Montag, 9. Januar 2017

Nochmals Digitalisierung, und zwar aus Sicht von Autoren und Lesern

Über das Thema Digitalisierung wird seit Jahrzehnten heftig gestritten. Meine letzte Behandlung des Themas in diesem Blog war vor fast genau einem Jahr. Sie trug die Überschrift ‚Digitalisierung aus wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und privater Sicht‘. Das war zwar eine bewusst breite Ausrichtung der Betrachtungsweise. Es fehlte dennoch die explizite Erwähnung solcher Aspekte wie Philosophie, Technik  und Gesundheit. Vor einigen Tagen stieß ich mal wieder auf eine eigene Buchveröffentlichung [1] zum Thema Digitalisierung aus dem Jahre 2000. Vereinfacht lässt sich sagen, dass das Buch (von 494 Seiten)  Dieter Fellners und meinen Wissenstand von vor gut 20 Jahren darstellte. Mich reizt ein Vergleich mit meiner heutigen Sicht des Themas. Dabei kommt mir vor allem meine Erfahrung als Leser digitaler Dokumente und als Autor dieses Blog zu Hilfe. Anstatt in die Breite zu schweifen richtet sich der Blick stärker in die Tiefe.

Vorteile digitaler Dokumente

Als erstes wiederhole ich die Definition des Begriffs digitales Dokument aus [1].

Ein digitales Dokument ist eine in sich abgeschlossene Informationseinheit, deren Inhalt digital codiert ist und auf einem elektronischen Datenträger gespeichert ist, so dass er mittels eines Rechners genutzt werden kann.

Die Betonung liegt auf der Struktur der Daten, nicht auf dem Datentyp oder beim Trägermedium. Außer Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln sowie Büchern fallen auch Nachrichten, tabellarische Auflistungen, Vorträge, Fotoalben, Musikstücke und Videos darunter. Es wurden 10 Vorteile gelistet. Der Text ist wörtlich übernommen, abgesehen von einigen Korrekturen infolge der zwischenzeitlich erfolgten Rechtschreibreform.    
  • Benötigte Speicherkapazität: Abhängig vom jeweiligen Aufzeichnungsformat kann Information auf wesentlich kleinerem Raum gespeichert werden, als dies bei analogen Medien der Fall ist. Heute kann bereits ein Datenträger in der Größe einer Postkarte (DVD) den Inhalt von etwa 5000 Büchern (von je 300 Seiten) übernehmen.
  • Schnelligkeit der Übertragung: Hat man ein Dokument lokalisiert, lässt es sich innerhalb von wenigen Minuten übertragen, abhängig von der zur Verfügung stehenden Übertragungskapazität. Man braucht weder selbst zur nächsten Bibliothek zu gehen, noch muss dort jemand das Dokument aus dem Regal oder dem Archiv holen. Sehr oft kann deshalb auf eine langfristige Vorhaltung von Dokumenten (just in case) verzichtet werden, da sie im Falle eines Bedarfs schnell beschafft werden können (just in time).
  • Gleichzeitige Nutzung desselben Exemplars: Ein elektronisches Dokument ist nie ausgeliehen, sofern es entweder online ist oder aber jederzeit vom Offline- in den Online-Zustand gebracht werden kann, d.h. es muss auf einem Rechner angeboten werden, der das Dokument automatisch laden kann. Mehrere 100 Nutzer können es dann gleichzeitig verwenden. Besonders interessant ist dies für Audio- und Video-Aufzeichnungen, bei denen eine Kopie parallel von mehreren Nutzern asynchron genutzt werden kann. Gemeint ist, dass ein Nutzer sich am Ende einer Melodie oder einer Szene eingeschaltet befindet, gleichzeitig mit einem anderen in der Mitte, oder wieder einem anderen am Anfang.
  • Selektive Informationsverteilung: Analoge Medien haben teilweise das Problem, dass sie Information nur in vorgegebenen, relativ großen Einheiten verteilen können. So erscheint ein Heft einer Zeitschrift erst, wenn eine genügende Anzahl von Artikeln vorliegt. Eine Tageszeitung verteilt Stellenanzeigen an alle ihre Leser, gleichgültig, ob sie am Anfang ihres Berufslebens stehen oder dieses bereits hinter sich haben. Digitale Information kann in beliebig kleinen Einheiten und zielgenau verteilt werden.
  • Weltweite Verfügbarkeit: Es spielt keine Rolle mehr, wo auf der Welt sich ein Dokument befindet. Es ist gleich schnell verfügbar, egal, ob es sich jenseits des Atlantiks oder in der lokalen Bibliothek im Stadtzentrum befindet. Es besteht kein Grund, ein Dokument wegen der geographischen Verfügbarkeit zu reproduzieren. 
  • Weiterverarbeitbarkeit: Ein digitales Dokument lässt sich, falls die Codierung und die Formate bekannt sind, auf einem Rechner weiterverarbeiten. Zum Verarbeiten gehören Vergrößern und Verkleinern, Drehen und Wenden, Verbessern und Verdichten, Zerschneiden und Zusammenkleben (die beiden letzten natürlich im übertragenen Sinne).
  • Erschließbarkeit: Ein digitales Dokument kann inhaltlich ganz anders erschlossen werden als ein konventionelles Dokument. Das kann erfolgen entweder basierend auf einer vorgegebenen oder erkennbaren Struktur oder völlig frei, indem der Inhalt Bit für Bit analysiert wird. Auch kann es den Bedürfnissen eines individuellen Nutzers besser angepasst werden, sei es durch Selektieren des Inhalts oder durch akustische Wiedergabe oder die Darstellung in Blindenschrift.
  • Integrierte Darstellung verschiedener Medien: Texte und Graphiken lassen sich mit Bewegtbildern (Videos), Tonaufzeichnungen (Audios) und Computer-Simulationen und -Animationen verknüpfen und das in beliebig kleinen Mengen. Es können auf diese Weise pädagogisch optimale Ausdrucksformen kombiniert werden und auf denselben Geräten gespeichert, übertragen und dargestellt werden.
  • Gemeinsame Lagerung: Die bei analogen Medien erforderliche getrennte Lagerung entfällt. Für einen Vortrag oder eine Vorlesung können außer einem Text auch Videoausschnitte (Videoclips) und Animationen gespeichert werden, von einem Experiment werden außer Temperaturmesswerten auch Geräusche registriert und ein Röntgenbild wird mit gesprochenen Kommentaren versehen.
  • Mögliche Kostenersparnis: An die Stelle der Kosten für das Medium Papier oder der anderen Datenträger (Glas, Metall, Zelluloid), einschließlich ihrer Lagerung und ihres Transports, treten die Kosten für die Informatik-Infrastruktur. Ob eine Kostenersparnis eintritt, hängt davon ab, ob die Infrastruktur-Kosten auch von anderen Anwendungen mitgetragen werden und wie diese Kosten verrechnet werden. Da Bibliotheken meist in teuren Großstadtlagen untergebracht sind, fallen bei ihnen Raumkosten oft sehr stark ins Gewicht.

Nachteile digitaler Dokumente

Auch hier gebe ich zunächst den ursprünglichen Text wieder. Es wurden sechs Nachteile angeführt.
  • Abhängigkeit von technischen Hilfsmitteln: Digitale Dokumente, insbesondere solche in binärer Darstellung, sind für Menschen nicht ohne technische Hilfsmittel zu erstellen und zu nutzen. Diese Abhängigkeit verlangt gewisse Investitionen und Grundkenntnisse, aber auch das Vorhandensein von elektrischer Energie. Die finanziellen Investitionen haben zwar die Tendenz zu fallen oder sich relativ zu anderen Investitionen zu verkleinern. Mit dem Vordringen in neue Nutzergruppen wird jedoch das Ausbildungsproblem größer. Nicht wenige CD-ROMs enden im Schrank oder werden zurückgegeben, weil der Käufer die systemtechnischen Voraussetzungen falsch eingeschätzt hatte oder von ihnen überfordert wurde.
  • Leichte Veränderbarkeit: Ein digitales Dokument ist veränderbar, ohne dass Spuren der Veränderung am Dokument sichtbar sind. Soll eine Veränderung verhindert werden oder sichtbar gemacht werden, müssen bestimmte Vorkehrungen getroffen werden. Manche Autoren sind besorgt, dass absichtliche Veränderungen oder Plagiate ihres Werks in Umlauf geraten können. Die leichte Veränderbarkeit kann auch dazu führen, dass schnell viele (vom Autor selbst verfasste oder tolerierte) Versionen eines Dokuments in Umlauf kommen, die sich nicht mehr sauber auseinanderhalten lassen.
  • Umfang digitaler Dokumente: Gegenüber einem analogen Dokument gleichen Inhalts kann der Umfang des entsprechenden digitalen Dokuments das 10- bis 100-fache ausmachen. Zwar werden Speichermedien immer billiger und Übertragungsleitungen immer leistungsfähiger, dennoch kann es leicht geschehen, dass man ein einzelnes Betriebsmittel überfordert. Insbesondere Multimedia-Dokumente können sehr hohe Anforderungen stellen. Das führt dann zu Staus im Netz oder zu Speicherproblemen bei einem bestimmten Rechner.
  • Gefahr von Beschädigung und Verlust: Da die laufende menschliche Sichtkontrolle nicht möglich ist, kann eine Beschädigung oder gar ein Verlust eines digitalen Dokuments eintreten, den man erst sehr spät festgestellt. Es kann durchaus vorkommen, dass man eine nicht-lesbare oder gar leere Diskette erhält. Auch kann durch unsachgemäße Behandlung oder Lagerung der Inhalt verloren gehen oder unlesbar werden. Die größte Gefahr besteht in dieser Hinsicht bei beschreibbaren Medien. Hier kann es leicht vorkommen, dass aus Versehen der Inhalt modifiziert oder gelöscht wird.
  • Risiken bei Übertragung über offene Netze: Bei Versand von Briefen und anderen Papierdokumenten gibt der Umschlag eine gewisse Sicherheit gegen ein Mitlesen des Inhalts. Im Prinzip kann jeder Teilnehmer alle Nachrichten lesen, die über ein offenes Netz versandt werden. Die Gefährdung kann sich dadurch ergeben, dass Nachrichten mit empfindlichem Inhalt an Nutzer gelangen, die diese Nachrichten überhaupt nicht haben wollten oder an solche Teilnehmer, die mit Absicht fremde Nachrichten anzapfen. Um dies zu verhindern, sind bei offenen Datennetzen erhebliche Anstrengungen erforderlich.
  • Aufwand für Langfrist-Archivierung: Eine langfristige Archivierung erfordert eine laufende Anpassung an die jeweils nutzbaren Technologien und Formate. Wird dies nicht gemacht, kann es sein, dass bereits nach fünf bis sieben Jahren das Dokument nicht mehr lesbar ist. Da von einem digitalen Dokument wesentlich weniger Kopien existieren als von einem gedruckten Dokument, ist auch die Gefahr größer, dass diese Kopien irgendwann nicht mehr zugreifbar sind.

Ergänzungen aufgrund eigener Erfahrungen

Wie oben, so liste ich zuerst weitere Vorteile und dann weitere Nachteile digitaler Dokumente. Ich betone dabei vor allem solche Dinge, die mir persönlich auffielen. Dazu gehört alles, was der Nutzung durch außerhalb einer Großstadt lebende ältere Menschen zugutekommt. Vor allem stehen mir keinerlei Informationsvermittler zur Verfügung. Vorteile analoger Medien ergeben sich aus den Nachteilen digitaler Medien und umgekehrt. Mir fallen mehrere Vorteile ein, die ich laufend nutze. Es mögen dies keine intrinsischen Eigenschaften sein, sondern aus den bereits genannten Vorteilen abgeleitet sein.   
  • Verbesserte Such- und Auswahlmöglichkeit:Digitale Dokumente suche ich nicht nur nach Autor, Titel und Schlagworten. Ich kann direkt nach einzelnen Worten im Text oder im Inhaltsverzeichnis suchen. Ehe ich ein Dokument ganz herunterlade oder gar kaufe, kann ich 20-50 Probeseiten lesen. Ich bin nicht darauf angewiesen, dass das Dokument von jemandem in einem Katalog nachgewiesen wird, sondern kann frei im Internet suchen. Das Dokument nähert sich stückweise dem Leser.
  • Variation von Schriftart, Schriftgröße und Beleuchtung: Viele gedruckte Bücher kann ich heute nur noch mit Lupe unter der Schreibtischlampe lesen. Das gilt insbesondere für alle Formen von Taschenbüchern, also die Billigausgaben. eBücher oder der digitale SPIEGEL, die ich per Tablett lese, sind selbst leuchtend und können vergrößert oder verzerrt werden.
  • Nachträgliche Korrekturen, insbesondere Vorwärtsverweise auf später erschienene Dokumente:  Digitale Dokumente sind lebende Dokumente. Sie sind nicht mit Tinte gezeichnet oder in Stein gehauen. Als Blog-Betreuer kann ich noch nach Wochen Korrekturen machen oder ergänzende Kommentare zulassen. Ich kann einen Jahre alten, früheren Beitrag mit einem Hinweis auf einen neueren Beitrag versehen.
  • Vollautomatisches Aktivieren aller Referenzen: Die klassische Referenz nur mit Autor und Titel kommt mir vor wie ein abgesägter Arm im Vergleich zu den Möglichkeiten eines Links im Internet. Ich schicke nicht mehr jemand auf eine Expedition in kilometerweit entfernte Bibliotheken, sondern ziehe das Dokument wie an einem Seil direkt zu mir.
  • Automatische Übersetzung in andere Sprachen: Dank der Fortschritte in der maschinellen Sprachübersetzung kann ich einen fünfseitigen deutschen Text in einer halben Stunde in passables Englisch übersetzen. Für Französisch benötige ich etwas länger. Die Hauptsache aber ist, der übersetzte Text ist im gleichen Medium (und anderen, so fern ich es will) sofort überall auf der Welt verfügbar.
  • Gleichbehandlung aller Dokumente unabhängig vom Alter: Es hat mich selbst vollkommen überrascht, dass der am häufigsten besuchte Text meines Blogs ein über fünf Jahre alter Beitrag ist. Wer kümmert sich schon um fünf Jahre alte Beiträge in papiernen Zeitschriften oder Büchern. Sie liegen irgendwo angestaubt in Kisten oder Bücherregalen.
  • Nicht abnutzbar durch Vielfachnutzung: Von der Papierausgabe eines meiner Bücher wollte ein Bekannter zwei Exemplare haben. Er möchte das eine Exemplar nämlich lesen (und dabei evtl. grob behandeln) und das andere weglegen, damit es auch nach Jahren noch unbeschadet ist.
  • Tatsächliche Kostenersparnisse für die Nutzer: Es hat länger gedauert als erwartet, bis die möglichen Preissenkungen im vollen Umfang sichtbar wurden. Seit über zwei Jahren besitze ich ein Abonnement (Skoobe = Umkehrung von ebooks) für 9,99 Euro pro Monat, in dessen Rahmen über 10.000 eBücher angeboten werden. Zum Jahresende 2016 kaufte ich neun (9) digitale Lehrbücher bekannter Kollegen für unter 50 Euro. Auch die Informatik-Infrastruktur, die zum Lesen digitaler Dokumente nötig ist, macht rasante Fortschritte. Wie im November 2016 erwähnt, benutze ich einen 37-GIPS-Rechner mit 64 Gigabytes Speicher am Gürtel beim Gang durch die Wohnung.
Die Nachteile digitaler Dokumente kenne ich weniger aus eigener Erfahrung als aus Berichten in den Medien:
  • Mangelndes haptisches Erlebnis: Offensichtlich sind eBücher (noch) nicht populär als Geschenk für ältere Leute. Deshalb lasse ich ausgewählte Beiträge aus meinem Blog als Sammelband auf Papier drucken.
  • Verunsicherung traditioneller Geschäftspartner: Das Jammern von Zeitungsverlegern hält schon seit Jahren unvermindert an. Nur der Axel-Springer-Verlag hat sich umorientiert und macht sein größtes Geschäft mit dem Betreiben von diversen Portalen.
  • Überhandnehmen von Hass, Polemik  und Beschimpfungen: Waren lange Zeit Viren, Trojaner oder Blockierer (DDoS) das Hauptproblem, so sind der schlechte Sprachstil im Netz oder die Falschmeldungen (engl. fake news) heute der Hauptgesprächsstoff. Es besteht sogar Angst, dass der Wahlkampf des Jahres 2017 in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.

Bisher nicht eingetretene Befürchtungen

Der völlige Einbruch der kulturellen Aktivitäten von Autoren und Künstlern ist bisher ausgeblieben. Zwar hat Jaron Lanier, der Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels von 2014, auf die Gefahren hingewiesen,

die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird und wenn Menschen, trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit, auf digitale Kategorien reduziert werden. ... [Es käme darauf an] wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein und der digitalen Welt Strukturen vorzugeben, die die Rechte des Individuums beachten und die demokratische Teilhabe aller fördern.

Die großen Verteiler (also die Dreckschleuderer) seien die wahren Gewinner im Internet und nicht die einzelnen kreativen Schöpfer, beklagt Janier. Insgesamt scheint dies die Produktion von lesenswertem Material (noch) nicht gestoppt zu haben. Nur so ist zu erklären, dass auf Buchmessen jedes Mal mehr Neuerscheinungen vorgestellt werden als im Jahr davor.

Bisher nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten

Die Möglichkeiten, die in digitalen Dokumenten stecken, sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Einer, der diese Meinung vertritt, ist Sascha Lobo. Sein Vorschlag mit dem Namen Social Books (Abk. sobooks) ist nur einer von Vielen. Lobo möchte, dass es bessere Möglichkeiten gibt, Feedback an den Autor zu geben. Außerdem ist er für eine freie Nutzung aller Materialien, weit über das Zitieren hinaus.

Erfahrungen mit Rückwärtsbewegungen

Obwohl ich Bloggen als moderne Publikationsform ansehe, ist ein Großteil des im Blog enthaltenen Materials auch anders veröffentlicht worden. Ein selektiver Nachdruck auf Papier ist hin und wieder reizvoll. Auch bei fachlichen Texten machte ich die Erfahrung, dass Internet und Papier im Grunde verschiedene Medien sind. Sie sprechen verschiedene Menschen an und werden verschieden genutzt. Papierne Bücher sind in allen häuslichen Umgebungen und jederzeit nutzbar und lassen sich leicht verschenken. Digitale Veröffentlichungen stehen schnell und weltweit zur Verfügung und gestatten die Interaktion mit dem Leser. Sie können auch nach der Veröffentlichung geändert oder ergänzt werden. Sie leben einfach – im Vergleich zu dem in Stein gemeißelten oder auf Papier gedruckten Texten. Man kann sehr leicht Bezug nehmen auf eine Vielzahl anderer im Internet verfügbarer Dokumente und Informationen. Beim Zurückgehen auf Papier müssen diese so genannten Links alle entfernt werden. Man ersetzt quasi einen lebenden Organismus durch sein totes Knochenskelett. Aus der Moderne geht es dann zurück in die Papierzeit, die eigentlich  ̶  was die Veränderbarkeit des Datenträgers betrifft  ̶  eine Stein- oder Eisenzeit war.

Trotzdem wirkt eine gebundene Sammlung von Texten anders als die ursprüngliche Folge von separaten Internet-Veröffentlichungen, nämlich durch die geballte Wucht gleichzeitig dargebotener verwandter Beiträge. Vergleicht man jedoch ein eBuch mit einem Papierbuch, dann bleibt außer dem handgreiflichen (haptischen) Eindruck und dem Geruch nicht allzu viel Unterschied bestehen. Es wird zu einer Frage des Geschmacks.

Zum Schicksal eines Buchs

Habent sua fati libelli‘ sagten die Lateiner, wenn sie meinten, dass ein Buch selbst  ein bewegtes Schicksal haben kann, unabhängig von seinem Inhalt. Erschienen war [1] kurz nach Abschluss eines Großprojekts (mit Namen Medoc), bei dem beide Autoren erste Erfahrungen mit multimedialen Dokumenten sammeln konnten. Der Heidelberger dpunkt-Verlag bot das Buch zum Preis von 99 DM an. Der Verlag dachte vermutlich, dass das Thema für Studierende außer Reichweite läge,  dass aber alle Bibliothekare Deutschlands das Buch kaufen würden. Diese beschwerten sich jedoch, dass zwei Informatiker sich einbildeten, Bibliothekaren etwas sagen zu können. Schon der Titel sei eine Provokation. Wir sollten bei unsern Leisten bleiben und das Buch lieber Digitale Informationssysteme nennen. Ein anderer bekannter Heidelberger Verlag, dem das Buch zuerst angeboten worden war,  hielt das Thema nicht für wichtig. Eine große Stuttgarter Buchhandlung ordnete das Buch im Sektor Architektur ein, neben Le Corbusier und Bauhaus.

Referenz:
  1. Endres, A., Fellner, D. W.: Digitale Bibliotheken   ̶   Informatik-Lösungen für globale Wissensmärkte.  2000, S. 16-19

6 Kommentare:

  1. Beim Kongress des Deutschen Beamtenbundes (DBB) gestern in Köln warnte Angela Merkel davor, dass Deutschland zum digitalen Entwicklungsland wird - und zwar wegen eines überzogenen Datenschutzes. In Deutschland müsse man sich von dem Prinzip der Datensparsamkeit verabschieden und sich der Verarbeitung großer Datenmengen für neue Produkte öffnen. Daran messe sich auch die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft.

    AntwortenLöschen
  2. Hartmut Wedekind aus Darmstadt schrieb:

    Ich bin der Auffassung, man sollte einer Vereinfachung wegen "Digitalisierung" aus zwei völlig verschiedenen Aspekten sehen. Einmal der "deskriptive" (beschreibende) Aspekt, wie er z.B. bei der Digitalisierung von Bibliotheken oder bei "Big Data" eine Rolle spielt. Beschreibungen wie in Datenbanken stehen zur Debatte. Die andere Sicht ist der operative Aspekt. Er kommt z.B. zum Tragen, wenn zwei Maschinenteile über ein RFID-Protokoll im Dialog montiert werden sollen. Auch von Menschen, die das alles bewerkstelligen sollen, werden völlig unterschiedliche Fähigkeiten verlangt. Was hat ein RFID-Protokoll mit Big Data zu tun? Nichts, bis auf die Tatsache, dass digitalisiert wird.

    Dieses duale Phänomen haben wir übrigens in der Mathematik auch. Siehe: Paul Lorenzen: Ist Mathematik eine Sprache?

    (https://philpapers.org/rec/LORIME)

    "Computing" ist eben beides: Modellierendes Darstellen (Beschreiben) und operieren mit Symbolen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, das beide Aspekte nichts miteinander zu tun haben und verschiedene menschliche Fähigkeiten verlangen, was eine künftige Ausbildung betrifft und auch Frau Wanka interessieren dürfte. Als Algorithmikerin müsste die Bundesministerin das verstehen.

    AntwortenLöschen
  3. Manchmal erscheint es mir, dass für viele Informatiker das Modellieren ein Selbstzweck ist. Das Operieren wird als banal angesehen und den Praktikern überlassen. In Wirklichkeit kommen auf zwei Modellierer zwei Millionen Operateure. Von allein arbeitenden Modellierern halte ich in der Informatik gar nichts. Anders ist es bei gewissen Künstlern, die ja mit zwei Händen modellieren.

    Wie so oft hilft ein Hinweis auf die Medizin manchen Informatikern ihren eigenen Beruf besser zu verstehen. Der bekannteste Modellierer in der Medizin heißt Gunther von Hagens. Er stellt präparierte Leichen aus und bezeichnet dies sogar als Kunst. Die Operateure, meistens Chirurgen genannt, sprechen selten von Kunst. Von ihnen erwartet man gute handwerkliche Arbeit. Erst einige Schönheitschirurgen wagten diesen Schritt. Fragt man, was wichtiger ist, das Modellieren oder das Operieren. ist die Antwort recht eindeutig.

    AntwortenLöschen
  4. Nach Diskussion mit einem Nürnberger Kollegen stelle ich gerne folgendes klar: Das Thema D ist nur deshalb so ergiebig, weil digitale Computer so tolle Maschinen sind. Früher gab es auch analoge Computer. Sie haben aber das Rennen verloren. Ob Quantencomputer dem analogen Rechnen wieder zu Ansehen verhelfen, weiß ich nicht. Wenn ja, dann glaube ich, dass es eine 5%-Nische nicht überschreiten wird.

    Niemand behauptet, dass jetzt die ganze Welt digital wird. Tiere, Pflanzen und wir Menschen sind auf analoge Kommunikation angewiesen. Um etwas aufzunehmen oder loszuwerden, muss es durch einen A/D- bzw. D/A-Konverter. Auch wenn Organe aus einzelnen Zellen bestehen, sind dies noch lange keine digitalen Größen.

    AntwortenLöschen
  5. Der Kollege aus Nürnberg schrieb: Zellteilung ist ein "digitalisierter" Vorgang. Aus einer Zelle entstehen zwei, das ist abzählbar. Ein ungeborener Mensch (Fötus) oder ein geborener Mensch oder eine Katze oder ein Baum: alles Zellhaufen = digitale Gebilde. Goethes Faust als Ihr geliebtes eBuch auf der Magnetplatte ist eine Ansammlung von Buchstaben und Zahlen, die alle digital codiert wurden. Soll es einem Blinden vom System vorgelesen werden, so braucht es eine Analogisierung = Überführung in analoge Schwingungen -> hörbare analoge Sprache. Sie werden den Diskurs verlieren und eines Tages meine Fahnen küssen.. Beim € sind sie schon deutlich auf der Verliererstraße ;-).

    Meine Erwiderung: Die Repräsentation von Nullen oder Einsen auf einem Magnet- oder Halbleiterspeicher benutzt, ja erfordert Baumaterialen, deren Moleküle kontinuierlich veränderbare Magnetisierungs- bzw. Ladungspotenziale aufweisen. Ob ganz tief, d.h. auf der Ebene von Quanten, die Sache wieder digital wird, ist nicht klar. Hier gibt es zurzeit eine nicht lösbare Ambiguität. Einige Physiker glauben, dass sich der Partikel-Wellen-Streit in (ganz ferner) Zukunft klären wird.

    Was diskret bzw. kontinuierlich ist, ist eine Frage der Auflösung, der Messgenauigkeit. Ein Organ aus Zellen oder ein Sandhaufen aus einzelnen Körnern ist für uns Menschen zwar diskret, also nicht kontinuierlich. Es ist aber nicht leicht, die einzelnen Elemente zu zählen. Bei kontinuierlich erscheinenden Verläufen, kann nur analog (d.h. mit diversen Fremdmaßstäben) gemessen werden. Dass wir da, wo es nötig ist, weiterhin analog messen werden, ist klar. Nur tun wir gut daran, diese Ergebnisse sofort in digitale Werte abzubilden. Bei diskreten Verläufen lassen sich die Finger verwenden, wir digitalisieren sofort. Ob die dabei erhaltenen Werte zu binären oder dezimalen Zahlensystemen organisiert werden, ist sekundär. Es ist dies eine Frage der Kostenoptimierung. Binär ist heute sehr verbreitet, mein erster Rechner war biquinär. Das erinnerte an zwei Hände mit je fünf Fingern.

    AntwortenLöschen
  6. Peter Hiemann aus Grasse schrieb:

    Ich halte die Aussage „Ein ungeborener Mensch oder ein geborener Mensch oder eine Katze: alles Zellhaufen = digitale Gebilde“ für irreführend. Biologen betrachten eine Ansammlung von 8-32 nicht differenzierten Zellen der frühen Embryogenese mehrzelliger Lebewesen als Zellhaufen. Danach differenzieren sich die Zellen. Jede biologische Zelle ist ein unglaublich komplexes dynamisches Gebilde, indem eine unglaubliche Vielfalt biologischer Prozesse abläuft. Eine zentrale 'Programmbibliothek' (genetischer Anweisungen) wird in jede Zelle kopiert und ist entscheidend für alle biologischen Prozesse. Diese 'Programmbibliothek'hat die Bezeichnung 'DNA'. Um den vielfältigen Aspekten und Funktionen menschlicher DNA gerecht zu werden, bedarf es Erkenntnisse aus vielen Perspektiven:

    - Der geometrische Aspekt der DNA Struktur basiert auf physikalischen und biochemischen Prinzipien, die auch mit mathematischen Methoden verstanden werden können.

    - Der programmatische Aspekt der DNA ist der Grund für die Vielfalt der Wunder der Natur, die nur verstanden werden können, wenn man die DNA Struktur als biologisches Programm interpretiert.

    - Der interaktive Aspekt der DNA umfasst die unglaublich komplexen Wechselwirkungen biologisch aktiver Moleküle. Die DNA Struktur ermöglicht die Evolution biologischer Vielfalt (durch Mutation, Reproduktion, Vererbung).

    - Der geistige Aspekt der DNA betrifft die Fähigkeiten, die mittels des Gehirns möglich sind und dem Menschen zu eigenständigem Denken und Verhalten verhelfen.

    Übrigens ist das Gehirn ein Organ, in dem sowohl analoge (Neurotransmitter) als auch digitale (Aktionspotentiale) Methoden zum Einsatz kommen, um Informationsinhalte (Erinnerungen vielfältiger Art) und programmatische Abläufe (Kognition, Körperbewegungen) zu realisieren.
    Computertechnologie (H/W und S/W) eröffnet viele Möglichkeiten, geistig orientierte Prozesse zu modellieren. Die vielfältigen Modellierungen mittels Computern unter dem Begriff 'Digitalisierung' zusammenfassend zu diskutieren, hat sich leider eingebürgert ist aber wenig hilfreich. Für Diskussion aktueller Entwicklungen auf dem Gebiet der Computertechnologie versuche ich, den generellen Begriff 'Digitalisierung' zu vermeiden. Bei Software-Entwicklungen bevorzuge ich den Begriff 'Programmierung'. Da kann man sich kaum verirren. Da 'regiert' die Logik. Bei Hardware-Entwicklungen gibt es keine Gefahr, sich zu 'verirren'.

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.