Offensichtlich leiden auch Informatikerinnen und
Informatiker manchmal an Selbstzweifeln. Selbstzweifel sind an sich nichts
Schlechtes. Sie bremsen den Dünkel und reduzieren die Gefahr der Selbstüberschätzung.
Warum soll das ein Privileg der Physiker sein? Statt immer nur über die Not
der Physik zu schreiben, will ich heute das mir an sich näher liegende
Thema aufgreifen. Ich muss gestehen, dass ich die in der Überschrift zum
Ausdruck kommende Angst einiger Kollegen bisher nicht allzu ernst nahm.
Über die in
Deutschland geführte Diskussion erfuhr ich zuerst durch einen Bericht des
Kollegen Wedekind, der an dem GI-Fellow-Treffen 2013 in Koblenz teilgenommen
hatte. Der Karlsruher Kollege und frühere GI-Präsident Roland Vollmar habe dort
vorgetragen, dass das Fach Informatik an Hochschulen bald überflüssig sei. Nach
der ‚Vollmarschen These‘ würde die Ausbildung in Informatik immer mehr von
andern Fächern absorbiert. Das gelte sowohl für Hochschulen wie für die Gymnasien.
Eine zweite Art der Diskussion ist eigentlich viel älter. Sie wurde von den
beiden Aachner Kollegen Manfred Nagl und Otto Spaniol in einem Beitrag des letzten
Informatik-Spektrums [1] wieder aufgegriffen. Diese beiden Informatik-Veteranen wurden
durch den Vortrag einer in der Wirtschaft tätigen Kollegin dazu bewogen, sich
mit den Ideen von Nicholas Carr auseinanderzusetzen. Im Folgenden möchte ich
beide Thesen, die Vollmarsche und die Carrsche behandeln, und zwar in der Reihenfolge
zuerst Carr, dann Vollmar.
Carrsche These
Nick Carrs 12 Jahre alte These ‚IT doesn't matter‘ [4] wird
seit 2003 auch in Deutschland
diskutiert. Sie betrifft zwar nicht primär die Ausbildung, sondern vor allem
die betriebliche Rolle der Informatik. Das wirkt sich natürlich auch auf den
Stellenwert der Ausbildung aus. Carr brachte seine These zuerst als affirmative
Aussage, ehe er sie in Buchform darstellte, dann jedoch als Fragestellung ‚Does
IT matter?‘ Nach anfänglicher Unruhe in den USA, hat sich dort diese Diskussion
längst erledigt. Es wird heute angenommen, dass Carr mit seiner These in der
Post-Blasen-Depression befangen war. Außerdem machte er Vergleiche etwa zur
Elektrizität, die für die Informatik nicht ganz zutreffend sind. Wer die
Entwicklung unseres Faches in den letzten 12 Jahren verfolgt hat, weiß, dass die
Weiterentwicklung recht dynamisch war und ihre Bedeutung für Wirtschaft und
Gesellschaft stark zunahm. Nick Carr hatte mit seiner Vorhersage leider danebengegriffen.
In dem Papier der
Aachner Kollegen wird auf einen Beitrag der GI-Vizepräsidentin Simone Rehm [3] Bezug
genommen, in dem sie beleuchtet, wie sehr sich ihre Aufgaben als Leiterin einer
Informatik-Abteilung laufend ändern. Wegen der Verfügbarkeit von fortgeschrittener
Technik im privaten Besitz gerät die betriebliche Informatik in die Defensive. Trotzdem
wird von ihr fachliche Führung erwartet. Umso mehr überrascht es, dass
Carrs These jetzt plötzlich wieder auftaucht und so ausführlich behandelt wird.
Getreu Hegelscher Dialektik wird die Abhandlung in These, Antithese und
Synthese gegliedert. Zur These wird noch hinzugefügt, dass auch Deutschlands
Vorzeigebranche, der Automobilbau, irgendwann bedeutungslos werden wird. Wie
weit das helfen soll, die Situation in der Informatik zu erklären, ist mir ein
Rätsel. Die Antithese lautet: Informatik ist wichtiger denn je. Das ist an sich
nicht falsch. In dem Zusammenhang wirkt die Aussage jedoch als völlig aus der
Luft gegriffen, d.h. ziemlich unbegründet. Was als Synthese angeboten wird, ist für mich relativ enttäuschend. Es wird keinerlei neue Antwort gegeben, keine einzige
konstruktive Maßnahme beschrieben, sondern nur ein vager Appell formuliert.
Darin wird gefordert, mehr in Bildung zu investieren. Nichts ist in Deutschland
irreführender als nach noch höheren Bildungsanstrengungen zu rufen. Jeder, der
das tut – und das sind nicht wenige – verbindet damit nämlich etwas anderes. Im
Zweifelsfall ist es mehr Latein und Griechisch. Es ist noch gar nicht lange
her, als der Englischlehrer Dietrich
Schwanitz uns allen klarzumachen versuchte, was wir als Bildung zu
verstehen hätten. Oder anders ausgedrückt: Das Wort 'Bildung' ist zu abstrakt, um noch etwas Sinnvolles auszusagen.
Zum Informatikverständnis in Deutschland
Als großes Problem der Informatik wird empfunden, dass bei
uns Informatik nicht in eigenen Produkten zu erkennen sei. Sie stecke nur überall
drin. Die einzige Ausnahme seien die ERP-Systeme der Firma SAP. Leider müssten
in Deutschland die meisten Informatik-Absolventen zu Unterrnehmen gehen, die nicht
als Informatikunternehmen angesehen werden. Wie ich in einem früheren
Beitrag schon vor Jahren nachgewiesen habe, erfolgt dies fast immer gegen den
Willen und den Wunsch der Absolventen. Warum dies so ist, und ob dieses
Schicksal unabwendbar ist, ist eine Frage, die mich schon länger beschäftigt.
Wer die Situation in der Informatik mit Industrien
vergleicht, bei denen Produktionskosten dadurch reduziert werden, indem die
Produktion immer in das Land mit den niedrigsten Lohnkosten verlegt wird,
verkennt völlig den Charakter der Informatik. Die Software-Industrie unterliegt
andern Gesetzen und Geschäftsmodellen als die traditionelle Industrie. Unsere
Hardware-Industrie ist völlig von der Software abhängig und wird zumindest von
ihr getrieben. Die beste Software kommt typischerweise daher, wo die Lohnkosten
am höchsten sind. Sie erfordert Kreativität und nicht Produktivität. Es kommt
auf die Art und die Zahl von Erfindungen an und nicht auf die Programmzeilen
pro Stunde. Das letztere ist eine anfangs zwar übliche, heute aber völlig überholte
Sicht. Ich kann dies nicht oft genug sagen.
Ein Entwickler muss überlegen, was es ist, was er oder seine
Bekannten haben möchten. Seit Jahrzehnten muss dabei nicht nur an alle
Unternehmen einer Branche, sondern auch an die Frau oder den Halbstarken auf
der Straße gedacht werden, und das überall auf der Welt. Wer die beste Antwort
hat und diese auch noch schnell in den Markt bringen kann, gewinnt. Alle
zweiten Sieger gehen leer aus. Diese Lektion kann jeder lernen, der will. Er
muss nur bereit sein, erfolgreiche Unternehmen der letzten 20 Jahre zu
studieren. Dass das Silicon Valley eine Art von Durchlauferhitzer für gute Informatik-Ideen
ist, pfeifen längst alle Spatzen von den Dächern. Christoph
Keese, ein Vorstandsmitglied des Axel-Springer-Verlags, den ich in diesem
Blog zu Wort kommen ließ, ist nur einer der vielen Autoren, der dieses Phänomen ausführlich
erklärt. Zufällig brachte dasselbe Heft des Informatik-Spektrums, in dem Nagl
und Spaniol sich äußerten, einen Beitrag der Kollegin Kirstin Kohler [2], die
gerade ein halbes Jahr an der Stanford University verbracht hatte. Sie
monierte, dass bei uns Technik zu wenig geschätzt würde und dass Software als
Produkt in der Lehre nicht vorkomme. Dem ist hinzuzufügen, dass Software als
Produkt ein viel zu enges Konzept ist. Heute machen Dienste, die per Internet
angeboten werden, mindestens so viel von sich reden wie Produkte.
Dass im Hochlohnland Deutschland noch immer
Individual-Software eine große Rolle spielt, ist schlicht ein Anachronismus.
Informatiker, die sich dafür nicht zu schade sind, sollten von der Fachgemeinde
an den Pranger gestellt werden. Nur wer Standard-Software entwickelt, trägt
dazu bei, dass es unserem Land gut geht und dass unsere Branche eine Chance hat
zu überleben. Mit Standard-Software sind hier Produkte oder Dienstleistungen
gemeint, die so konzipiert sind, dass sie potentiell von allen Unternehmen oder
allen Menschen benutzt werden können, die ähnliche Wünsche oder Bedürfnisse
haben. Andere Software zu erstellen, ist eine unverantwortliche Verschwendung
wertvoller menschlicher Fähigkeiten. Dass für die betroffenen Informatikerinnen
und Informatiker ihr Ansehen und ihre Vergütung zu wünschen übrig lässt, ist
die Folge davon, dass das Ergebnis ihrer Arbeit einen zu geringen Wert hat.
Vollmarsche These
Da ich Roland Vollmar nicht selbst gehört hatte, zitiere ich
aus einer E-Mail des Kollegen Hartmut Wedekind vom 17.9.2013:
Herr Vollmar meinte u.a. in fünf
Jahren sei die GI am Ende, weil die Informatik als Fach am Ende sei. Der
Mitgliederschwund wurde beklagt. Informatik sei in fünf Jahren in alle Fächer
hinein evaporiert. Es gibt aber schon eine Archäologie-Informatik.
Donnerwetter! Was die auch alle heute unter Informatik verstehen. Informatik
ist kaum noch eine Wissenschaft. Informatik ist ein „social event“ oder „Informatik
ist ein Bewusstsein“. … Vollmar meinte, wir seien zu erfolgreich gewesen. „Der
Erfolgreiche hat seine Schuldigkeit
getan, der Erfolgreiche kann gehen“ (frei nach Schiller, Die Räuber)
Meine damalige Antwort war – vielleicht etwas zu wenig
reflektiert – aber nicht ganz unzutreffend:
Nicht die Informatik ist
überflüssig, sondern es sind diejenigen Lehrstuhlinhaber, die die Informatik
selbst nicht weiterbringen. sondern die immer noch meinen, man müsste Nutzern
zu allererst 'richtiges Denken' beibringen, ehe sie Computer anfassen dürfen.
In Wirklichkeit geht es mal wieder um die Frage. ob die
Informatik ein Fach mit eigenem Kern ist, den zu beherrschen nicht jeder
Durchschnittsschüler oder Student in der Lage ist. Wenn ein Studienfach als trivial
angesehen wird, dann zieht es auch keinen begabten Nachwuchs mehr an. Trivial heißt
nämlich alltäglich, seicht, nichts Auffallendes mehr. Gelangen (alternde)
Informatik-Professoren zu einer solchen Auffassung über ihr Fach, dann ist das vermutlich
ein Zeichen von Realitätsverlust. Sie haben den Anschluss verloren an das, was
auf ihrem Fachgebiet geschieht. Es tut mir leid, wenn das etwas hart klingt.
Was die Informatik
in Schulen betrifft, ist die in andern europäischen Ländern eingeführte
Zweiteilung zwischen Allgemeinbildung (engl. digital literacy) und Fachbildung (engl. computer science) auch bei uns überfällig. Man sollte endlich trennen zwischen Nutzer- und Entwicklerkompetenz. Es kann sein, dass die Grenze
zwischen beiden Aufgaben sich im Laufe der Zeit verschiebt. Natürlich wäre es
schön, wenn möglichst viele junge Menschen ein Gefühl dafür bekämen, was mit ‚informatischem Denken‘ (engl. computational thinking) gemeint ist.
Statt auf den Unterschied von Theorie und Praxis abzuheben, wäre es sinnvoller
in der beruflichen Ausbildung den Unterschied zwischen originellen Ideen und
schemenhafter Anwendung alten Wissens zu lehren. Gymnasien mag es gestattet
sein, eine Ausbildung zum Konsumenten zu fördern. Die Hochschulen sollten sich
darauf konzentrieren, das Erkennen von Automatisierungsmöglichkeiten zu lehren
sowie deren Umsetzung in nutzbare Lösungen.
Dass Präsident Obama junge Amerikaner dazu überredet,
programmieren zu lernen, mag einigen von uns albern vorkommen. Einerseits
halten wir uns für klüger, andererseits traut sich niemand zu unserer Kanzlerin
vorzuschlagen, für welche Programmiersprache sie bei Schulbesuchen werben
sollte. Ob ein Präsidiumsarbeitskreis der Gesellschaft für Informatik (GI) in der
Lage wäre, diese Frage zu entscheiden, ist fraglich.
Zusammenfassung
Es scheint immer noch zu wenig Wissen darüber zu geben,
welcher Art das Geschäft ist, das wir als Informatik (oder IT) bezeichnen. Wem
das Wort Geschäft missfällt, darf auch Berufsfeld oder Fachgebiet sagen. Wenn
wir uns bezüglich seiner Grundlagen, Erfolgsfaktoren und Risiken nicht stärker
austauschen, besteht die Gefahr, dass junge Menschen schon in der Ausbildung fehlgeleitet
werden. Dass unsere Wirtschaft dadurch Schaden erleidet, ist mehr als nur ein Nebeneffekt.
Zusätzliche Referenzen
- Nagl. M., Spaniol, O.: Wird Informatik zum Allgemeingut und bedeutungslos? Informatik Spektrum 38,1 (2015), 31-36
- Kohler, K.: Nerds als Helden – Ein wenig mehr Silicon Valley in Deutschland wäre schön! ibidem, 37-40
- Rehm, S.: Neulich in der Kantine. Informatik Spektrum 35,3 (2012), 223-224
- Carr, N. G.: IT doesn’t matter. Harvard Business Review, Mai 2003, 5-12
Soeben schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
AntwortenLöschenJa, das ist mein Verdacht schon lange ...
Darauf folgte ein kurze Klarstellung:
LöschenFrage: Bei Ihrem Kommentar ist mir nicht klar, ob er sich auf die Überschrift bezieht oder auf die Zusammenfassung. Ich nehme letzteres an.
Antwort Buchegger: Meine Bemerkung bezog sich auf die provokante Überschrift. Sie sollte wohl etwas neugierig machen. Aber meine Haltung dazu kennen Sie doch längst.
Gestern schrieb Manfred Nagl aus Aachen:
AntwortenLöschenAuch für uns gilt, dass es manchmal sinnvoll ist, eine Diskussion zu führen, auch wenn sie einem überflüssig vorkommt. Informatik ist nach wie vor wichtig. Es gibt aber doch einige Tendenzen in der Entwicklung, die uns nicht gefallen können: Basissoftware kommt heute hauptsächlich von amerikanischen Konzernen. Deren Produkte sind z.T. miserabel. Ich ärgere mich jeden Tag über Microsoft u.a. Es scheint aber hierzulande niemanden zu geben, der es besser kann oder wenigstens versuchen will, es besser zu machen. Deshalb ist eine Aussage des Aufsatzes, dass uns doch wenigstens die Anwendungssoftware in technischen Produkten bleiben sollte. Sollte Google und Tesla und andere Erfolg haben, so ist auch dies gefährdet.
Ihren Aussagen über Individual-Software stimme ich in der krassen Form nicht zu, auch nicht denjenigen über die Unmöglichkeit des Outsourcing von Software, denn es geschieht doch in großem Stil (s. z.B. China), natürlich mit der Gefahr für die westlichen Länder. Den Aussagen über die mangelnde Wertschätzung von Produkten, Unternehmertum und unserem Abstand hiervon in der Lehre kann ich mich ganz anschließen, ebenso den Aussagen über Informatik in der Schule. Wir versuchen z.Zt. von Informatics Europe etwas auf europäischer Ebene zu letzterem Thema zu tun. Der Zustand in Deutschland ist aber nach 35 Jahren Problembehandlung oder besser Problemverschleppung in der Tat schlichtweg nicht zu verstehen.
Es ist richtig, dass der konstruktive Teil unseres Aufsatzes hätte umfassender sein können. Aber geht es dann noch zum Thema "Informatik wird bedeutungslos?" oder eher zum Thema "Was haben wir in Deutschland verschlafen und tun es noch?"
NB (Bertal Dresden): Wenn man eine Idee schon öfters vorgetragen hat, ohne Gehör zu finden, überspitzt man schon mal. Nur einen Punkt möchte ich klarstellen: Ich hatte nichts über Outsourcing gesagt. Es kann dies jedoch aus meiner Bemerkung geschlossen werden, dass nützliche Software meist aus Hochlohnländern kommt. Ich habe nichts gegen eine Verlagerung in Billiglohnländer, wenn dies Sinn macht. Bei Software ist dies nur dann der Fall, wenn sie nicht für den Unternehmenserfolg wichtig ist. Außerdem gilt: Wer mit Software Geld verdienen will, der darf das Wirtschaftsgut Software nicht entwerten, indem er es verschleudert oder verschenkt. Diese Haltung war kennzeichnend für die Frühzeit der Hardware-Firmen (wie IBM) und viele Anwender, sie ist es wieder für heutige Werbevermittler (wie Google).
Soeben schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
AntwortenLöschenWenn man in die Zukunft schaut, denkt man gerne in Analogien, in ähnlichen Entwicklungen. Wenn wir z.B. wissen wollen, wie es in Deutschland im Jahre 2020 aussieht, schauen wir gerne in die USA. Die „women’s lib“ z.B., die heute auch gesetzlich bei uns hochkommt, gab es in den USA schon vor 50 Jahren. Aus „history“ wurde „herstory“, aus einem Präfix so ein Possessivpronomen. Ebenso die Vietnam-Krawalle, die ich in den 60-iger Jahren in Berkeley mitbekam, konnte ich dann Jahre später in Berlin unter der Führung Dutschkes wieder erleben. Also: Am Analogie-Denken, da ist schon was dran, bei einer Projektion in die Zukunft.
Nun schaue ich auf die zukünftige Entwicklung der Informatik und sehe die Entwicklung der Mathematik in den letzten 60 Jahren. Das, was man (ganz im Sinnen Kants) „Reine Mathematik“, also erfahrungsfreie Mathematik nennt, ist an den Hochschulen auf einen kleinen Kern zusammengeschrumpft. Fast alle betreiben Angewandte Mathematik und hatten insbesondere an den alten Technischen Hochschulen die Ingenieure als Klientel. Die „Reine“ hat sich in die „Angewandte“ verströmt. Es war früher auch so, dass die Ingenieure in Berufungskommissionen für Angewandte Mathematik das letzte Wort haben wollten. Man drohte den Mathematischen Fakultäten mit der Einführung des „Hofnarren-Prinzips“, d.h. wir in den Ingenieur-Fakultäten berufen selbstständig die Mathematiker, die zu uns passen. Punkt! Sonst haben wir nur Ärger, wenn da z.B. einer kommt und im ersten Semester Kategorientheorie bringt, weil so die Beweise eleganter zu führen sind. Das hat es tatsächlich gegeben.
Was schließen wir daraus in Analogie: Ohne Applikationen wird die Informatik wie die Reine Mathematik zu einem Zwerg verkümmern. „There is no need (Not)“, sagt man Englisch ganz einfach. Ob das Hofnarren-Prinzip dann in den Anwendungsfächern der Informatik eingeführt wird, ist eine spannende Frage. Denn das bedeutet das Ende der Mathematischen Fakultäten oder in Analogie das Ende der Informatik-Fakultäten. Die gehen geistig wieder beide dahin, wo sie herkamen, nämlich zurück zur „mater philosophiae“ oder zum Dr. phil. Der Dr. rer. nat oder Dr. Ing. ist dann weg. Da herrscht dann aber noch die Freiheit der Forschung und nicht der Ärger der Notwissenschaften, die sich um den Lebensstandard kümmern müssen. Wenn diese Freiheit dann auch noch verfassungsrechtlich garantiert wird, wie bei den professoralen Forschungsbeamten, ist das etwas Wunderbares für die Stelleninhaber. Paradiesisch schön, wie David Hilbert sagte.
Dass dieser Blog-Eintrag plötzlich 300 zusätzliche Leser hat, verdankt er der Werbung durch einen mir bisher nicht bekannten Blogger aus Karlsruhe.
AntwortenLöschenhttp://www.danisch.de/blog/2015/03/09/spiel-mir-das-lied-vom-tod-der-informatik/#more-10164
Ich habe keinen Einfluss darauf, wie sehr meine Aussagen von einem Leser umgedeutet werden. Zum Glück wurde mein Leser-Boom von Menschen verursacht und nicht von einem Roboter.
Dass die Informatik jemals zu trivial wird (und so an ihr Ende kommen könnte), kann ich mir nicht vorstellen.
AntwortenLöschenSehr wohl aber könnte schon recht bald all das ans Ende seiner Bedeutung kommen, was in Studiengängen gelehrt wird, die Bindestrich-Informatik sind (Wirtschaftsinformatik, Medizinische Informatik, kurz: irgendwelche XY-Informatik).
Man sollte sich öfters klar machen, was Informatik ihrem Wesen nach denn eigentlich ist: eine Kombination aus mathematisch exaktem und ingenieurmäßig kreativem Denken.
Etwas mehr dazu findet sich auf meiner Seite http://greiterweb.de/spw/Informatik.htm (Zum Wesen der Informatik).
Wer darüber nachzudenken beginnt, wie sich die Haltung junger Informatiker von der Haltung jener unterscheidet, die heute aus dem Berufsleben ausscheiden, bekommt unweigerlich den Eindruck, dass der Wert systematischen Software-Engineerings seit der Jahrtausendwende mehr und mehr in Vergessenheit gerät.
AntwortenLöschenGegeben die nahezu nicht mehr verbesserbaren Programmiersprachen (die, ihren Konzepten nach, zudem noch stark konvergieren) und die exzellenten Entwicklungsumgebungen, über die man heute verfügt, beginnt man wohl zu denken, dass Informatik nun frei wäre, sich allein auf die Verfolgung ständig neu aufkommender Hype-Themen zu konzentrieren. Extrem agil und diskussionsfreudig zu sein, würde dann ganz von selbst alle Probleme beseitigen, die man mit klassischen Vorgehensmodellen noch hatte.
Sträflich vernachlässigt wird dabei, auch weiter hartnäckig an einer Methodik zur zuverlässigen Beherrschung nwendungstechnischer Komplexität zu arbeiten.
Hier nämlich scheint die Informatik tatsächlich zu versagen. So jedenfalls suggeriert uns z.B. der nun schon zum zweiten Mal dramatisch misslungene Versuch, das Gehaltsabrechungssystem des Staates Kalifornien auf neue Technologie zu migrieren. Selbst SAP zeigte sich mit der Aufgabe überfordert, auch nur eine Schmalversion der Anwendung — etwa 5% — erfolgreich neu zu implementieren (http://www.sco.ca.gov/21century.html).
Und so vermisse ich an der Wissenschaft Informatik mehr und mehr, dass sie sich zu wenig auf die Aufgaben konzentriert, deretwegen sie eigentlich geschaffen wurde: Erfolgreiche Verarbeitung von Information insbesondere auch dort, wo solche Informationsverarbeitung (und das Beherrschen entsprechender Komplexität) am schwierigsten ist und bisher immer noch auf ebenso große Probleme stößt wie eh und je.
Wenn also jemand argumentiert, die Informatik konzentriere sich heute auf Neben-Kriegs-Schauplätze und vergesse ihre eigentliche Aufgabe, dann fällt es mir schwer, ihm da zu widersprechen.