Mehr Mut: Aufbruch in ein neues Jahrzehnt. So heißt das Buch, mit dem sich der frühere
SPD-Vorsitzende kurz vor der Corona-Zeit zu Wort meldete (2020, 336 Seiten). Die
Aufforderung des Titels ist offensichtlich an die früheren Wähler der SPD
gerichtet. Beklagt wird in dem Buch das Schicksal einer Partei, die es schon
vor der Corona-Krise nicht leicht hatte, ihre Anhänger zu mobilisieren. Ich
befürchte, dass die inzwischen eingetretene Krise die Dinge nur noch
schwieriger machte. Obwohl es mir nicht
leicht fiel, habe ich das Buch nach Ausbruch der Krise − die sich bei uns vielleicht
auf Mitte Februar festlegen lässt – zu Ende gelesen. Es wäre schade, wenn wegen
der Corona-Krise Sigmar Gabriels Gedanken keinerlei Beachtung mehr fänden.
Besorgnis
erregende Szenenbilder
Gabriel
besitzt eine ältere Tochter aus seiner ersten Ehe und zwei jüngere Töchter aus
seiner zweiten Ehe. Angeblich macht er sich Sorgen um die Zukunft der letzteren.
Deutschland sei natürlich zu klein, um eine eigene Stimme in der Welt zu haben.
Europa täte aber nicht genug, um eine gemeinsame Stimme zu bekommen. Man könne
Europa mit der Stadt Venedig nach 1500 vergleichen. Vorher war es ein Zentrum
der Welt, danach ist es ein Freilichtmuseum. Es ist bei Touristen aus Asien
sehr beliebt.
Schlimme
Stürme ziehen sich gerade zusammen (von Corona war wie gesagt noch nicht die
Rede). Die USA unter Donald Trump schotten sich ab. Das Wahlvolk will die endlosen
Kriege beenden (Afghanistan, Irak). Dabei verrät die derzeitige Regierung die liberale
Ordnung, unter der Deutschland und Europa erblühten. Trump scheint zu vergessen,
wer immer die Partner der USA waren. Russland und die Türkei versuchen sich als
Regionalmächte zu etablieren. Nur China geht das Ganze auf der Basis einer
langfristigen Strategie an. Das Schlagwort heißt Neue Seidenstraße. Europa hat
keine andere Wahl, als China als neuen Partner zu sehen und zu akzeptieren. Für
unsere Linke war dies ja schon immer die bevorzugte Lösung.
Erwartungen
an und in Deutschland
Seit
die USA sich zurückziehen, spricht man bei uns davon, mehr Verantwortung zu
übernehmen. Es ist bisher allerdings beim Reden, also beim lauten Denken,
geblieben. Niemand hat sich dazu aufgerafft, etwas zu tun. Der Westen verliert eindeutig
an Einfluss im Nahen Osten. Russland und die Türkei sind die neuen Tonangeber. Was
kann Europa tun? So fragt Gabriel und bietet provisorische Antworten an. Etwa
die Straße von Hormuz sichern. Oder eine G-7-Plus-Gruppe bilden mit Europa,
Kanada, Mexiko, Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland und eventuell Indien.
China sei
der Gewinner des Welthandels, vor Südkorea. Länder mit hoher Wertschöpfung im Außenhandel
seien Deutschland (84%), Frankreich (60%), USA (37%) und Japan (31%). Bei Waren
und Dienstleistungen sind die USA und China Konkurrenten, bei Daten und Informationen
jedoch Feinde. Der Testfall heißt Huawei. Huawei vertreibt das Betriebssystem Harmony als Konkurrenz zu Android von
Google. Wir machen subtile Zugeständnisse wegen unseres Exports nach China.
Das Gegenangebot
für Afrika für die Neue Seidenstraße muss von Europa und den USA kommen. Die
tun es aber nicht. Der Westen misstraut China und pocht auf Kapitalismus und
Demokratie. Asiatische Länder neigen dazu, sich mit China zu arrangieren. In
Deutschland nutzen die Hälfte aller Firmen Amazons Cloud (AWS). In Asien sind Tencent
und Alibaba mindestens so beliebt.
Zerklüftete
Welt
Seit dem
Sieg des Kapitalismus findet eine Fragmentierung und Zerklüftung der Welt
statt. Jeder möchte etwas Besonderes sein, sich global unterscheiden. Der
Soziologe Andreas Reckwitz (*1970) nennt dies
Singularitäten [Man beachte, dass das Wort eine Neubelegung erfährt, eine andere als einst bei Ray Kurzweil].
Wir wären
heute froh, wenn wir uns gegen Trump mit Hilfe des TTIP-Abkommens wehren
könnten. Die weltweiten Trends sind weiterhin Digitalisierung, Demografie.
Klima und Migration. Die deutsche Wirtschaft enttäuschte wegen des Dieselskandals.
Obwohl Horst Seehofer 2015 für eine zahlenmäßige Begrenzung der Zuwanderung
argumentierte, hatten auch SPD-Wähler Angst vor Migranten. Der Höhenflug der
Grünen und die anhaltende hohe Zustimmung für die AfD gehen zu Lasten der
Sozialdemokraten. Wie Greta Thunberg uns klarmacht, können Klima, Artenvielfalt
und Meeresschutz nur international angegangen werden. Es ist sicherlich so,
dass die EU mehr für eine CO2-Reduzierung tun kann als Deutschland allein.
Nur ist das Denken ‚My Country First‘
allgemein auf dem Vormarsch. Vor allem China baut weiter Kohlekraftwerke.
Europas
Rolle
Emmanuel
Macrons Satz, dass die NATO hirntot sei, beunruhigte Polen und Balten mit Recht.
Kennedys Ausruf ‚Ich bin ein Berliner‘
wirkte damals völlig anders. Da sprach ein Freund, auf den man sich verlassen
konnte.
Andere
osteuropäische Staaten wie Bulgarien und Rumänien verlieren jedes Jahr
Millionen Junge Menschen an Westeuropa. Sie möchten keine Araber (etwa Syrer
oder Afghanen) als Ersatz. Aus ihrer Sicht benötigt Europa keine stärkere
Integration. Gut wäre es, wenn wir den Krieg im Donbas beenden könnten. Auch
sollte man weniger Gas aus Russland kaufen. Vielleicht sollte Europa Kanada
aufnehmen. Das wäre wichtiger als Albanien und Nordmazedonien aufzupäppeln.
Aktuelle
deutsche Politik
Dass
Gabriel kein gutes Wort für aktuelle politische Entwicklungen übrig hat,
überrascht nicht. Lediglich der Stil der Kritik ist sehr hart. Die deutsche
Politik sei haarsträubend und zukunftsvergessen – meint er. In allem sei sie zu
langsam. Er vermisse Planung, Entscheidung und Vollzug, und zwar in zügiger
Folge. Das individuelle Einspruchsrecht würde übertrieben. Dass Norbert Walter-Borjans,
sein Nachfolger im SPD-Vorsitz, ihm den Job beim Automobilverband VDA
missgönnte, fand er nicht schön. Er bestraft ihn, und zwar durch Nicht-Nennung
in seinem Buche. Dasselbe Schicksal muss die Ko-Vorsitzende Saskia Esken erleiden.
Angela
Merkel führe das Land von hinten. Gerhard Schröder hätte es von vorne geführt.
Die sozialen Netzwerke seien voll in der Hand von Spinnern. Bayern habe eine exzellente
öffentliche Verwaltung. Das Gegenteil sei der Fall in der Stadt Berlin.
Unser
Export geht zu 60% in die EU. Daher profitieren wir davon, wenn es den dortigen
Empfängern gut geht. Deutschland muss in Straßen, Flughäfen, Telekommunikation
und Schulen investieren. Wir müssen die Unternehmen und ihre Wertschöpfungsketten
sichern. Wir brauchen bessere Schulabschlüsse und Zuwanderung von Fachkräften;
niedrigere Unternehmenssteuern und die 100%e Abschaffung des Soli. Der Mindestlohn
muss eine ausreichende Mindestrente ergeben. Das Drohen mit einer Vermögenssteuer
sollte man unterlassen.
Sozialismus
und Sozialstaat
Der Kapitalismus
muss sozial dazulernen - oder er wird scheitern. Produktionsmittel zu
verstaatlichen ist nationalstaatliches Denken des 19. Jahrhunderts. Der Sozialstaat
muss die vorhandene Arbeit auf alle umverteilen, etwa bei der Digitalisierung,
wo Plattformen ja keinen Lohn zahlen Anstatt
einige Leute 60 Stunden pro Woche arbeiten zu lassen, muss man die gesamte Arbeit anders aufteilen [Seltsamer, unausrottbarer Irrglaube].
Die SPD
muss die Realität ins Zentrum stellen, nicht eine Utopie. Sie muss eine Idee
über die Zukunft Deutschlands und Europas haben. Sie muss Sicherheit,
Nachhaltigkeit und Internationalität umfassen. Wir müssen in Digitale Bildung
investieren, in die Infrastruktur bei Bahn, Straßen, Energie, Rohstoffen und Daten.
Zuletzt war der Sozialstaat in Gefahr zerstört zu werden, als in England Margret
Thatcher das Sagen hatte und in Deutschland Hans-Olaf Henkel. Das Ziel muss
eine freundliche Gesellschaft sein, die Respekt von Menschen untereinander
fördert, sowie Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn. Jede politische Partei sollte für sich so
leben, wie sie es für die Gesellschaft als Ganzes fordert [Die SPD scheint dies jedoch nicht zu beherzigen].
Ausblick
und Einordung
Wir
erleben derzeit einige schnelle Veränderungen, so z. B. das Verschwinden der
Volksparteien und das Aufkommen der AfD. Die Verbrechen, die durch einige
Flüchtlinge begangen wurden, hätten Vertrauen zerstört. Was wir jetzt bräuchten
sei eine Agenda 2030 mit einem erklärendem Narrativ sowie Mut zu positiver
Emotion.
Das
Wort Schwanengesang hat seinen Ursprung in der griechischen Mythologie. Vor
ihrem Tod sollen Schwäne mit trauriger, aber wunderschöner Stimme ein letztes
Lied anstimmen. Im Falle Gabriels wird es – wenn mich nicht alles täuscht – wohl
kaum das letzte Lied gewesen sein.