Freitag, 20. Oktober 2017

Sprachen der Menschheit als Beispiel einer empirischen Wissenschaft

Stellt man sich die Frage, ob man Wissenschaft empirisch oder rational betreiben soll, so scheint es dazu eindeutige Antworten zu geben. Neben der Astronomie, Biologie, Chemie, Geologie, Geschichte und Medizin ist die Linguistik ein herrliches Beispiel. Ich bezog fast alles, was ich im Folgenden wiedergebe, aus dem Buch Weltgeschichte der Sprachen von Harald Haarmann (398 S., 2016). Das Buch müsste in jeder Grundschule verfügbar sein. Solches Wissen kann nämlich gegen nationale Engstirnigkeit und westliche Voreingenommenheit schützen, wenn immer dies als erstrebenswert angesehen wird.

Begriff Sprache

Als Sprache im Sinne einer menschlichen Leistung gilt ein System von Lauten und Regeln (Grammatik), verbunden mit einem Wortschatz, das als soziales und kulturelles Kommunikationsmittel und Identitätssymbol dient. Unterschiedliche Sprachen sind durch Verständnisbarrieren getrennt oder setzen sich durch eine eigene Schriftform ab. In früheren Beiträgen dieses Blogs wurde der Begriff Sprache wesentlich lockerer gefasst. Nicht nur werden Vogelgezwitscher und Bienentänze als Sprachen bezeichnet, auch Mathematiker und Programmierer bedienen sich dieses Begriffs für ihre Notationen. Es ist dies eher eine Analogie oder Metapher.

Anzahl der Sprachen

Es gibt derzeit rund 6400 Einzelsprachen auf der Welt. Es werden immer noch neue entdeckt, auch ändert sich die Zuordnung zwischen Population und Sprache laufend. Tausende ehemals gesprochene Sprachen sind ausgestorben. Neue Sprachen entstehen fast immer durch Abspaltung von einer vorhandenen. 


Sprachenanzahl nach Weltregionen

Besonders auffallend ist die Insel Papua-Neuguinea mit rund 850 Sprachen. Die größte Fläche mit den wenigsten unterschiedlichen Sprachen ist der Norden Sibiriens. In Australien sind nur die Sprachen der Ureinwohner gezählt, nicht das Englisch der Einwanderer. Viele Sprachen werden nur von wenigen Tausend Menschen gesprochen, einige sogar nur von Hunderten. Weniger als fünf Prozent der Sprachen haben mehr als eine Million Sprecher. Diese können in einer Region zuhause sein oder aber über die Welt verbreitet leben wie im Falle der Kolonialvölker (Englisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch).

Die Erforschung der Sprachen erfolgte seit Jahrhunderten durch Methoden der Linguistik. Bei den verschrifteten Sprachen kam die Archäologie zu Hilfe. In jüngster Zeit betätigen sich auch Genetiker. Sie können Wanderbewegungen von Populationen über Jahrtausende hinweg identifizieren.

Entstehung und Typisierung von Sprachen

Man nimmt an, dass die heutigen Sprachen einen vierstufigen Prozess durchliefen: (1) Entwicklung akustischer Signale und Interjektionen (2) einfache Wortgebung der Umgebung (3) Beschreibung einer Vielzahl von Dingen und Ereignissen (4) Herausbildung komplexer Wort- und Satzstrukturen. Ein-Wort-Sätze wurden zur Ausnahme.

Ein Wortschatz kann wenige Hundert Worte umfassen aber auch nahezu eine Million (wie das  Oxford-Englisch). Die beliebtesten Wortfolgemuster sind Subjekt-Objekt-Verb (SOV) und Subjekt-Verb-Objekt (SVO). Abweichungen (OSV, OVS ) sind sehr selten, aber möglich. Die Linguistik unterscheidet meist vier Sprachtypen (a) flektierend, d.h. beugend, (b) agglutinierend, d. h. anklebend (c) isolierend und (d) inkorporierend. Eine andere Unterteilung spricht von synthetisch versus analytisch.

Sprachen mit starker Beugung tendieren oft dazu diese aufzugeben. Das Beispiel ist Englisch, das in vieler Hinsicht eine Vereinfachung des Deutschen darstellt (keine Kasusbildung außer für Genitiv, keine Konjugation außer für dritte Person). Unverkennbar ist der Trend zur Isolierung, wie er für das Chinesisch typisch ist (Beispiel ‚Haus der Eltern‘ anstatt ‚Elternhaus‘), so wie die Verbreitung analytischer Formen (‚mucho grande‘ anstatt ‚grandissimo‘). Bei der Benutzung nimmt die Komplexität einer Sprache eher ab als zu.

Die ersten Grundsprachen sind offensichtlich erst gegen Ende der Eiszeit, also vor 15.000 Jahren, entstanden. Der jeweilige Wortschatz reflektiert die Lebenswelt der Sprecher. Körperteile und Familienbeziehungen stehen überall im Vordergrund. Bei Farben sind ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ Gemeingut. Alle anderen Farbnuancen sind in ihrer Kennzeichnung variabel. Dass Samen viele Namen für Schnee und Rentier haben, hat denselben Grund wie die vielen Brot- und Wurstsorten im Deutschen.

Bekannte Einzelsprachen und Sprachfamilien

Als besonders alte Sprachen gelten das Baskische, das Ainu in Japan, einige sibirische Sprachen, sowie das Khoi der Buschmänner in Südafrika. Die heutigen Basken gelten als direkte Nachfahren der Cros Magnons. Baskisch ist vorrömisch, ja vorindogermanisch ähnlich wie Etruskisch, Rätisch, Minoisch, Phönizisch, Hebräisch und Koptisch. Einige alte Sprachen verfügen über die typischen Schnalzlaute, so das Khoi der Buschmänner.


Verbreitete Sprachfamilien

Neben den isolierten Einzelsprachen gibt es 64 Gruppen, die als Sprachfamilien bezeichnet werden. Die austronesische Familie umfasst Madagaskar, Taiwan und die Oster-Insel im östlichen Pazifik. Die afroasiatische Familie schließt das Altägyptische und Arabisch ein. Die indoeuropäische Familie erstreckt sich von der iberischen Halbinsel bis zum Norden Indiens. Dort hat es die dravidischen Sprachen nach Süden verdrängt.

Indoeuropäisch

Nur drei der 64 Sprachfamilien entwickelten sich zu Kulturträgern, neben dem Indoeuropäischen das Afroasiatische und das Sino-tibetische. Das geschah in unterschiedlichen Perioden, beginnend ab 4000 vor Chr. Als älteste indoeuropäische Sprachen gelten Mykenisch, Hethitisch und Luwisch (die Sprache Trojas). Als ursprüngliche Heimat gelten Anatolien (wegen der Verbindung zur Erfindung des Ackerbaus) oder die Wolgaregion (wegen der Rolle des Pferdes). Die Spuren im Genprofil der Sprecher verweisen in Richtung der südrussischen Steppe. Das Sprachgedächtnis reflektiert drei signifikante Umweltereignisse, nämlich die Entstehung des Bosporus (Hebung des Meeresspiegels, auch Sintflut genannt), die kleine Eiszeit (um 6000 vor Chr.) sowie die anschließende Erwärmung.


Indoeuropäische Sprachen

Die indoeuropäisch sprechenden Kelten waren Ackerbauern. Sie verdrängten die als Viehzüchter lebenden Iberer in die Randgebiete. Später wurden sie ihrerseits durch Römer und Latein überlagert. Eine erste Aufspaltung des Indoeuropäischen in Einzelsprachen geschah um 2500 vor Chr. Man spricht seither von Kentum- oder Satem-Sprachen, nach dem Wort für die Zahl 100. Im Gebiet des Euphrats entstand das Reich von Mitani. Von dort aus wurde Indien erreicht. Hier entstanden das Sanskrit sowie rund 200 neuindische Sprachen. Italisch steht für Latein und ein halbes Dutzend verwandter Sprachen, die nur lokale Bedeutung hatten. Das Slawische wurde von den Mazedoniern Kyrill und Methodos mit einer heute noch üblichen Schrift ausgestattet. Zu den in Anatolien verbreiteten indoeuropäischen Sprachen gehörte das Phrygische. Tocharisch ist der Name, den Linguisten einer ausgestorbenen Sprache im Tarim-Becken in Westchina gaben, von der nur schriftliche Hinterlassenschaften bekannt sind.

Geschichte des Germanischen

Das uns nahestehende Germanisch enthält zu 38% nicht-indoeuropäische Wörter. Diese entstammen dem Kontakt mit Sprechern aus anderen Sprachfamilien. Seit etwa 100 vor Chr. unterscheidet man zwischen Nord-, West- und Ostgermanisch. Das Ostgermanische ist mit Gotisch gleichzusetzen. Nach der Völkerwanderung war es von allen germanischen Sprachen einst am weitesten über ganz Europa (einschließlich Nordafrika) verbreitet und ist heute untergangen. Gotisch war die Sprache der Reiche von Toulouse und Toledo, aber auch die der Burgunder, Krimgoten und Gepiden (in Transilvanien). So wie die Vandalen in Nordafrika wurden sie entweder romanisiert oder später von Arabern oder Franken zurückgedrängt. Im frühen Mittelalter gab es ein reiches gotisches Schrifttum. Die gotische Wulfila-Bibel aus Siebenbürgen ist ein bekanntes Beispiel. Als letzter gotischer Autor gilt Isidor von Sevilla (560-636). Er schrieb in Latein.


Heutige germanische Sprachen

Das frühe Deutsch basiert auf Baierisch und Fränkisch. Im 11. Jahrhundert erfolgte die Besiedlung des heutigen Österreichs durch deutsche Bevölkerungsgruppen. Ab dem 16. Jahrhundert gibt es Neuhochdeutsch auf ostfränkischer Basis mit hessischen und thüringischen Einflüssen. Martin Luther half bei seiner Verschriftlichung. Letzeburgisch erhielt 1946 seine eigene Schriftform und wurde 1984 zur Staatssprache.

Lateinisches Erbe

Latein ist die aus der Provinz Latium stammende Sprache, die sich in der Stadt Rom und später im römischen Reich ausbreitete. Sehr früh trennt sich Schriftlatein vom Sprechlatein. Marcus Terentius Varro (110-27 vor Chr.) war einer der ersten, der den Unterschied beschrieb. Viele Römer sprachen zugleich Griechisch. Das galt als weniger plebejisch. Im Sprechlatein wurden die Flexionen vieler Worte aufgegeben. Außerdem ersetzten analytischen Formen immer mehr die synthetischen.

Das Abdriften in Provinzen schuf Varianten, so wie dies später beim  Englischen (USA, Australien) passierte. Die nordfranzösische Sprechweise des Lateinischen wurde 842 in den Straßburger Eiden dokumentiert. Das Rätsel von Verona gilt als ältestes Dokument für modernes Italienisch. Ähnlich wie Martin Luther die Standardisierung des Deutschen förderte, so wurde von Dante, Petrarca und Bocaccio das Toskanische zur italienische Literatursprache erhoben. In der Karolingischen Renaissance rettete der Aachner Hof die lateinische Literatur. Karl ließ alle bedeutenden Werke abschreiben und verteilen. Latein florierte noch einige Jahrhunderte nach Karl als Amts-, Kirchen- und Wissenschaftssprache. Johannes Gutenberg druckte ausschließlich Latein. Die lateinische Schrift wird von vielen Sprachen auf der ganzen Welt benutzt.

Sonstige Regionen

Die Träger uralischer Sprachen waren ursprünglich Jäger und Sammler an der mittleren Wolga. Einige von ihnen zogen um 900 vor Chr. zur Ostsee (Esten, Finnen) und ans Schwarze Meer (Ungarn). Die nicht-agrarischen Bevölkerungsgruppen akkultierten sich nach und nach. Am wenigsten taten dies die Samen, die früheren Lappen. Afroasiatisch umfasst neben Alt-Ägyptisch alle semitischen Sprachen, außerdem Sprachen in Eritrea und im Tschad. Sino-tibetische Sprachen sind seit über 7000 Jahren in Benutzung. Seit 1200 vor Chr. ist die Sprache der Han-Chinesen verschriftet. Zum Altaischen gehören Mongolisch und die Turksprachen (Uigurisch, Tartarisch, Jakutisch, Türkisch). In Amerika unterscheidet man drei, sechs oder 58 Sprachgruppen je nach Abstraktionsgrad. Keine Sprache ist älter als 6000 Jahre. 

Geschichte der Verschriftung

Längst nicht alle Sprachen haben den Schritt zur Verschriftung geschafft. Schriften können logographisch (d.h. Bilder für Worte), phonographisch (nach dem Wortklang) oder alphabetisch sein. Die Sumerer schufen mit der um 2700 vor Chr. erfundenen Keilschrift ein Kulturexportgut, das der ganze vordere Orient benutzte. Die ägyptischen Hieroglyphen sind ein Kombination von Konsonantenzeichen und Wortbildern. Die chinesische Schrift ist streng logographisch. Sie wird auch von Japanisch und Koreanisch benutzt. Das älteste vollständige Alphabet ist das von Ugarit in Syrien aus dem Jahre 1200 vor Chr. Es wurde später von Phöniziern und Griechen benutzt.

Heutige Anzahl der Sprecher

Man unterscheidet zwischen der Zahl der Muttersprachler und der Gesamtzahl der Nutzer einer Sprache. Oft gibt es erhebliche Unterschiede. So wird Japanisch fast nur in Japan gesprochen, Englisch aber auf der ganzen Welt.


Heutige Weltsprachen und ihre Sprecherzahl

Nicht nur Handel, Tourismus und Wissenschaft bewirken das Erlernen fremder Sprachen. Es gibt heute mehr Migration zwischen den Sprachräumen als je zuvor. In den USA sind es die Latinos, in Europa Afrikaner und Asiaten. Das Internet tut ein Übriges.

Ein Phänomen besonderer Art sind Pidgin- und Kreolsprachen. Ein Pidgin ist eine Zweitsprache auf der Basis von Englisch, Französisch, Niederländisch, Spanisch, Deutsch oder Arabisch. Kreole heißen die Muttersprachen ganzer Völker oder Bevölkerungsgruppen, die nach besonderen Regeln entstanden sind. Es gibt über 170 Sprachen in diesen beiden Kategorien.

Effekt des Internets

Vielfach wird die Meinung vertreten, dass das Internet zu einer Verdrängung von Nationalsprachen zugunsten eines universellen Englischs führt. Der Eindruck war in den Anfangsjahren durchaus vorhanden, ist aber längst verflogen. Das Chinesische drängt mächtig nach vorne. Je alltäglicher die Anwendung, umso eher benutzt man die Landessprache. Außerdem erleichtert das Internet die Kommunikation zwischen sprachverwandten Teilnehmern, die durch große Entfernungen getrennt sind.

Nachtrag am 21. 10. 2017

Als frühe sprach- und schriftbasierte Hochkulturen gelten Ägypten (ab 4000 vor Chr.), Sumer und Indus (ab 3000), China und die Hethiter (ab 2000). Nach Griechenland tat sich Rom hervor, das im Mittelalter zuerst von der arabischen und anschließend von der abendländischen Kultur abgelöst wurde. In den Hochkulturen Amerikas (Maya, Azteken) spielten Sprache und die Schrift nur eine periphere Rolle.

1 Kommentar:

  1. Hans Joachim Huberti aus Kaiserslautern schrieb: Und mir liegt am Wärmsten am ♥️ das Moselfränkische.

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