Flüchtlingsströme sind das dominierende Thema dieses Sommers. Nicht nur
sind die Zahlen größer als je zuvor, auch die Umstände sind teilweise skandalös
und die Aufgeregtheit – nicht nur in den Medien
̶ ist riesig. Jemand fand den Ausdruck Stampede,
der primär von texanischen Cowboys benutzt wird, nicht unangemessen. Anstatt noch
mehr zu dramatisieren, halte ich es für besser zu versachlichen. Dabei muss man
stets die Dinge beim Namen nennen. Man muss zwar ins Detail gehen, aber gleichzeitig
versuchen zu klassifizieren und zu abstrahieren. Mit diesem oft missbrauchten Begriff meine ich, dass
man die Einzelfälle in Bezug zur politischen Weltsituation, den gesellschaftlichen
Möglichkeiten und der Historie setzen muss.
Fluchtgründe
Sieht man die Gesamtsituation an, so kommen gleichzeitig ganz unterschiedliche Fluchtgründe zum
Vorschein. Die Umstände, die Menschen dazu bewegen können, ihre
angestammte Heimat zu verlassen, fallen in zwei Hauptklassen:
- Krieg/Bürgerkrieg:
Afghanistan, Syrien, Irak, Eritrea, Somalia, Dafur
- Verarmung/Arbeitslosigkeit: Westbalkan (Albanien,
Kosovo, Mazedonien, Montenegro, u.a.) und Südsahara (Tschad, Mali, u.a.).
Viele der Afghanen, die nach Deutschland möchten, hatten während des zu
Ende gehenden Krieges mit deutschen Truppen oder Entwicklungshelfern
kooperiert. Deshalb drohen ihnen jetzt vielerlei Bedrängnisse, ja die
Todesstrafe. In Syrien ist die Lage total verworren. Der Aufstand gegen Assad
fand keinerlei Unterstützung von außen bis zu dem Zeitpunkt, als Assad 2013 gegen die
eigene Bevölkerung Giftgas einsetzte. Danach bildet der IS eine dritte Front.
Amerikaner, Jordanier, Engländer und Franzosen, die keine Bodentruppen
einzusetzen bereit sind, versetzen bereits ein Jahr lang Stecknadelstiche aus
der Luft. Der Effekt ist minimal. Die deutschen Waffenlieferungen an die
Kurden im Nordirak verursachten zwar regelrechte Beben in der deutschen Presse,
Politik und Öffentlichkeit. Der Status an der Front hat sich nur geringfügig
verändert. Die Stadt Aleppo wird mehrmals pro Woche von Bombern der Regierung
heimgesucht. Das Vertrauen, dass sich die Situation alsbald ändert, ist in der
Bevölkerung inzwischen verschwunden. Kommt uns der Westen nicht zur Hilfe, bleibt nur noch
die Möglichkeit in den Westen zu fliehen.
Die oft benutzte Trennung zwischen Bürgerkriegs- und Armutsflüchtlingen trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Es liefert dies nur eine rechtliche Handhabe, um Menschen,
die in der gleichen sozialen Situation sind, zu trennen, ja auszusortieren.
Dass dies früher nach rassischer Zugehörigkeit erfolgte, war damals ebenfalls Rechtens. Man ist heute nicht mehr stolz darauf. Die Stimmen, die danach rufen, doch Kranken- und Altenpfleger aus
Serbien ins Land zu lassen, werden überhört. Auch der dauernde Ruf der Industrie nach Facharbeitern,
Ingenieuren und Informatikern verhallt. Dafür ist zufällig der Innenminister oder der Justizminister
nicht zuständig. Es fällt in ein anderes ministerielles Ressort. Da kümmern sich Politiker und Beamte drum, wenn mal sonst nichts ansteht. Man könnte fast meinen, dass der Pflegenotstand in Krankenhäusern und
Privathaushalten nur in Sonntagsreden existiert, nicht aber wirklich. Das
Gleiche gilt für den Fachkräftemangel der Wirtschaft.
Zielländer und Nicht-Zielländer
Folgende Länder scheinen über die größte Anziehungskraft zu verfügen. Die Gruppen sind etwas willkürlich gebildet.
- Anglophon: UK, Irland
- Frankophon: Frankreich, Belgien
- Sonstige:
Deutschland, Schweiz, Niederlande, Luxemburg, Italien, Dänemark, Schweden
Die einzelnen Länder betreiben eine sehr differenzierte (subjektive) Politik, die sich
teilweise nur aus der Geschichte des Landes erklären lässt. Leute, die fordern, dass alle sich gleich verhalten, haben nicht nachgedacht. Macht es gleich, dann wird es besser, ist eine sehr dumme Formel. Aus verschiedenen
Gründen scheinen einige Länder Europas für Flüchtlinge nicht besonders
attraktiv zu sein. Dazu gehören:
- Ehemalige
Ostblockländer: Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bulgarien,
Rumänien. Mazedonien
- Sonstige:
Finnland, Griechenland, Norwegen, Österreich
Wer von einer zu planenden Gleichverteilung über alle EU-Länder redet, stößt
nicht nur auf den Widerstand der betroffenen Länder, er ignoriert auch vollkommen
den Willen und den Wunsch der Flüchtlinge.
Transitländer
Der Weg in ein Zielland kann über eines oder mehrere Transitländer führen.
Beispiele sind:
- Afrika:
Libyen, Tunesien, Ägypten. Marokko
- Asien: Türkei
- Europa: Griechenland, Spanien, Portugal, Bulgarien, Serbien,
Rumänien, Mazedonien, Italien, Österreich
Die meisten der hier genannten europäischen Länder sind bei den Fluchtbewegungen dieses Sommers, die in Asien (Afghanistan, Irak und Syrien) ihren Ursprung haben, meist nur Transitland. Für Bewegungen aus Afrika heraus ist es anders. Auch da tröpfelt der Flüchtlingsstrom stetig weiter. Ins öffentliche Bewusstsein gerät er hin und wieder, vor allem durch eine hohe Anzahl von Toten im Mittelmeer.
Da es sich im Falle der syrischen Flüchtlinge
nicht nur um unbemittelte Personenkreise handelt, wird die daraus sich
ergebende Geschäftschance nicht nur von dunklen Elementen entdeckt. Unsere
Gefängnisse sind fast voll von Reiseagenten, so genannten Schleusern. Es treten jeden Tag neue an ihre Stelle. Wo für
eine Reise von Damaskus nach Frankfurt bis zu 5.000 Euro bezahlt werden, lag
eigentlich ein Geschäft für die Lufthansa und ihre Mitbewerber auf der Straße.
Die juristischen Bedingungen, dass eine Einreise nur per Asylantrag möglich
ist, und Anträge nur von innerhalb der EU aus gestellt werden dürfen, sind die wahre
Ursache für die größte humane Katastrophe dieses Sommers.
Besonderheiten und Erfahrungen
Zwei Länder Europas sind quasi immun
gegen Flüchtlinge: Ungarn und Finnland. Ihre Sprache gehört nicht zur
indoeuropäischen Familie und ist daher für Ausländer nur schwer zu erlernen.
Dasselbe gilt fürs Baskische.
Wie Samuel Huntington in seinem berühmten
Buch ausführte, unterhalten Migrationsströme, wenn sie einmal in Gang
gekommen sind, sich selbst. Die ersten Umsiedler, die Fuß gefasst haben, ziehen
unweigerlich andere nach. Im Falle des Ziellands Deutschland gilt dies für
Syrer, Afghanen und Kurden (aus dem Nordirak).
Die 10.000 Syrer, die letzte Woche tagelang im Bahnhof
von Budapest aufgehalten wurden, freuten sich genau so wie einst die DDR-Bürger
in der Prager Botschaft, als sie endlich weiterreisen durften. Sie wurden in
München von ihren Verwandten und Landsleuten begeistert empfangen. Zwei der
10.000 Flüchtlinge stiegen schon in Wien aus und beantragten Asyl in Österreich [spätere Autoren sprachen von 20]. Diese Episode erklärt meine Einordnung Österreichs als Nicht-Zielland. Gerne korrigiere ich dies.
Hartmut Wedekinds Kommentare zum Flüchtlingsdrama:
Auf meine Frage, was er gegen den
IS tun würde, wenn er einer ‚von denen da oben‘ wäre, antwortete er an
5.9.2015:
Ich würde den IS zunächst mal als Kriegsgegner erkennen, der mit
Flüchtlingen u.a. Krieg führt. Das tut Europa bisher nicht. Isolieren und die
Arabisch-Iranischen Staaten zusammen bringen. Denn die müssen den Krieg „on the
grounds“ führen. Das können glaubhaft nur Muslime. Die Amerikaner können noch
nicht mal eine Koalition schmieden. Und die Europäer versuchen es noch nicht
einmal. Auch bei Palmyra stehen sie da, die Koalition, und schaut zu. Ich glaube nachrichtendienstlich ist Europa in
Sachen IS auch nicht auf der Höhe.
Wie finanziert sich die IS? Kein
Mensch sagt etwas. Wie finanziert sich der Assad? Kein Mensch sagt etwas.
Kriege kosten bekanntlich Geld, viel Geld. Assad wahrscheinlich in alter
Tradition auch über den Russen. Auch die Flüchtlingsströme überraschen uns. Der
Herr de Maiziere fällt von einem Staunen ins andere. Eigentlich unglaublich.
Wir haben völlig verunsicherte, ahnungslose und herumtaktierende Politiker.
Frau Merkel übt sich in Sprüchen. “Man muss alles vom Ende her betrachten“ (Das ist das klassische „et respice finem“). Soll sie es mal! Die weiß ja noch nicht einmal,
wie sie mit ihren Millionen Flüchtlingen über den Winter kommt. Und das Ende
sieht sie überhaupt nicht. Sie schwätzt. Und ihr Europa ist jetzt schon kaputt.
„Tightly coupled“ geht nicht, das ist Kulturschwärmerei. „Loosely coupled“, das
geht mit Mühen. Das sagen die Engländer übrigens auch. Die sind ja faktisch
schon halb draußen. Und wenn sie und
andere jetzt auch noch Quoten aufs Auge gedrückt bekommen, sind sie garantiert
draußen. Jeder weiß das übrigens. „Maastricht kaputt“, „Frankfurt kaputt“,“
Dublin kaputt“, und nun kommt Schengen an die Reihe. Am Schluss heißt es „Rom
kaputt“. Hinein erst mal in die Transferunion, à la France et alii. „No
bailout“, wer hat denn so einen Quatsch je erzählt. Europa ist ein „Reiseleiter
(Schlepper)-Unterstützungsverein“. Was weiß man nachrichtendienstlich über die
Reiseleiter? Fragen über Fragen.
Auf meinen Hinweis, dass Assad
und Putin als Verbündete gelten und dass – laut dem Spiegelautor Christoph
Reuter ̶ der IS von früheren Offizieren Sadam Husseins
gegründet wurde, meinte er am 6.9.2015:
Man zeigt im ideologischen, selbstsüchtigen, eigentlich idiotischen TV
keine Bilder, wie es in Aleppo, Homs und Damaskus humanitär aussieht. Die Trümmer-Katastrophe von Palmyra zeigt man
aber. Man zeigt nur die wahnsinnige
todesmutige Stampede von
Menschen mit Tickets von Schleppern („Reiseleitern“) und die von wem auch immer
aufgebrachten „Germany“-Schreier. Wie es in Damaskus aussieht, sagt keiner. Mein Anas [ein aus Syrien geflohener
Jura-Student, der in der Nähe Darmstadts lebt], der mit seinen Angehörigen täglich telefoniert, sagt ganz
normal.
Mir scheint fast sicher. Die EU krepiert unter den Leuten, die an Realitätsablösung leiden.
Wetten: Hier bei uns war es schlimmer 1945. Stelle Sie sich mal vor, Damaskus
(1.8 Mill Einwohner = Hamburg + ½ Berlin) fällt. Der IS obsiegt und Assad
verschwindet. Und die da oben wollen so weitermachen und von Gipfel zu Gipfle
reisen. Hauptsache: Das TV ist dabei. Mit Damaskus fällt auch Europa als
Organisation. Das ist nicht schwer vorherzusagen, bei den handelnden Figuren da
oben.
Am selben Tag erhielt ich
folgenden Nachtrag:
Stellen Sie sich mal vor, im 30-jährigen Krieg wären Muselmänner hier
in Europa erschienen, um z.B. die Sache der Katholischen Liga unter Wallenstein
zu verteidigen. Ich glaube, der Krieg würde heute noch andauern. Nur Muslime
können das Problem im Nahen Osten lösen, wie wir das Problem des 30-jährigen
Krieges ja auch gelöst haben. Wir müssen uns im Wesentlichen daraus halten und
„containment“ betreiben, auch im Zeitalter des Internets. Aufklärung ist ja
eine Frage der Erkenntnis und nicht der Waffengewalt. Kissinger spricht in
seinem dicken Buch „Weltordnung“ der
aufklärungsfreien, islamischen Welt aber die Fähigkeit zu einem Westfälischen
Frieden ab. Der müsste aber kommen. Wir werden es nicht (mehr) erleben.