertritt, also Hardware und Software als Einheit betrachtet, einen Fehler macht? Hat IBM nicht zu lange und zu sehr das von Hardware unabhängige Software-Geschäft unterschätzt? Rettete nicht der von Earl Wheeler aufgebaute und später von Steve Mills geleitete Software-Bereich in den letzten Jahrzehnten die IBM vor dem Bankrott? Wie sehen Sie heute die Beziehung von Hardware und Software und die Zukunft der IBM als Teil der Software-Branche?

EV: Ich verließ 1987 die Systementwicklung und das Böblinger Labor und übernahm in der IBM Deutschland als Direktor die Planungs- und Softwareaktivitäten. Das schloss das Program Product Development Center (PPDC) in Sindelfingen mit ein. Dieses nahm organisatorisch eine Zwitterstellung ein, indem es Softwareprodukte entwickelte, aber nicht wirklich in die Organisation der IBM Software-Produktentwicklung integriert war. Meine Kontakte in die US-Entwicklungsorganisationen und das Corporate Management halfen mir, diese Entwicklungsgruppe weiter auszubauen und den unkontrollierten Wildwuchs von Softwareaktivitäten innerhalb der IBM Deutschland zu straffen.

Ich betrachte aber diesen Wechsel in die IBM Deutschland als meinen größten Fehler in meiner IBM-Laufbahn, da ich mich in einer aufgeblähten, rein durch Vertriebsanreize getriebenen Marketingorganisation wiederfand. Nachdem man mir die Planungsaktivitäten weggenommen hatte, wollte ich die IBM verlassen. Ich besprach dies mit Earl Wheeler im Februar 1990 in Berlin und er bot mir einen Job an, der alle Softwareentwicklungsaktivitäten seiner Organisation in Europa unter meiner Leitung konsolidierte. Dies betraf die Labors in Dublin, Warwick, Wien und das PPDC, das auch weitgehend von ihm finanziert und später als German Software Development Lab (GSDL) in diesen Verbund integriert wurde. Im März 1990 informierte Earl Wheeler in einem kurzen Schreiben den damaligen Geschäftsführer der IBM Deutschland (Hans Olaf Henkel) über diese Organisationsänderung.

Bis zu dem mit meiner Pensionierung verbundenen Ausscheiden aus der IBM Ende 1995 berichtete ich an Earl Wheeler und an seinen Nachfolger Steve Mills. Ich konzentrierte die Aktivitäten der genannten Labors auf Datenbankaktivitäten, Dokumentenmanagement und neu hinzukommend Workflowmanagement. Im Rahmen der Konsolidierungsmaßnahmen unter Lou Gerstner mussten wir in den folgenden Jahren Dublin, Warwick und am Schluss auch Wien schließen und diese Aktivitäten im GSDL konsolidieren. Im Zeitraum von 1990 bis 1995 war übrigens das GSDL die einzige Entwicklungsorganisation innerhalb der gesamten IBM, die wuchs. Besonders unter Steve Mills wurde die Softwareorganisation stark ausgebaut und ohne diese erfolgreiche Organisation hätte es die IBM nie geschafft, sich von einer fast ausschließlich von Hardware getriebenen Organisation in ein durch Orientierung auf Software und Service erfolgreiches Unternehmen umzuwandeln.   

BD: Das Softwarezentrum Böblingen-Sindelfingen (SBS) ist eine Gründung der beiden benachbarten Städte. Obwohl deren Zusammenarbeit sonst oft schwerfällt, hier scheint sie zu klappen. Worauf führen Sie den anhaltenden Erfolg des Zentrums zurück? Welches Profil haben typische Firmengründer? Was ist ihr Geschäftsmodell? Woher kommen die Aufträge? Welche Rolle spielen Hardware-Projekte? Gab es auch Probleme und Misserfolge?

EV: Als ich Ende 1995 mit 63 Jahren aus der IBM ausschied, wurde mir angeboten das SBS aufzubauen, das in einem von der IBM aufgegebenen Laborgebäude für Bankenterminalentwicklung untergebracht war. Diese Organisation sollte in Form eines Vereins, kleine neuzugründende Softwareunternehmen unterstützen und ihnen eine Infrastruktur für deren erfolgreichen Aufbau anbieten. Diese Vorhaben wurde vom Land Baden/Württemberg (unter Erwin Teufel als Ministerpräsident und Dieter Spöri als Wirtschaftsminister) über eine Anfangsfinanzierung unterstützt, wurde in der IHK organisatorisch verankert und vorangetrieben, von Daimler-Benz, HP und IBM als mögliche Projektlieferanten unterstützt. Es erhielt von den Städten Böblingen und Sindelfingen positiven Beistand als Teil ihrer Industrieansiedlungspolitik.

Von Anfang an wurde der Fokus ausschließlich auf die Software-getriebene Serviceentwicklung gelegt und Firmen in den Verbund aufgenommen, die diese Aufgabe entweder direkt oder indirekt wahrnahmen. Außerdem mussten sie willens sein mit anderen Firmenpartnern im SBS-Verbund zu kooperieren. Hardware orientierte Entwicklungen waren dabei nur als Träger für neue Softwaretechnologien interessant. Zusätzlich wurde diesen Firmen in der Projektfindung von in der Region ansässigen Großfirmen wie Daimler, HP und IBM aktiv unterstützt. Diese Auswahlkriterien und die damit verbundene Firmenselektionen wurden rigoros durchgesetzt und Verwässerungen durch Einflussnahme von außen (Kommunen, IHK und politische Gremien) minimiert. Diese Vorgehenswiese war und ist der Schlüssel zum Erfolg des SBS.

Im SBS waren bei meinem Ausscheiden 42 Firmen mit 220 Mitarbeitern angesiedelt. Diese Zahlen wuchsen bis heute auf 110 Firmen mit 750 Mitarbeitern an. Dabei wuchsen einige Firmen so stark, dass sie nur noch ihren Hauptsitz im SBS haben, wie Spirit/21 mit heute 500 Mitarbeitern, oder dass sie aus dem SBS in eigene Gebäude umzogen wie die Compart AG mit heute 200 Mitarbeitern.

BD: Sie waren bzw. sind auch selbst an einer der dort ansässigen Firmen beteiligt. Welche ist das? Was tut sie? Welche Aufgaben haben Sie?

EV; Während meiner Zeit als Leiter des SBS wurde ich von vielen Firmen angesprochen, die mich als Geschäftsführer (CEO), Entwicklungsleiter oder Berater einstellen wollten. Das für mich interessanteste Angebot kam von dem amerikanischen Unternehmen Xybernaut, die in Fairfax, VA, beheimatet war und absoluter Technologie- und Marktführer auf dem Segment des Mobile & Wearable Computing war. Da ich mit meiner Familie nicht nach Amerika gehen wollte, verlegte diese Firma ihre vollständige Entwicklung in eine deutsche Tochter, die im Softwarezentrum angesiedelt wurde und ernannten mich zum Entwicklungschef als Senior Vice President der Xybernaut Corp. Die Übernahme dieser für mich sehr interessanten Aufgabe erforderte, dass ich im Jahr 1999 die Führung des SBS aufgab und mich nur noch dieser Aufgabe widmete.

Dieses Arbeitsgebiet war sehr interessant und auf mein Wissen und meine Erfahrung zugeschnitten. Wir waren an der Vorderfront der technologischen Entwicklung und den Marktgegebenheiten etwa fünf bis zehn Jahre voraus Die Firma Xybernaut hatte nicht die Kapitalkraft um die Zeit, bis ein profitables Geschäft daraus möglich war, zu  überstehen. Als die Mutterfirma 2005 in Insolvenz ging, löste ich die deutsche Tochter aus dieser Firma heraus und übernahm sie als persönlich haftender Eigentümer. Sie heißt teXXmo Mobile Solution GmbH & Co KG. Die Firma arbeitet heute als profitables Unternehmen mit einem guten Ruf auf dem mobilen industriellen Sektor in Europa und ist immer noch im SBS angesiedelt.  

BD: Wer Sie vor 40 Jahren in Ihrem Büro aufsuchte, dem konnte passieren, dass er ins Testlabor geschickt wurde. Dort konnte man Sie dann im weißen Hemd und mit Krawatte hinter einer Maschine liegend finden. Sie gaben gerade einem Techniker Hinweise, der aufgelötete Schaltverbindungen überprüfte. Sind Sie immer noch der Ingenieur, der auch im Alter gerne selber mit Hand anlegt?

EV: Ja, das mir macht mir immer noch Spaß.

BD: Lange nach Beendigung Ihrer aktiven Zeit als Basketballer leiten Sie eine örtliche Basketball-Abteilung. Ist das ein Ausgleich für einen Manager oder ist es die gleiche Tätigkeit, nur mit andern Leuten und anderen Zielen? Demgegenüber muss doch das Schnapsbrennen aus den eigenen Mirabellen zu hervorragenden geistvollen Produkten zu führen. Oder kann nur das Golfspielen sie wirklich entspannen?

EV: In die Leitung der Basketballabteilung wurde ich von alten Basketballkollegen getrieben, da die Gefahr bestand, dass die Abteilung auseinander bricht. Leider habe ich den Eindruck, dass ich das zu gut mache und ich daher nicht wieder richtig aus der Sache herauskomme. Beim Schnapsbrennen als meinem dritten „Standbein“ kommt meine in erster Generation schwäbische Seele zum Vorschein: „Ja nichts verderben lassen!“ ist das Motto. Beim Golfspielen entspanne ich tatsächlich und meine Frau und ich haben gemeinsam viel Spaß dabei.

BD: Herr Vogt, ich danke Ihnen sehr für das ausführliche Interview und wünsche Ihnen weiterhin Erfolg bei all ihren Geschäften.

Zusätzliche Referenzen 
  1. Painke, H.: Forschung und Entwicklung in der IBM Deutschland. 4. Die IBM Laboratorien Böblingen: System-Entwicklung. 2003
  2. Evans, B. O.: The Stumbling Titan. In: P. J. Denning, R. M. Metcalfe: Beyond Calculation. The Next Fifty Years of Computing. 1998

5 Kommentare:

  1. Otto Buchegger aus Tübingen findet:

    Sehr interessant für die Insider (wie auch mich).

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  2. Soeben schrieb Gerhard Schimpf aus Pforzheim:

    Klasse Beitrag, der vieles aus meinem eigenen Berufsleben wieder vor dem geistigen Auge entstehen lässt. Auch als "Fußsoldaten" waren wir tief in diese technologischen Pionierarbeiten involviert. Vielen Dank Ihnen beiden!

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    1. Gerhard Schimpf fügte später hinzu:

      Ich erinnere mich, dass wir als Compiler Entwickler für das Model 20 das Submodel 5 mit großer Erleichterung begrüßten. Erst die gestiegene Perfomanz dieser Maschine machte diesen Compiler sinnvoll benutzbar.Ich erinnere mich an die nächsten Sprünge und kann mich sogar noch erinnern, aus welchem Wort IGAR abgeleitet wurde und warum.

      Ich habe FS miterlebt -- konzeptionell eine Revolution. Nach meinem Wissen wurde es eingestellt, weile die Marketing Leute befürchteten, dass die Kunden den Sprung nicht mitmachen würden. Daher der Entschluss zur Evolution statt zur Revolution. Und die Wandlungen als Mitarbeiter des PPDC und GSDL, die Zeit in der bürokratischen IBM Deutschland.

      Schön, dass sich im Alter so viele Zusammenhänge in dieser Klarheit erschließen und man sich über Dinge freuen kann, die gut gelaufen sind. Und auch darüber, dass heute nichts mehr eine Rolle spielt, über das man sich (engagiert wie man war) geärgert hat. Danke Ihnen beide für den Beitrag, den ich mit Genuss gelesen habe

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  3. I worked in the IBM Böblinger Entwicklungslabor from 1974 until 1986 but never directly with or under Edwin Vogt. The impression I had of him from the periphery was of a man who loved engineering ambitious products, and who could marshal loyalty and engagement from his team to successfully complete complex projects. Those are rare characteristics {based on my continuing 44 years in the business] and I often asked myself what the source was in Herrn Vogt. I decided that it had primarily to do with his love of engineering - that love is beguiling for other like-minded engineers.

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  4. Soeben schrieb Klaus Küspert aus Jena:

    Super interessantes Interview - Danke. Das WZ Heidelberg und das PPDC (unter Vogt) hatten ja auch viel Kontakt, vor allem wir Datenbänkler..

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