An sich sind Technik und Wissenschaft
weltweite Aktivitäten. Landes- oder gar Sprachgrenzen spielen dabei keine
Rolle. Sogar bei der Wirtschaft, insbesondere bei der deutschen Wirtschaft,
scheint dies auch zu gelten. Manchmal zerfallen Wissenschaft und Wirtschaft jedoch
in Inseln oder in Autonomiegebilde. Es ist dies insbesondere dann der Fall, wenn
ideologische Auseinandersetzungen die Politik bestimmen. Das war in Deutschland
von 1933 bis 1945 sehr ausgeprägt, aber auch im Ostblock zwischen 1945 und
1989. Es spielt auch immer dann oder da eine Rolle, wenn bzw. wo Wissenschaft
und Wirtschaft sehr stark von staatlichen Geldquellen abhängig sind. Das
unterscheidet einige europäische Länder von anderen. Der Staatsanteil an der
Wirtschaft ist z. B. in Frankreich
deutlich höher als in Deutschland.
Europa aus Sicht der Informatik
Für einen Informatiker ist Europa alles
andere als ein einheitlicher Kontinent. Es zerfällt in die EU-Länder des
Nordens, die EU-Länder des Südens, Nicht-EU-Länder und Russland. Auch das
Vereinigte Königreich (UK) wird bald eine Sonderrolle spielen. Am höchsten
entwickelt ist Nordeuropa, sowohl technisch wie wirtschaftlich. In diesem Teil boomt die Wirtschaft und damit der Arbeitsmarkt. Was Informatik-Produkte und Informatik-Dienstleistungen
betrifft, ist ganz Europa ein Importgebiet. Die Entwicklung ist in den USA
konzentriert, die Fertigung ist weitgehend nach Asien ausgelagert. China spielt
die Rolle des Hardware-Produzenten, Indien hat große Teile der
Software-Erstellung und -Wartung übernommen.
Europa ist primär ein Konsument, von
wenigen signifikanten Ausnahmen abgesehen. Trotzdem ist der Bedarf an
qualifiziertem Personal hoch. Die anwendenden Industrien machen das Fehlen
einer Informatik-Industrie weitgehend wett. Das Bewusstsein um die
Möglichkeiten der Computernutzung ist weit verbreitet. Die Diskussion um die
Risiken hat einen hohen Stellenwert. Die Ausbildung des Nachwuchses in Europa tut
fast überall so, als ob das Neuschaffen noch immer der Alltag sei.
Was den Arbeitsmarkt und die Organisation in Fachvereinen betrifft,
ging jedes Land Europas im Prinzip eigene Wege. Es gibt nur wenige und nur sehr
lose Kontakte über die Landesgrenzen hinweg. Eine Ausnahme bildet der
deutschsprachige Raum. Die Gesellschaft für Informatik (GI) hat Mitglieder in Deutschland, Österreich und der
Schweiz, sowie enge Kontakte zu den Schwestergesellschaften. Darüber hinaus ist
die Association for Computing Machinery
(ACM) in vielen europäischen Ländern vertreten. Über sie
wird auch fachlicher Kontakt zu amerikanischen Kollegen gepflegt. Im
akademischen Bereich gibt es ebenfalls eine Fachkooperation, Informatics Europe (IE) genannt. Ihr gehören über 100 Universitätsinstitute
an.
Diskussionen in der GI
Innerhalb der GI gibt es immer wieder
Diskussionen über das Selbstverständnis der Informatik und der Informatiker
bzw. Informatikerinnen. Ich hatte im Sommer letzten Jahres auf eine solche Diskussion bei den GI Fellows hingewiesen.
Es ging damals hauptsächlich um die Frage, mit welcher Jahreszahl man den
Anfang der Informatik als Fachgebiet in Verbindung setzen könnte. Gleichzeitig
wurde nach den herausragenden Beiträgen deutschsprechender Informatikerinnen
und Informatiker gefragt. Ich hatte mir damals gewünscht, dass man sich dabei nicht
auf Süd- und Westdeutschland beschränken würde.
Drei GI Fellows, die Kollegen Axel
Lehmann, Peter Lockemann und Jürgen Nehmer,
haben es dankenswerterweise übernommen, diese Initiative
weiterzutreiben. Sie haben einen Aufruf zwecks Mitarbeit an alle GI Fellows
gerichtet. Darin wird ausdrücklich von Mitteleuropa gesprochen. Gemeint sind
allerdings nur Österreich und die Schweiz, nicht jedoch Benelux und Dänemark. Das Ziel sei,
bahnbrechende wissenschaftliche
Erkenntnisse, Erfindungen, Produkte und Initiativen aus dem mitteleuropäischen
Raum zusammenzutragen, die drohen, in Vergessenheit zu geraten, obwohl sie die
Entwicklung unseres Faches und seiner Anwendungen maßgeblich geprägt haben. … [Dazu
gehören] wegweisende Anstöße und Initiativen aus der Informatik, die eine nachhaltige
Wirkung auf Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft hatten.
Es erscheint auch mir sehr
erstrebenswert, Dinge vor dem Vergessenwerden zu retten. Das ist ein anderes
Ziel als das, was in der ursprünglichen Diskussion eine zentrale Rolle zu
spielen schien. Es sollte - so wie ich es verstand - auch um die weltweite Anerkennung von Kolleginnen bzw. Kollegen
oder Kollegengruppen für erbrachte fachliche Leistungen gehen. Dieses Ziel sollte
man auch weiterhin im Auge behalten. Deshalb mache ich im Folgenden einige
Bemerkungen zu Formen der Anerkennung.
Anerkennung in der Wissenschaft
Manchmal klagen Kollegen darüber, dass
es in der Informatik keinen Nobelpreis gibt. Warum das so ist, habe ich in
einem früheren Blog-Beitrag zu erklären versucht. Bei dieser Gelegenheit wies ich
darauf hin, dass Deutschland jedoch über zwei Einrichtungen verfügt, die der Förderung der internationalen
Zusammenarbeit dienen, Schloss Dagstuhl, auch Leibniz-Zentrum für Informatik (LZI)
genannt, und das Heidelberg Laureate
Forum (HLF). Das
eine wird durch staatliche Mittel unterstützt, das andere von einer privaten
Stiftung.
Europäische Preisträger des Turing Awards
Dagstuhl schafft ein Ambiente, das der
Anbahnung und Vertiefung von Kontakten in den produktiven Phasen der
wissenschaftlichen Forschung dient. Das haben Wissenschaftler aus der ganzen
Welt erkannt. Sie müssen nur einen deutschen Kollegen ausfindig machen, der als
Mitveranstalter auftritt. Das HLF dagegen steht nur am Anfang und Ende einer
Karriere bereit. Deutsche sind nur vor Beginn ihrer Laufbahn dabei. Deutschland
kann sich nur durch Studierende vertreten lassen.
Als reguläre Teilnehmer des HLF
qualifizieren erwachsene Informatiker sich nur als Träger des ACM
Turing Awards. Es ist dies der
renommierteste Preis unserer Branche. Unter den rund 50 bisherigen Preisträgern
des Turing Awards sind immerhin zehn Europäer. Seit seiner ersten Vergabe im
Jahre 1966 war noch kein Deutscher dabei, aber auch kein Italiener oder
Spanier. Nebenbei erwähnt, der Preis ist seit zwei Jahren mit 1 Million US$
dotiert.
Wenn ich mich frage, warum dies so ist,
habe ich keine gute Antwort. Offensichtlich haben unsere Wissenschaftler sehr
viel Expertise entwickelt, wenn es darum geht, für sich selbst staatliche
Fördermittel einzuwerben. Es ist jedoch etwas Anderes, über den eigenen
Schatten zu springen und sich für einen Fachkollegen zu engagieren. Sofern man
nur innerhalb eines Landes denkt, ist ja fast jeder Kollege ein Konkurrent. Vielleicht
verfügen andere Nationen mehr als wir über den nötigen Korpsgeist (frz. esprit
de corps)? Ich finde, dass deutsche
Wissenschaftler sich für internationale Preise mindestens so sehr interessieren
sollten wie für deutsche Preise. Denn der Ruhm, den jemand außerhalb seines
Landes erwirbt, fällt auf sein ganzes Heimatland zurück.
Anerkennung in der Technik
In der Technik kommen Leistungen meist als
Innovationen zum Ausdruck. Diese können sich auf Produkte oder Dienstleistungen
beziehen, und zwar auf ihre Konzeption, Entwicklung und Einführung. In der
Informatik haben sie die Form von Hardware, Software oder deren Kombination.
Die Anerkennung erfolgt ̶ sofern man
nicht als selbständiger Unternehmer fungiert ̶ zunächst über
das reguläre Entgeltsystem. Zusätzlich können Prämien und Preise vom
Unternehmen oder der Branche ausgelobt und gewährt werden. Auch die GI vergibt (wieder)
einen Innovationspreis. Es gibt eine weitere Leistung, für die es Behörden mit
Tausenden von Beamten gibt, deren Aufgabe es ist, die Leistung zu prüfen und
ihren Wert zu beurteilen. Gemeint sind Erfindungen. Sie sind selbst noch keine
Innovationen. Sie können aber in solche überführt werden.
Viele Innovationen und Erfindungen schlugen
sich in den technischen Revolutionen nieder, von denen auf unserem Fachgebiet
wahrlich kein Mangel besteht. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass ich
es als große Schwäche der deutschen Informatik-Ausbildung ansehe, dass dieses
Thema entweder völlig tendenziös oder
gar nicht behandelt wird. Informatiker sollten sich nicht zu Ingenieuren
rechnen, wenn sie in dieser Hinsicht nicht wie Ingenieure denken. Das gilt
auch, ja besonders für Software-Ingenieure.
Besonderheiten der beiden Gebiete
Ein wesentlicher Unterschied zwischen
Wissenschaft und Technik wird oft vergessen. Beim Ingenieur oder Informatiker spricht
meist das Werk für sich selbst. Ein Text ist nur ein kümmerliches und fades
Nachschaffen, ein optionales Begleitprodukt. So sieht es auch ein Architekt, ein
Maler oder Bildhauer. Die Beurteilung gebührt dem Werk, nicht dem Begleittext,
der Beschreibung. Das gilt sowohl für das Lob, wie für die Kritik. Maßgebend
ist die Nutzung, nicht die Betrachtung. Fachleute lernen nicht aus Texten und
Büchern, sondern durch das Analysieren anderer Werke.
Im Gegensatz dazu hängen viele
Wissenschaften am Wort. Es ist oft das einzige ihnen zugängliche Medium oder
Ausdrucksmittel. Nur über das Wort erfolgt die Realisierung, die Veröffentlichung.
Nur so wird man wahrgenommen. Es gibt kein anderes Werk, das zählt. Da in der
Mathematik diese Sichtweise vorherrscht, glauben manche Informatiker, sie könnten
sie auch anwenden. Der dadurch verursachte Schaden ist enorm.
Das Reflektieren über Geschaffenes und sein
Tun ist auch für Techniker wichtig. Es ersetzt jedoch das Tun nicht. Nicht ohne
Grund ist unsere Achtung für einige Kollegen auf der obigen Liste so hoch.
Sowohl Dijkstra wie Wirth veröffentlichten immer erst in Zeitschriften oder auf Tagungen, nachdem sie ihre Systeme
gebaut und getestet hatten. Wenn möglich, so ließen sie sogar Nutzer zu.
Hinweis
Die Bewerbungsfrist für Studierende für
das HLF 2017 endet am 14. Februar. Bewerben können sich Studierende in Master-Studiengängen,
Doktoranden und frisch Promovierte.
Die so genannte Staatsquote der Wirtschaft beträgt in Frankreich 58%, Schweden 52%, Deutschland 44%, Japan 38%, USA und China 30%. Im Vergleich dazu unterliegt die Wissenschaftlerquote einer völlig anderen Verteilung. Der Anteil der Wissenschaftler an Tausend Beschäftigten beträgt in Israel 17, Schweden 13, Frankreich und Japan 10, USA 9, Deutschland 8. Finnland liegt bei 16. Das überraschte mich. Zahlen für China fand ich nicht. Diese Zahlen stammen übrigens vom Statistischen Bundesamt, Stand 2013.
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