Wieder ist einer der Pioniere unseres Feldes von uns gegangen. An John McCarthy erinnere ich mich seit meiner ersten, allerdings recht oberflächlichen Beschäftigung mit LISP in den 1960er Jahren. Es war dies eine Programmiersprache, bei der die Verarbeitung von Zeichenketten (engl. string manipulation) nicht aufgepflanzt war, etwa wie bei PL/I, sondern die Grundlage bildete. Es gab nur den Datentyp ‚Zeichenkette‘ und nichts anderes. Es ließen sich damit Programme zur Textverarbeitung besonders effizient schreiben. Kam man von Fortran-ähnlichen Sprachen, musste man allerdings gehörig umdenken. Neben Fortran scheint LISP die langlebigste der frühen Programmiersprachen zu sein.
Foto von Ralf Brown bei ICML'06
Mit einer Fachveranstaltung in Dartsmouth, New Hamshire, hatte McCarthy 1956 den Begriff ‚Künstliche Intelligenz (Abk. KI, engl. artificial intelligence) geprägt, ähnlich wie F.L. Bauer 1968 den Begriff ‚Software Engineering‘ durch die Konferenz von Garmisch in die Welt setzte. Im Nachruf bei Spiegel Online wird auf die Anfänge der KI wie folgt verwiesen:
Seit 1948 forschte McCarthy an künstlicher Intelligenz. Den Begriff verwendete er 1955 in einem mit den legendären Informatikern Claude Shannon, Marvin Minsky und Nathaniel Rochester verfassten Forschungsantrag. Die Grundannahme der Wissenschaftler [war]: "Jeder Aspekt des Lernens und andere Eigenschaften von Intelligenz können im Prinzip so präzise beschrieben werden, dass eine Maschine sie simulieren kann." Von 1965 bis 1980 leitete McCarthy das Artificial Intelligence Laboratory an der Stanford University.
Ich selbst hatte zu John McCarthy wie zu den übrigen KI-Pionieren kaum fachliche Kontakte. Im Frühjahr 1981 besuchte ich ihn in Stanford, zusammen mit einem Kollegen, um ihn zu einem Vortrag nach Deutschland einzuladen.
Der Campus von Stanford ist architektonisch sehr beeindruckend. Man hat versucht den Baustil der Franziskaner-Missionen Kaliforniens ins Monumentale zu übersetzen. Alle Gebäude, vor allem aber die Bibliothek mit ihrem hohen Turm, der an eine Kathedrale erinnert, geben Ausdruck vom Reichtum des Stifters dieser Privatuniversität. Wir fanden McCarthy in einem kleinen, nicht sehr hellen Eckzimmer im ersten Stock eines der von außen sehr imposant aussehenden Gebäude. Das Büro war mit Bergen von Papier vollgestopft. Kaum hatten wir unsern Wunsch geäußert, sagte er schon zu.
Er bot uns ein Papier an mit dem Titel ‚Usefulness of Computers in Offices’ [1]. Es behandelt die Erfahrungen seiner Umgebung mit Büroanwendungen. Er lobte darin unter anderem Knuths TEX-System und den Wysiwyg-Editor des Alto-Systems von Xerox. Da es nur vier Seiten umfasste gab er mir noch ein zweites Papier dazu. Dessen Überschrift hieß ‚The Common Business Communication Language‘ [2]. Das erinnerte mich etwas an COBOL (Abk. für Common Business Oriented Language). Er postulierte darin eine Sprache, die das Fachvokabular enthält, um Angebote einzuholen oder Bestellungen aufzugeben, das Ganze in einer LISP-ähnlichen Syntax verpackt, d.h. voller Klammern. Ich hatte bei dem Symposium im September 1981 in Bad Neuenahr nicht den Eindruck, dass er seine Zuhörer mit seinen Ideen vom Sessel riss. Es kann auch sein, dass denen diese Art der Computer-Nutzung damals noch etwas ferne lag.
Danach habe ich McCarthys Arbeiten nur sehr sporadisch verfolgt. In vielen Diskussionen, an denen er teilnahm, aber auch in seinen Veröffentlichungen, vertrat er eine Position, die man als ‚starke KI‘ bezeichnet. Vereinfacht ausgedrückt, gehen diese Kollegen davon aus, dass man den menschlichen Geist als Programm auffassen kann. Heute weiß man, dass Geist und Körperlichkeit nicht zu trennen sind, vor allem wenn man das Bewusstsein in Betracht zieht.
Bekannt wurde sein Streit mit Roger Penrose, einem englischen Mathematiker und Physiker, der sehr eigenartige Vorstellungen von Bewusstsein und freien Willen äußerte. Penrose führte beides auf quantenmechanische Prinzipien zurück, die in dieser Form nie durch Software nachgeahmt werden können. Er warf den Vertretern der (starken) KI vor, das menschliche Denken rein algorithmisch erklären zu wollen, und zwar als einen Vorgang, der unabhängig von der Physik oder Chemie eines bestimmten Gehirns ablaufen kann. McCarthy hielt Penrose entgegen, dass Computer, um sich wirklich intelligent zu verhalten, auch Wissen besitzen müssen, das nicht durch Algorithmen, also Fakten und Regeln, dargestellt werden kann. Er hielt es für möglich, dass Computer eines Tages Bewusstsein zeigen in der Art, dass sie darüber reflektieren, wie sie sich fühlen und was es heißt ein Computer zu sein.
Sehr krass werden heute die Positionen der ‚starken KI‘ von McCarthys Schüler John Moravec [3] vertreten. Er spricht davon, dass der Geist des Menschen sich vom Gehirn nach und nach auf Rechner verpflanzen ließe, so zu sagen von einer Hardware-Basis auf eine andere. Diese Weiterentwicklung des menschlichen Geistes könnte man mit heutigen Software-Agenten vergleichen. Diese könnten an Orten leben, wo heutige Menschen nicht leben können. Sie könnten sich z.B. im Weltraum ausbreiten und damit eventuelle irdische Katastrophen überleben. Diese Lebewesen würden nicht nur all unser Wissen und alle unsere Erfahrungen besitzen, sondern auch über ein menschen-ähnliches Bewusstsein und Gefühle wie Angst, Schmerz und Liebe verfügen.
Moravec und andere, die diese Position vertreten, z.B. Ray Kurzweil, haben zweifellos Recht, wenn sie annehmen, dass wir in einigen Jahrzehnten in der Lage sein werden, Rechner zu bauen, die bezüglich der Anzahl der Speicher- und Verarbeitungselemente das menschliche Gehirn übertreffen. Sie können dann Aufgaben lösen, die heute nur vom Menschen gelöst werden können, etwa auf dem Gebiet der Mustererkennung oder der räumlichen Orientierung. Es ist ein sehr gewagter Schritt daraus zu folgern, dass diese Maschinen dann mit dem Menschen als Spezies gleichziehen würden, ja ihn ersetzten oder gar ablösen könnten.
McCarthys Name wird mit den Ideen dieser Schule verbunden bleiben. Es waren zweifellos mutige Ideen. Ob sie uns wirklich weiterhelfen, sei es in fachlicher Hinsicht, sei es im Verständnis der Welt, wage ich jedoch zu bezweifeln.
Zusätzliche Referenzen
- McCarthy, J.: Usefulness of Computers in Offices. In: Endres, A., Reetz,J.: Textverarbeitung und Bürosysteme. Oldenbourg München 1982, 65-70
- McCarthy, J.: The Common Business Communication Language. Ibidem, 71-74
- Moravec, H.: Computer übernehmen die Macht: Vom Siegeszug der künstlichen Intelligenz. Hoffman und Campe Hamburg 1999
Soeben erhalte ich einen Kommentar von meinem Kollegen Rul Gunzenhäuser aus Stuttgart:
AntwortenLöschenich würde mich sehr freuen, wenn Sie Ihren BLOG mit einer persönlichen Reminiszens an John McCarthy ergänzen könnten.
Im kommenden Jahr wären es genau 50 Jahre, seitdem er 1962 die Konzepte der Programmiersprache LISP und eine erste Implementierung veröffentlicht hat. Um 1982 war er mehrere Tage Gast in unserer Institutsabteilung. Er war persönlich sehr sympathisch; er hatte Freude am "deutschen Wald".