Samstag, 29. Februar 2020

Warum tun sich in Deutschland wirkende Informatiker schwer weltweit ernst genommen zu werden?

Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass bei uns jemand darüber klagt, dass Deutschland auf den aktuell führenden Gebieten der Technik abgehängt sei oder dies zu werden drohte. Die Selbstzweifel bezüglich seiner Leistungsfähigkeit sind nicht zu überhören oder zu übersehen. Das Fachgebiet Informatik ist nur ein besonders eklanter Fall. Als jüngstes mir bekanntes Beispiel will ich auf den Podcast verweisen, in dem der Journalist Gabor Steingard diese Woche Tim Höttges, den Chef der Deutschen Telekom, interviewte. 

Der Telekom geht es offensichtlich wirtschaftlich sehr gut.  Sie versteht sich als der Digitalisierer Nummer 1 in Deutschland – also als führendes Informatik-Unternehmen. Gerade hat sie in den USA ein Gerichtsurteil erstritten, das es ihr erlaubt den Konkurrenten Sprint zu übernehmen. Ich will nur kurz einfügen: Nachdem ich über 50 Jahre Kunde der Telekom war, habe ich vor einem Jahr meine Geschäftsbeziehungen zur Telekom abgebrochen, weil mir ihre Leistung und ihr Verhalten Kunden gegenüber für mich unzumutbar geworden waren. Da ich auf die bei der Umstellung gemachten Erfahrungen gerne verzichte, werde ich diesen Schritt wohl kaum mehr rückgängig machen. Ehe ich auf die im Titel formulierte Frage eingehe, will ich die Position der Telekom näher skizzieren. Sie ist nicht untypisch für deutsche Unternehmen.

Situationsbeschreibung durch die Telekom

Die Aussagen von Höttges lassen sich wie folgt zusammenfassen. Die erste Halbzeit im Wettbewerb der Digitalisierung sei krachend verloren gegangen. Die Konsumenten wanderten zu Diensten, wie sie von Amazon, Apple, Facebook und Google angeboten werden. Für den zweiten Schritt der Digitalisierung, der die Daten in Clouds sammelt, verfeinert und auswertet, bestehe im Moment eine ähnliche Gefahr. Amazon, IBM und Microsoft sähen wie die möglichen großen Gewinner aus. Kein europäisches Cloud-Angebot scheint zu überleben. Dabei hatten wir Deutsche keine schlechten Startbedingungen, etwa die Datensicherheit betreffend. Zusammen mit den andern Europäern sei Deutschland voll im Abstieg begriffen. Es fehle der Wille, sich anzupassen oder gar neu zu erfinden. Das geschehe jedoch, vor allem in Asien. Südkorea und Israel seien leuchtende Beispiele. Wir pflegten stattdessen unsern Sozialstaat und den heimischen Turbo-Individualismus.

In einer Welt, in der sich die technische Entwicklung angeblich beschleunigt, predigen wir den Menschen die Entschleunigung. Wir warnten vor Erschöpfung. Bei der Angst, überwacht zu werden, mache sich die spezielle historische Erfahrung von Nazi- und DDR-Zeit breit. In politischer Hinsicht herrsche die Meinung vor, der Staat solle sich mit eigenen Investitionen möglichst stark zurückhalten. Eine Grenze von 1-2 % sollte nicht überschritten werden. Umso mehr sollte er sich um die Kontrolle von privaten Investitionen kümmern. Dabei spielten Bürgerinitiativen und Bedenken eventuell Betroffener eine dominierende Rolle.

Fehlendes fachliches Selbstbewusstsein

Das von Höttges gezeichnete Bild muss jeden Informatiker in Deutschland irritieren. Das ist Jammern auf hohem Niveau. Wir Deutschen erleiden passiv unser Schicksal. Entscheiden tun immer andere. Mal sind es die Amerikaner, mal die Chinesen. Wenn es um Informatik-Kompetenz geht, scheinen wir in die Rolle eines Entwicklungslandes abgedrängt zu sein. Zweifellos gibt es Ausnahmen, so zum Beispiel Hasso Plattner. Der genießt in der Fachwelt einen Ruf, der den aller anderen deutschen und vieler ausländischer Kolleginnen und Kollegen in den Schatten stellt. Er gilt sowohl als Techniker wie als Unternehmer als Klasse für sich. Die Definition von MP3 durch die Fraunhofer-Gesellschaft ist sicherlich eine herausragende Leistung, um die uns andere Länder beneiden. 

Über diese beiden Einzelfälle hinaus habe ich mit den Listen von Juni 2011 und Juli 2011 versucht zu zeigen, dass es eine etwa 50 Personen umfassende Leistungsgruppe gibt, die allerdings primär eine landesinterne Ausstrahlung besitzt. Einige von diesen Personen sind inzwischen durch Tod von uns gegangen (Ganzhorn, Jessen, Roux, Tschira), dafür sind neue hinzugekommen. Hinweisen möchte ich, dass der erste Name auf der Juni-Liste der von Andreas von Bechtolsheim ist. Er ist ein Absolvent der TU München, ohne den das Silicon Valley nicht vorstellbar ist.

Geblieben ist seit 2011 die Situation, dass über Erfolge auf dem Fachgebiet Informatik weniger gesprochen wird, als über Misserfolge. Mit daran schuld sind Fachgesellschaften wie die GI. Man könnte meinen, diese sähen ihren zentralen Auftrag quasi in der dauernden Suche nach Pannen und Skandalen, wo angeblich Fachleute versagt haben. Man könnte auch meinen, es sei ihr eigentliches Anliegen, die Ausbreitung und Weiterentwicklung der Informatik als Technik zu verhindern. Nicht geändert hat sich bis heute die Situation, dass die internationale fachliche Anerkennung deutscher Ingenieure und Informatiker zu wünschen übrig lässt. Weder bei der IEEE noch bei der ACM ist die Anzahl deutscher Preisträger den internationalen Zahlen entsprechend. Besonders auffallend ist das bisherige Fehlen eines deutschen Turing-Preisträgers. Nur wenn wir über die Gründe nachdenken, besteht eine Chance, dass sich die Dinge ändern. Dieser Beitrag soll einen Anstoß geben.

Fehlendes technisches Gewicht

Dass es für das Entstehen einer starken Wirtschaft gesunder und leistungsfähiger Unternehmen bedarf, ist wohl kaum zu bestreiten – wenn wir einmal die utopischen Vorstellungen gewisser Idealisten außer Betracht lassen. Dabei bilden diejenigen Unternehmen den Grundstock, die diejenigen Güter fertigen, die es bisher im Markt nicht gibt. Natürlich ist Industrie mehr als nur Entwicklung und Fertigung. Das gilt auch für die Informatik. Die zusätzlichen Dienste einer Branche können bezüglich Umfang und Vielfalt derart wachsen, dass die eigentliche Fertigung zu einer Maus degeneriert. So streben Länder wie England, die Benelux und andere schon seit langem eine Industrie ohne Fertigung an.

Was die Hardware-Seite der Informatik-Fertigung betrifft ist Europa weitgehend industriefrei. Anders ist es bei Software. Nur hat außer SAP kaum jemand internationale Bedeutung. Rein nationale Informatik-Produkte sind jedoch Produkte zweiter Klasse. Man kann sie vergessen. Es ist schlecht für den, der darauf Zeit und Mühe verwendet. Es wäre eine wichtige Aufgabe für die GI, ihre an Hochschulen tätigen Mitglieder zu dieser Einsicht zu verhelfen.

Ignoranz von Marktgeschehen und Marktrelevanz

Unternehmen blühen nur da, wo man sie auch blühen lässt. Sie müssen in der Lage sein, ihr Geschäft aufzubauen und die Liefer- und Vertriebsketten zu formen. Auch muss es Käufer mit Kaufkraft geben, die sich für die angebotenen Produkte und Dienste interessieren. Nur dann lohnt es sich zu investieren, nur dann gibt es ein Geschäftspotential (engl.: business opportunity). Ein Markt kann Güter günstiger anbieten als bisher, er kann sie aber auch verändern oder völlig neugestalten. Die Anzahl unterschiedlicher Güter ist nicht beschränkt. Wie gesagt, das gilt in der Informatik nur für Produkte im Weltmarkt.

Nur der USA-Markt war bisher der Maßstab des Weltmarkts. Inzwischen kommt der chinesische Markt dazu. Deutsche, die als Investoren im Informatik-Markt partizipieren wollen, tun dies über den amerikanischen oder chinesischen Markt als Eintrittsschwellen. Dass es das Marktgeschehen ist, was bestimmt, was an Ideen und Verfahren Relevanz hat, liegt auf der Hand. In den Kopf von Ausbildenden und Lehrerenden scheint diese Einsicht jedoch nicht immer zu gelangen.

Mangel an kreativem und motiviertem Personal

Unternehmen werden zwar von einzelnen Personen oder Familien gegründet, sehr schnell überschreiten sie aber die Grenze, dass eine Familie ihr Unternehmer ohne externes Personal betreiben kann. Es kommt zu der soziologisch so erwünschten Schaffung sich kostenmäßig selbst tragender Arbeitsplätze.

Wer als Informatiker kreativ arbeiten will, ist gut beraten, sich für die Fertigung und Entwicklung von Informatik-Produkten zu interessieren. Er muss sich allerdings einer internationalen Aktivität aschließen. Das kann sowohl im Inland wie im Ausland geschehen. Dabei ist die Entwicklung der Fertigung gegenüber vorzuziehen. Das betrifft vor allem die Software-Seite. Mitarbeiter werden kreativ, sobald sie angehalten werden, vorhandene Produkte zu verbessern. Dies kann ein fester Teil der Ausbildung sein. Vor allem aber muss es als ein Ziel anerkannt sein. Mitarbeiter, die daran kein Interesse haben, fühlen sich schnell überfordert.

Es mag löblich sein, auch Gering- und/oder Minderqualifizierten den Zugriff zu Tätigkeiten in der Informatik zu ermöglichen. Wird dies jedoch übertrieben, wirkt sich das auf die Relevanz und Lebenskraft des Fachgebiets negativ aus.

Mögliche Defizite in der technischen Ausbildung

Der Stand von Technik und Wirtschaft macht es heute unattraktiv alle Mitarbeiter von Grund auf auszubilden. Vor 50 Jahren war dies in der Informatik noch anders. Erst danach gab es staatlich anerkannte Studiengänge. Die Unternehmen können ihren Bedarf heute weitgehend mit Hochschulabgängern abdecken. Dabei ist die Ausbildung, die von deutschen Hochschulen angeboten wird, durchaus vergleichbar zu der Ausbildung an ausländischen Hochschulen.

Wo diese Ausbildung eindeutig Defizite aufweist, ist in der Betonung der Bedeutung der Entwicklung neuer und wettbewerbsfähiger Produkte. Sich nur auf die Benutzung heutiger (oder gar gestriger) Produkte zu konzentrieren, ist eine Verschwendung wertvoller Zeit und wichtiger Ressourcen.

Nicht-adäquate Infrastruktur und gesellschaftliche Anerkennung

Es fehlt in Deutschland an technischer Infrastruktur, etwa an leistungsfähigen Netzen, wie sie die Telekom und ihre Mitbewerber zur Verfügung stellen sollten. Es gibt keine Partei und keinen Politiker, der diese Forderung nicht schon verbreitet hätte.

Die Tätigkeit als Erfinder sollte von der Gesellschaft allgemein, aber insbesondere von technischen Fachgesellschaften und Vereinen, ausdrücklich honoriert werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit und bedarf einer bewussten Vorgehensweise. Ich kenne keine einzige deutsche Hochschule, die sich für Erfindungen und Patente interessiert. Die GI hat vor Jahren versucht, ein von diesem Autor vorgestelltes und dotiertes Konzept zu blockieren bzw. zu verwässern. Ihr stand die Anwendung der Informatik näher als ihre technische Weiterentwicklung.

Ausdehnung der Methode

Die in den vorangehenden Bemerkungen enthaltene leichte Kritik an Fachkollegen lässt sich auf eine größere Gruppe von Personen ausdehnen. Eine entsprecnende Haltung lässt sich bei vielen Menschen beobachten, namentlich bei Deutschen. Sie drückt sich folgendermaßen aus: Zuerst jammern, dann denken. Viel besser wäre es, man würde sich die Zeit nehmen, das Problem zu analysieren und eventuell eine Lösung zu schaffen oder zu besorgen. Danach ließe sich, mit Kenntnis verstärkt, noch intensiv reden und diskutieren.

Donnerstag, 13. Februar 2020

Politische Prostitution in Thüringen und anderswo


Mit politischer Prostitution bezeichnet der Kolumnist der Süddeutschen Zeitung (SZ) Heribert Prantl in einer Video-Botschaft die Vorgänge in Thüringen um die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten dieses Landes. Einige Tage später schrieb Prantl dazu in der SZ unter dem Titel: Die Selbstvergiftung der Demokratie. Hier präzisierte er seine Argumente. Mehrere andere Leitartikel und Diskussionsrunden behandelten das gleiche Ereignis.

Wahlergebnis vom 28.10. 2019

Die in letzten Herbst durchgeführte Landtagswahl hatte folgendes Ergebnis gebracht (in Prozentpunkten):

Linke             31,0%             +2,8
AfD                23,4%           +12,8
CDU              21,7%            -11,8
SPD                8,2%              -4,2
Grüne             5,2%              -0,5
FDP                5,0%             +2,5
Sonstige         5,5%              -1,6

Die Differenzen in der rechten Spalte stellen Vergleiche zur Landtagswahl 2014 dar. Wegen der von der SPD eingefahrenen Verluste fehlten der von Bodo Ramelow, einem Linken, geleiteten Koalition aus Grünen, Linken und SPD die erforderlichen Stimmen. Die CDU hatte sich auf gleiche Distanz von Linken und AfD festgelegt.

Was war danach passiert?

Allen Außenstehenden erschien es, als ob Bodo Ramelow keine Eile hätte. Er schien auf ein Tolerierungsangebot der CDU zu warten. Diese dachte jedoch nicht daran sich zu bewegen. Völlig überrascht schienen alle Beteiligten zu sein, als es der AfD gelang, den Vorsitzenden der FDP-Fraktion, Thomas Kemmerich, zur Kandidatur für das Amt des Ministerpräsidenten zu bewegen.

Am 5. Februar 2020 wurde er zum Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen gewählt. Bereits am Folgetag trat er für eine vorgezogene Neuwahl des Landtages ein und kündigte seinen Rückzug an. Am 8. Februar 2020 trat er offiziell zurück und bekleidet das Amt seitdem nur noch geschäftsführend. Die AfD überlege sich jetzt, ob sie eines ihrer Mitglieder zur Wahl vorschlagen sollte.

Wie wurde es bewertet und von wem?

Erst nach der Wahl in Thüringen wurde deren Bedeutung klar erkannt, sowohl im Inland wie im Ausland. In geheimer Wahl hatte neben seiner eigenen Fraktion und der CDU auch die Fraktion der AfD für den Kandidaten gestimmt. Sofort sprachen Historiker, Politologen und der Zentralrat der Juden von einem „Tabubruch“. Sie erinnerten an die Weimarer Republik, wo Nazis dies öfters gelang.

Bei ‚Hart aber fair‘ diskutierte letzten Montag die versammelte politische Prominenz des Landes darüber, wie man sich an der Stelle von Thomas Kemmerich hätte verhalten müssen. Norbert Röttgen (CDU), Thomas Oppermann (SPD), Cem Özdemir (Grüne), sowie die Politologen Karl-Rudolf Korte und Martina Weisband gaben Ratschläge zum Besten. In maximal einer Sekunde hätte das Nein erfolgen müsse, meinte Kevin Kühnert, der Jungstar der Linken.

Welche Konsequenzen hatte dies?

Fragt man, welche Konsequenzen dieser Akt hatte, so tritt erst das wahre Dilemma unseres Staatsgebildes zutage. Besonders beschämend war die Reaktion der FDP. Ihr Vorsitzender Christian Lindner (*1979) hatte den Schritt aktiv mit vorbereitet. Bekanntlich tut er sich gerne mit klugen Sprüchen hervor. Ein allseits bekanntes Beispiel lautet: ‚Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren‘. Als ihm in diesem Falle Kritik zu Ohren kam, verlangte er eine Vertrauensabstimmung seines Parteipräsidiums. Sie wurde ihm prompt und uneingeschränkt erteilt.

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kamp-Karrenbauer (*1962)  unternahm einen Beschwichtigungsversuch bei den lokalen Parteigrößen in Erfurt. Als dieser erfolglos verlief, schien ihr Maß der Misserfolge überzulaufen. Sie kündigte den Rückzug von allen Parteiämtern bis zum Jahresende an, also in 297 Tagen.

Es ist kein Trost, dass die SPD schon seit über einem Jahr nur interne Personaldiskussionen durchführt. Das neue Führungsduo Norbert Walter-Borjans (*1952) und Saskia Esken (*1961) erinnert an das Märchenpaar Hänsel und Gretel. Es läuft wie blind durch einen großen Wald und zaubert Vorschläge für höhere Steuern aus der Tasche und das in einer Zeit, wo der Staat in Steuerüberflüssen ertrinkt. Die Ideologie hat halt Vorrang und wird bedient, egal ob ein Bedarf besteht.

Was sehe ich dahinter?

Das Bild, das unsere so genannte politische Klasse gerade von sich gibt, ist zutiefst betrüblich. In den beiden oben erwähnten Fällen, mag es weder an Eifer noch an Willen fehlen, um sich für die Gesellschaft zu engagieren. Was fehlt, ist die charakterliche Reife und Kompetenz. Man muss sich fragen, ob unsere Besessenheit für Jugendscharm und Geschlechterbilanz nicht dazu führt, dass andere Maßstäbe zu kurz kommen oder ganz verloren gehen.

Der Fall des derzeitigen FDP-Vorsitzenden erinnert mich an eine Zeit, als seine Vorgänger durch Jagdgesellschaften und Kollegenfeiern von sich reden machten. Die Gespräche und Konsumgewohnheiten, die ans Tageslicht kamen, waren nicht so, dass wir Kinder in sie eingeweiht werden sollten oder konnten. Übrigens gab es diese Phänomene sowohl auf der kapitalistischen wie auf der sozialistischen Seite des Systems.

Wie wird es weitergehen?

Heute Morgen (13.2.2020) las ich, dass Bodo Ramelow weiter damit rechnet, mit CDU-Stimmen zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt zu werden. Da kann ich mich nur wundern oder anders gesagt: Ramelow hofft auf Wunder. Nach weiteren drei Monaten des Wartens wird ihm nur noch eine Wahlmöglichkeit übrig bleiben, nämlich die AfD. In Ruhe und grinsend wartet diese auf ein Angebot, während die anderen Parteien sich zerfleischen und gegenseitig aufreiben. Genau das wäre eine Wiederholung der unglücklichen Weimarer Zeit vor rund 100 Jahren.

Peter Hiemanns Sicht

Nach diesen Hinweisen auf aktuelle Politiker und Sachverhalte überraschte mich Peter Hiemann mit kritischen Gedanken zu einer bestimmten politischen Richtung. Ich füge seinen Essay ‚Liberalität‘ hier ein.


Liberalität

Gedanken  von Peter Hiemann, Grasse

Es hatte sich lange herumgesprochen, dass ein großer Unterschied zwischen verantwortungsvoller Liberalität und Meinungsfreiheit existiert. Während es sich lohnt, unter der Flagge 'Meinungsfreiheit' eigenen Interessen nachzugehen, verlangt 'Liberalität' verantwortungsvolles Handeln.  Meinungsfreiheit nehmen Leute gerne in Anspruch,  wenn sie sich zur Gruppe der Privilegierten zählen. Viele Mitbürger, die  von egozentrischen politischen und ökonomischen Denk- und Verhaltensweisen Nachteile in Kauf nehmen, haben ebenfalls alle Optionen der Meinungsfreiheit, sie haben aber wenig Gelegenheit, liberale Grundrechte in Anspruch zu nehmen. 2020 wird offensichtlich, dass sich die existierende Parteienlandschaft in einem Umbruch befindet, weil sie den Unterschied .zwischen Meinungsfreiheit  und verantwortungsvoller Liberalität missachtet.

In Westdeutschland  gilt die Regel: Um zu Wohlstand zu gelangen, muss man sich bemühen, zu sogenannten 'Mitte' der Gesellschaft zu gehören: 
  • Für die konservativ orientierten Parteien CDU/CSU bedeutet das, sich von sozialistisch und national orientierten Randparteien wie Die Linken oder die AfD gleichermaßen nicht zusammenzuarbeiten.
  • Für die sozialdemokratisch orientierte SPD bedeutet das, 'althergebrachten' Ideale der 'Arbeiterklasse' in der 'Mitte' zu verankern. Dabei übersieht die SPD das viele modern ausgebildete  Mitbürger von der SPD nicht mehr repräsentiert wird..
  • Für die Freien Demokraten bedeutet das, dass Mitbürger verpflichtet sind, unternehmerische Kreativität wahrzunehmen. 

In Ostdeutschland gelten andere Regeln: 1990 entstand in  der DDR während der Zeit der Wende und friedlichen Revolution die politische aktive Gruppe Das Bündnis 90. Sie war ein Zusammenschluss von Vertretern der Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen in der noch existierenden DDR, während der Zeit der Wende und friedlichen Revolution. 1991 wurde die politische Partei Das Bündnis 90, die mit 2,9 Prozent nur im ersten gemeinsamen Deutschen Bundestag aufgrund einer Ausnahmeregelung vertreten war. 1993 ging Bündnis 90 gemeinsam mit Die Grünen in der heutigen Partei Bündnis 90/Die Grünen auf. Die  Partei  Bündnis 90 / Die Grünen sind 2020 vom Umbruch der existierenden Parteienlandschaft nicht betroffen.

In  Westdeutschland erhält die Partei großen Zuspruch – vermutlich weil sie frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannte:
  • Fatale Folgen der Umweltveränderungen durch global agierende, die Ökonomie dominierende Großkonzerne.
  • Gravierende soziologische Veränderungen traditioneller Arbeitsverhältnisse
  • Das Bemühen um die sogenannte 'Mitte' der Gesellschaft ergab politisch immer weniger Sinn
  • Die Vereinigung  von Vertretern West- und Ostdeutschlands vermied innerparteiliche destruktive,  polarisierende Kontroversen

In Ostdeutschland konkurriert Die  Partei  Bündnis 90 / Die Grünen mit Wählern der Partei Die Linken, deren Vertreter vorwiegend idealen Vorstellungen der gescheiterten DDR verhaftet sind und bei der Wiedervereinigung nicht beachtet wurden:

  • Sozial orientierte Einrichtungen wie Politkliniken wurden aufgelöst
  • Die strikte Trennung von Staat und Religion wurde aufgegeben
  • Die Umwandlung volkseigener Betriebe in Privatbesitz begünstigte westdeutsche Unternehmen und führte zu großer Arbeitslosigkeit.
  • Bei Besetzung der Führungskräfte von Unternehmen und Behörden wurden westdeutsche Personen bevorzugt.

Ein wesentlicher Unterschiede zur westdeutschen Gesellschaft betrifft die demokratische Grundeinstellung: Vertrete der Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen der DDR erhielten bei der Wahl zum ersten gemeinsamen Deutschen Bundestag  lediglich 2,9 Prozent der Stimmen. Vermutlich darf man annehmen, dass  2020 viele ostdeutsche Mitbürger der politischen Meinungsfreiheit mehr Bedeutung zumessen als demokratisch orientierter Liberalität. Diese Vermutung ist gewagt, und dürfte Teil existierender Ressentiments zwischen West- und Ostdeutschen sein.   

Wer hätte.es 2020 für möglich gehalten, dass  sich Landtagsabgeordnete der FDP,  und der CDU mit Vertretern der AfD verabreden, um einen Ministerpräsidenten der 5 Prozent Partei FDP zu wählen, der außerstande ist,  eine demokratisch orientierte Regierung zu bilden und sich in die Abhängigkeit des AfD Landesvorsitzenden Björn Hocke begibt, der nachweislich nazistische Vorstellungen vertritt? Und das alles rechtfertigten FDP und CDU mit der Meinungsfreiheit der Landtagsabgeordneten, obwohl es es sich um eine Verletzung politischer verantwortungsvoller demokratischer Liberalität handelte.

Der gewählte FDP Ministerpräsident hat mittlerweile seinen Rücktritt erklärt. Jetzt gilt es  die Bevölkerung sowohl West- als auch Ostdeutschlands demokratische Meinungsbildung zurückzugewinnen.

Es genügt nicht, sich an gewohnten Prinzipien zu orientieren und demokratische Missstände zu kritisieren. Es kommt darauf an, dass sich alle Beteiligen - Politiker, Unternehmer, Journalisten und Bürger - bemühen, konstruktive Vorstellungen demokratischer Denk- und Verhaltensweisen zur Geltung zu bringen.

Die derzeit anstehenden Diskussionen werden spannend sein aber auch Gelegenheiten bieten, autoritären Denk- und Verhaltensweisen (vorwiegend vermittels 'sozialer Medien') Vorschub zu leisten. Donald Trump und Boris Johnson (und auch andere) lassen grüßen.