Mittwoch, 12. Oktober 2011

Arnoud de Kemp über Verlags- und Informationswesen - Qua vadis?

Arnoud de Kemp ist Verleger und Konferenzorganisator. Als Geschäftsführer leitet er die Verlage Akademische Verlagsgesellschaft (AKA) GmbH und digiprimo, beide in Heidelberg. Alle englischsprachigen Bücher und Zeitschriften werden mit IOS Press in Amsterdam für den internationalen Vertrieb zusammen publiziert. De Kemp war bis 2004 globaler Marketing- und Verkaufchef des wissenschaftlichen Springer-Verlags in Berlin, Heidelberg und New York, und als Mitglied der Geschäftsleitung zuständig für die Entwicklung von Neuen Medien. SpringerLink datiert aus dieser Zeit. Von 1990 bis 1996 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation (DGD), der heutigen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis (DGI). Er war bis vor kurzem Sprecher des Arbeitskreises elektronisches Publizieren (AKEP) im Börsenverein des Deutschen Buchhandels und Vorstandsmitglied der International Association of STM Publishers. Seit 2005 organisiert er jährlich die internationale Konferenz APE (Academic Publishing in Europe) und seit Sommer 2011 die 'Informare in Berlin. De Kemp ist gebürtiger Niederländer, lebt und arbeitet aber seit 1984 in Deutschland.  



Bertal Dresen (BD): Als wir uns beide zwischen 1995 und 1997 für das von der Bundesregierung geförderte Projekt MeDoc engagierten, an dem 14 Verlage und 30 Hochschulen teilnahmen, hofften wir, dass wir den deutschen Verlegern zu einem frühen Start in Richtung Elektronische Medien und Internet verhelfen würden. Mein Eindruck ist, dass von einer oder zwei Ausnahmen abgesehen, diese Chance vertan wurde. Wenn ja, woran lag dies? War die Struktur der Branche mit ihren vielen kleinen und mittelgroßen Unternehmen daran schuld, die lieber konkurrieren als kooperieren? Oder waren wir einfach zu früh?

Arnoud de Kemp (AdK): Im Rückblick war es eindeutig viel zu früh. Auch 10 Jahre später, also zwischen 2005 und 2007, wäre es noch zu früh gewesen. Wir waren absolute Pioniere, obwohl wir das selbst damals nicht so gesehen haben. Der Springer-Verlag hatte dank seiner Nähe zum IBM-Wissenschaftszentrum in Heidelberg zwar einen Glasfaser-Anschluss und konnte vor dem Aufkommen des Internets bereits im EARN-Netz experimentieren. Der Leiter des Bereichs Wissenschaft der IBM und damalige Präsident der GI, Prof. Dr. Wolfgang Glatthaar, sowie der Geschäftsführer des Springer-Verlags, Professor Dr. Dietrich Götze, haben unsere Gehversuche stark unterstützt. Das Projekt verlief nicht ohne Widerstände. 

BD: Wir beide waren der Ansicht – und sind es wohl auch heute noch –, dass die neuen Medien, für die stellvertretend das Internet steht, ein großes gesellschaftliches und geschäftliches Potenzial bergen. Nicht nur kann Wissen schneller und kostengünstiger verteilt werden, es werden ganz neue Nutzergruppen und Nutzungsweisen erschlossen. Nur so kann man die riesig anwachsenden Massen an Information überhaupt handhaben. Warum wird dieses Potenzial von den traditionellen Verlegern – vor allem den wissenschaftlichen – so wenig genutzt? Wurde durch das von Google benutzte Geschäftsmodell, das Inhalte über Werbung finanziert, der Raum für andere Geschäftsmodelle zunichte gemacht? Oder fehlt bei den von ihrer papiernen Vergangenheit geprägten Verlegern schlicht die technische Kompetenz oder die kaufmännische Intuition?

AdK: Lange hat die technische Kompetenz gefehlt, vor allem bei den kleineren Verlagen. Dann gab es kaum Erfahrung mit Geschäftsmodellen. Werbung in Kombination mit wissenschaftlichen Inhalten haben wir als Verleger kollektiv abgelehnt. Google war uns durch Google Book Search, Google Scholar etc. eher suspekt. Stattdessen hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels vor drei Jahren über seine Tochter MVB die Plattform ‚Libreka!’ gestartet, um für viele Verlage den Einstieg zu ermöglichen. 

BD: Wenn ich sehe, was einige wissenschaftliche Verlage heute, also fast 20 Jahre nach MeDoc, auf diesem Gebiet zustande bringen, so kann ich das bestenfalls als Abwehrmaßnahme verstehen. Wenn überhaupt, so werden elektronische Versionen von Büchern und Zeitschriftenartikeln im Internet nur zu Preisen angeboten, die ich als horrend bezeichnen muss. Ist dieser Eindruck richtig? Wenn ja, was ist Deiner Ansicht nach schief gelaufen? Ist das nur ein deutsches oder europäisches Problem? Gibt es überhaupt Beispiele dafür, dass ein Verlag, der die elektronischen Medien ernst nimmt, dabei auch Geld verdient? Genannt wird immer nur das Wall Street Journal.

AdK: Das stimmt so nicht. Die Verlage haben insgesamt fast die gesamte Zeitschriftenliteratur digitalisiert, oft rückwärts zu Jahrgang 1, Heft 1. Es sind eigene Angebote wie ScienceDirect oder SpringerLink oder via Aggregatoren wie MetaPress. Das Angebot wird zunehmend ergänzt mit Informationen aus ‚data mining’ und ‚content enrichment‘ Programmen. Jetzt fängt man mit Büchern an. Zum Beispiel: Springer digitalisiert alle 60.000+ Titel seit 1842, bietet aus dem aktuellen Programm bereits über 20.000 Titel an. De Gruyter digitalisiert jedes alte Buch das elektronisch nachbestellt wird. 

Es gibt seit Jahren vielfältige Angebote für die Nutzung durch Bibliotheken und Konsortien, unter anderem Nationallizenzen. In Deutschland werden diese von der DFG ausgehandelt. Print ist nur noch Zusatz. Der Umsatz wird zum größten Teil mit diesen Lizenzen gemacht. (Quelle: Jahresberichte der Verlage)

BD: Viele Leute zweifeln daran, dass man den Verleger im herkömmlichen Sinne in Zukunft überhaupt noch benötigt. Jeder könne sein eigener Verleger sein, wie ich dies seit Anfang dieses Jahres bei diesem Blog bin. Andere schwören auf die kollektive Intelligenz der Massen, wie sie sich bei Wikipedia manifestiert. Welchen Mehrwert kann ein Autor in Zukunft (noch) von einem Verleger erwarten? Spielt der einzelne Autor überhaupt noch eine Rolle gegenüber der anonymen Autorengruppe?

AdK: Ach, wenn ich sehe, wie viel Arbeit wir in unserem kleinen Verlag in der Produktion von Büchern und Zeitschriften stecken müssen, mache ich mir keine Sorgen. Uns geht es um einheitliche Qualität von geprüften Inhalten. Wir lassen deswegen Zeitschriftenaufsätze setzen und für neue Datenstrukturen wie XML aufbereiten. Bei Zeitschriften ist und bleibt das ‚peer reviewing’ die Garantie für Qualität. Aber wir wissen, auch Dissertationen sollten unabhängig geprüft werden. Sic! Natürlich gibt es immer mehr ‚user generated content, und Wikipedia ist das bekannteste Beispiel dafür. Informationen in ‚social media’ werden wahrgenommen, aber ich weiß aus leidiger Erfahrung, dass sehr viel nachrecherchiert werden muss. 

Wenn die Information gut aufbereitet und gut attributiert wird, kann sie gefunden werden. Autorennamen sind zwar leicht suchbar, aber man sucht normalerweise nach Beschreibungen und Lösungen. 

BD: Da Wissenschaft zu einem großen Teil vom Steuerzahler finanziert wird, hört man das Argument, dass ihre Ergebnisse der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung gestellt werden sollten. Anderseits müssen Wissenschaftler veröffentlichen, wollen sie eine akademische Karriere machen. Beide Überlegungen führten dazu, dass einerseits die Wissenschaft verstärkt ein eigenes Publikationswesen betreibt, Open Access genannt. Anderseits gibt es Zeitschriften, bei denen die Autoren zahlen, die Leser jedoch nicht. Wie wichtig sind diese beiden Tendenzen? Bedeuten sie das Ende privater Verlage, zumindest im Bereich der Wissenschaften?

AdK: Open Access (OA) ist insgesamt immer noch eine Randerscheinung. Für mich ist es nichts Neues, sondern lediglich eine Änderung der Finanzierung. Wir wissen inzwischen, dass es volkswirtschaftlich nicht billiger wird. Im klassischen Modell haben die Verlage und Bibliotheken vorfinanziert. Beim OA bezahlt der Autor, sein Institut, die Universität oder die DFG. Mitglieder von Gesellschaften erhalten die Publikationen im Rahmen der Mitgliedschaft kostenlos oder zum ‚member rate’. Die institutionellen Abonnements finanzierten das Publikationsmodell. Die wissenschaftlichen Gesellschaften haben mit OA mehr Probleme als die Verlage und mancher Verlag verdient inzwischen prächtig mit der OA-Vorfinanzierung. Kleinere Verlage haben schon längst Allianzen gebildet und lassen ihre Pakete von Agenturen wie Swets verwerten. 

BD: Einige Autoren und Gruppierungen vertreten die Meinung, dass im Blick auf das Internet das Urheberrecht nur noch ein historischer Ballast sei. Gerade hat in Deutschland die Partei der Piraten, die freien Zugriff auf alle Netzinhalte fordert, einen beeindruckenden Wahlerfolg erzielt. Was ist an dieser Kritik berechtigt? Wie sehr ist es ein Problem, dass viele Leute, vor allem junge Menschen, sich daran gewöhnt haben, dass Information meist kostenlos angeboten wird? Was ist von Vorschlägen zu halten, die eine Flatrate vorsehen ähnlich den Rundfunkgebühren? Oder bezahlen wir in Zukunft mit der Kulturwertmarke des Chaos Computer Clubs?

AdK: Der Wahlerfolg der Piraten war in Berlin und sie haben jetzt einige Sitze im Senat, wo sie ihre erfrischenden Ideen einbringen können. Aber auch Piraten wissen, dass man Künstler und Autoren nicht enteignen kann. Die Frankfurter Buchmesse zeigt in dieser Woche über hunderttausend neue Bücher, die man kaufen muss. Apple hat gezeigt, wie man mit Musik viel Geld verdienen kann. Die zwangsmäßig eingezogenen Rundfunkgebühren sind leider ein Garant für ein inhaltlich sehr mäßiges Angebot. Eine Flatrate für Information ist aus meiner Sicht so undemokratisch wie freies Benzin für Autofahrer.

BD: Oft wird auch der Informatikbranche der Vorwurf gemacht, dass wir neue Medien in den Markt drücken, nur um das Geschäft mit den Geräten zu machen, ohne Rücksicht darauf, was dies für Nutzer oder andere Branchen bedeutet. Sollte man neue Techniken langsamer in den Markt bringen? Lässt sich eine Technikfolgenabschätzung im Voraus überhaupt machen? Überwiegt der Vorteil der technischen Dynamik nicht den Schaden?

AdK: Der inzwischen legendäre Steve Jobs hat uns allen gezeigt, wie man neue Geräte geschmackvoll und nutzerfreundlich mit Inhalten verknüpfen kann. Keiner hat vorher sagen können, wie schnell iPod, iPhone und iPad unser Leben verändern würden. Mein PowerMac kostete im Jahre 2008 über 2.000 Euro. Das neue, viel schnellere iMac 27“ kostete die Hälfte und ist eine reine Freude. Ich sehe mit großem Interesse wie die Zeit, die FAZ, der Spiegel usw. wirklich interessante Nutzungsmöglichkeiten anbieten. Ich bleibe deswegen optimistisch. Wir leben in einer aufregenden Zeit. 

BD: Du lebst und arbeitest inzwischen 35 Jahre in Deutschland. In welchen Punkten fiel Dir die Umstellung am schwersten? Was vermisst Du am meisten?

AdK: Ich vermisse die Nordsee und den frischen Wind. Im Übrigen feiern meine (deutsche) Lebensgefährtin und ich bald 34 Jahre des Zusammenseins. Es ist alles bestens. 

BD: Lieber Arnoud, vielen Dank für dieses Interview kurz vor der Frankfurter Buchmesse. Ich weiß, nicht nur die Buchmessen, auch Deine Autoren halten Dich auf Trapp.

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