Stellt
man sich die Frage, ob man Wissenschaft empirisch oder rational betreiben soll,
so scheint es dazu eindeutige Antworten zu geben. Neben der Astronomie, Biologie,
Chemie, Geologie, Geschichte und Medizin ist die Linguistik ein herrliches
Beispiel. Ich bezog fast alles, was ich im Folgenden wiedergebe, aus dem Buch Weltgeschichte der Sprachen von Harald Haarmann (398 S., 2016). Das
Buch müsste in jeder Grundschule verfügbar sein. Solches Wissen kann nämlich
gegen nationale Engstirnigkeit und westliche Voreingenommenheit schützen, wenn
immer dies als erstrebenswert angesehen wird.
Begriff
Sprache
Als
Sprache im Sinne einer menschlichen Leistung gilt ein System von Lauten und
Regeln (Grammatik), verbunden mit einem Wortschatz, das als soziales und kulturelles
Kommunikationsmittel und Identitätssymbol dient. Unterschiedliche Sprachen sind
durch Verständnisbarrieren getrennt oder setzen sich durch eine eigene Schriftform
ab. In früheren Beiträgen dieses Blogs wurde der Begriff Sprache wesentlich
lockerer gefasst. Nicht nur werden Vogelgezwitscher und Bienentänze als Sprachen
bezeichnet, auch Mathematiker und Programmierer bedienen sich dieses Begriffs
für ihre Notationen. Es ist dies eher eine Analogie oder Metapher.
Anzahl
der Sprachen
Es gibt
derzeit rund 6400 Einzelsprachen auf der Welt. Es werden immer noch neue
entdeckt, auch ändert sich die Zuordnung zwischen Population und Sprache
laufend. Tausende ehemals gesprochene Sprachen sind ausgestorben. Neue Sprachen
entstehen fast immer durch Abspaltung von einer vorhandenen.
Sprachenanzahl nach
Weltregionen
Besonders
auffallend ist die Insel Papua-Neuguinea mit rund 850 Sprachen. Die größte
Fläche mit den wenigsten unterschiedlichen Sprachen ist der Norden Sibiriens.
In Australien sind nur die Sprachen der Ureinwohner gezählt, nicht das Englisch
der Einwanderer. Viele Sprachen werden nur von wenigen Tausend Menschen
gesprochen, einige sogar nur von Hunderten. Weniger als fünf Prozent der
Sprachen haben mehr als eine Million Sprecher. Diese können in einer Region
zuhause sein oder aber über die Welt verbreitet leben wie im Falle der
Kolonialvölker (Englisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch).
Die
Erforschung der Sprachen erfolgte seit Jahrhunderten durch Methoden der
Linguistik. Bei den verschrifteten Sprachen kam die Archäologie zu Hilfe. In
jüngster Zeit betätigen sich auch Genetiker. Sie können Wanderbewegungen von
Populationen über Jahrtausende hinweg identifizieren.
Entstehung
und Typisierung von Sprachen
Man
nimmt an, dass die heutigen Sprachen einen vierstufigen Prozess durchliefen: (1) Entwicklung
akustischer Signale und Interjektionen (2) einfache Wortgebung der Umgebung (3) Beschreibung
einer Vielzahl von Dingen und Ereignissen (4) Herausbildung komplexer Wort- und
Satzstrukturen. Ein-Wort-Sätze wurden zur Ausnahme.
Ein
Wortschatz kann wenige Hundert Worte umfassen aber auch nahezu eine Million
(wie das Oxford-Englisch). Die
beliebtesten Wortfolgemuster sind Subjekt-Objekt-Verb (SOV) und Subjekt-Verb-Objekt
(SVO). Abweichungen (OSV, OVS ) sind sehr selten, aber möglich. Die Linguistik
unterscheidet meist vier Sprachtypen (a) flektierend, d.h. beugend, (b) agglutinierend,
d. h. anklebend (c) isolierend und (d) inkorporierend. Eine andere Unterteilung
spricht von synthetisch versus analytisch.
Sprachen
mit starker Beugung tendieren oft dazu diese aufzugeben. Das Beispiel ist
Englisch, das in vieler Hinsicht eine Vereinfachung des Deutschen darstellt
(keine Kasusbildung außer für Genitiv, keine Konjugation außer für dritte
Person). Unverkennbar ist der Trend zur Isolierung, wie er für das Chinesisch
typisch ist (Beispiel ‚Haus der Eltern‘ anstatt ‚Elternhaus‘), so wie die
Verbreitung analytischer Formen (‚mucho grande‘ anstatt ‚grandissimo‘). Bei der
Benutzung nimmt die Komplexität einer Sprache eher ab als zu.
Die ersten
Grundsprachen sind offensichtlich erst gegen Ende der Eiszeit, also vor 15.000
Jahren, entstanden. Der jeweilige Wortschatz reflektiert die Lebenswelt der
Sprecher. Körperteile und Familienbeziehungen stehen überall im Vordergrund.
Bei Farben sind ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ Gemeingut. Alle anderen Farbnuancen sind in
ihrer Kennzeichnung variabel. Dass Samen viele Namen für Schnee und Rentier
haben, hat denselben Grund wie die vielen Brot- und Wurstsorten im Deutschen.
Bekannte
Einzelsprachen und Sprachfamilien
Als
besonders alte Sprachen gelten das Baskische, das Ainu in Japan, einige
sibirische Sprachen, sowie das Khoi der Buschmänner in Südafrika. Die heutigen
Basken gelten als direkte Nachfahren der Cros Magnons. Baskisch ist vorrömisch,
ja vorindogermanisch ähnlich wie Etruskisch, Rätisch, Minoisch, Phönizisch,
Hebräisch und Koptisch. Einige alte Sprachen verfügen über die typischen Schnalzlaute,
so das Khoi der Buschmänner.
Verbreitete Sprachfamilien
Neben
den isolierten Einzelsprachen gibt es 64 Gruppen, die als Sprachfamilien
bezeichnet werden. Die austronesische Familie umfasst Madagaskar, Taiwan und die
Oster-Insel im östlichen Pazifik. Die afroasiatische Familie schließt das Altägyptische
und Arabisch ein. Die indoeuropäische Familie erstreckt sich von der iberischen
Halbinsel bis zum Norden Indiens. Dort hat es die dravidischen Sprachen nach
Süden verdrängt.
Indoeuropäisch
Nur
drei der 64 Sprachfamilien entwickelten sich zu Kulturträgern, neben dem
Indoeuropäischen das Afroasiatische und das Sino-tibetische. Das geschah in
unterschiedlichen Perioden, beginnend ab 4000 vor Chr. Als älteste indoeuropäische Sprachen
gelten Mykenisch, Hethitisch und Luwisch (die Sprache Trojas). Als ursprüngliche
Heimat gelten Anatolien (wegen der Verbindung zur Erfindung des Ackerbaus) oder
die Wolgaregion (wegen der Rolle des Pferdes). Die Spuren im Genprofil der
Sprecher verweisen in Richtung der südrussischen Steppe. Das Sprachgedächtnis
reflektiert drei signifikante Umweltereignisse, nämlich die Entstehung des
Bosporus (Hebung des Meeresspiegels, auch Sintflut genannt), die kleine Eiszeit
(um 6000 vor Chr.) sowie die anschließende Erwärmung.
Indoeuropäische
Sprachen
Die indoeuropäisch
sprechenden Kelten waren Ackerbauern. Sie verdrängten die als Viehzüchter lebenden
Iberer in die Randgebiete. Später wurden sie ihrerseits durch Römer und Latein
überlagert. Eine erste Aufspaltung des Indoeuropäischen in Einzelsprachen geschah
um 2500 vor Chr. Man spricht seither von Kentum- oder Satem-Sprachen, nach dem
Wort für die Zahl 100. Im Gebiet des Euphrats entstand das Reich von Mitani.
Von dort aus wurde Indien erreicht. Hier entstanden das Sanskrit sowie rund 200
neuindische Sprachen. Italisch steht für Latein und ein halbes Dutzend
verwandter Sprachen, die nur lokale Bedeutung hatten. Das Slawische wurde von
den Mazedoniern Kyrill und Methodos mit einer heute noch üblichen Schrift
ausgestattet. Zu den in Anatolien verbreiteten indoeuropäischen Sprachen
gehörte das Phrygische. Tocharisch
ist der Name, den Linguisten einer ausgestorbenen Sprache im Tarim-Becken in
Westchina gaben, von der nur schriftliche Hinterlassenschaften bekannt sind.
Geschichte
des Germanischen
Das uns
nahestehende Germanisch enthält zu 38% nicht-indoeuropäische Wörter. Diese entstammen
dem Kontakt mit Sprechern aus anderen Sprachfamilien. Seit etwa 100 vor Chr.
unterscheidet man zwischen Nord-, West- und Ostgermanisch. Das Ostgermanische
ist mit Gotisch gleichzusetzen. Nach der Völkerwanderung war es von allen
germanischen Sprachen einst am weitesten über ganz Europa (einschließlich
Nordafrika) verbreitet und ist heute untergangen. Gotisch war die Sprache der
Reiche von Toulouse und Toledo, aber auch die der Burgunder, Krimgoten und
Gepiden (in Transilvanien). So wie die Vandalen in Nordafrika wurden sie
entweder romanisiert oder später von Arabern oder Franken zurückgedrängt. Im frühen
Mittelalter gab es ein reiches gotisches Schrifttum. Die gotische Wulfila-Bibel
aus Siebenbürgen ist ein bekanntes Beispiel. Als letzter gotischer Autor gilt
Isidor von Sevilla (560-636). Er schrieb in Latein.
Heutige germanische
Sprachen
Das
frühe Deutsch basiert auf Baierisch und Fränkisch. Im 11. Jahrhundert erfolgte
die Besiedlung des heutigen Österreichs durch deutsche Bevölkerungsgruppen. Ab dem
16. Jahrhundert gibt es Neuhochdeutsch auf ostfränkischer Basis mit hessischen
und thüringischen Einflüssen. Martin Luther half bei seiner Verschriftlichung.
Letzeburgisch erhielt 1946 seine eigene Schriftform und wurde 1984 zur
Staatssprache.
Lateinisches
Erbe
Latein ist
die aus der Provinz Latium stammende Sprache, die sich in der Stadt Rom und
später im römischen Reich ausbreitete. Sehr früh trennt sich Schriftlatein vom
Sprechlatein. Marcus Terentius Varro (110-27 vor Chr.) war einer der ersten,
der den Unterschied beschrieb. Viele Römer sprachen zugleich Griechisch. Das
galt als weniger plebejisch. Im Sprechlatein wurden die Flexionen vieler Worte
aufgegeben. Außerdem ersetzten analytischen Formen immer mehr die
synthetischen.
Das
Abdriften in Provinzen schuf Varianten, so wie dies später beim Englischen (USA, Australien) passierte. Die nordfranzösische
Sprechweise des Lateinischen wurde 842 in den Straßburger Eiden dokumentiert.
Das Rätsel von Verona gilt als ältestes Dokument für modernes Italienisch.
Ähnlich wie Martin Luther die Standardisierung des Deutschen förderte, so wurde
von Dante, Petrarca und Bocaccio das Toskanische zur italienische
Literatursprache erhoben. In der Karolingischen Renaissance rettete der Aachner
Hof die lateinische Literatur. Karl ließ alle bedeutenden Werke abschreiben und
verteilen. Latein florierte noch einige Jahrhunderte nach Karl als Amts-, Kirchen-
und Wissenschaftssprache. Johannes Gutenberg druckte ausschließlich Latein. Die
lateinische Schrift wird von vielen Sprachen auf der ganzen Welt benutzt.
Sonstige
Regionen
Die
Träger uralischer Sprachen waren ursprünglich Jäger und Sammler an der
mittleren Wolga. Einige von ihnen zogen um 900 vor Chr. zur Ostsee (Esten,
Finnen) und ans Schwarze Meer (Ungarn). Die nicht-agrarischen
Bevölkerungsgruppen akkultierten sich nach und nach. Am wenigsten taten dies die Samen, die früheren Lappen. Afroasiatisch umfasst
neben Alt-Ägyptisch alle semitischen Sprachen, außerdem Sprachen in Eritrea und im Tschad. Sino-tibetische Sprachen sind seit über 7000 Jahren in Benutzung. Seit
1200 vor Chr. ist die Sprache der Han-Chinesen verschriftet. Zum Altaischen gehören
Mongolisch und die Turksprachen (Uigurisch, Tartarisch, Jakutisch, Türkisch). In
Amerika unterscheidet man drei, sechs oder 58 Sprachgruppen je nach
Abstraktionsgrad. Keine Sprache ist älter als 6000 Jahre.
Geschichte
der Verschriftung
Längst
nicht alle Sprachen haben den Schritt zur Verschriftung geschafft. Schriften
können logographisch (d.h. Bilder für Worte), phonographisch (nach dem
Wortklang) oder alphabetisch sein. Die Sumerer schufen mit der um 2700 vor Chr.
erfundenen Keilschrift ein Kulturexportgut, das der ganze vordere Orient
benutzte. Die ägyptischen Hieroglyphen sind ein Kombination von Konsonantenzeichen und Wortbildern. Die chinesische Schrift ist streng logographisch. Sie wird auch von Japanisch und Koreanisch benutzt. Das älteste vollständige Alphabet ist das von Ugarit in Syrien
aus dem Jahre 1200 vor Chr. Es wurde später von Phöniziern und Griechen
benutzt.
Heutige
Anzahl der Sprecher
Man
unterscheidet zwischen der Zahl der Muttersprachler und der Gesamtzahl der
Nutzer einer Sprache. Oft gibt es erhebliche Unterschiede. So wird Japanisch
fast nur in Japan gesprochen, Englisch aber auf der ganzen Welt.
Heutige Weltsprachen
und ihre Sprecherzahl
Nicht
nur Handel, Tourismus und Wissenschaft bewirken das Erlernen fremder Sprachen.
Es gibt heute mehr Migration zwischen den Sprachräumen als je zuvor. In den USA
sind es die Latinos, in Europa Afrikaner und Asiaten. Das Internet tut ein
Übriges.
Ein
Phänomen besonderer Art sind Pidgin- und Kreolsprachen. Ein Pidgin ist eine Zweitsprache
auf der Basis von Englisch, Französisch, Niederländisch, Spanisch, Deutsch oder
Arabisch. Kreole heißen die Muttersprachen ganzer Völker oder
Bevölkerungsgruppen, die nach besonderen Regeln entstanden sind. Es gibt über
170 Sprachen in diesen beiden Kategorien.
Effekt
des Internets
Vielfach
wird die Meinung vertreten, dass das Internet zu einer Verdrängung von
Nationalsprachen zugunsten eines universellen Englischs führt. Der Eindruck war
in den Anfangsjahren durchaus vorhanden, ist aber längst verflogen. Das
Chinesische drängt mächtig nach vorne. Je alltäglicher die Anwendung, umso eher
benutzt man die Landessprache. Außerdem erleichtert das Internet die
Kommunikation zwischen sprachverwandten Teilnehmern, die durch große Entfernungen getrennt sind.
Nachtrag am 21. 10. 2017
Als frühe sprach- und schriftbasierte Hochkulturen gelten Ägypten (ab 4000 vor Chr.), Sumer und Indus (ab 3000), China und die Hethiter (ab 2000). Nach Griechenland tat sich Rom hervor, das im Mittelalter zuerst von der arabischen und anschließend von der abendländischen Kultur abgelöst wurde. In den Hochkulturen Amerikas (Maya, Azteken) spielten Sprache und die Schrift nur eine periphere Rolle.
Nachtrag am 21. 10. 2017
Als frühe sprach- und schriftbasierte Hochkulturen gelten Ägypten (ab 4000 vor Chr.), Sumer und Indus (ab 3000), China und die Hethiter (ab 2000). Nach Griechenland tat sich Rom hervor, das im Mittelalter zuerst von der arabischen und anschließend von der abendländischen Kultur abgelöst wurde. In den Hochkulturen Amerikas (Maya, Azteken) spielten Sprache und die Schrift nur eine periphere Rolle.
Hans Joachim Huberti aus Kaiserslautern schrieb: Und mir liegt am Wärmsten am ♥️ das Moselfränkische.
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