Sonntag, 23. Oktober 2011

Antonio Damasio über Geist, Bewusstsein und Selbst

Nachdem ich mich vor Monaten mit den Philosophen Dennet, Hofstadter und Metzinger sowie den Neurologen Edelmann und Kandel befasst hatte, habe ich mich mal wieder dem Leib-Seele-Problem der Philosophie zugewandt. Es wird vielleicht treffender auch als Geist-Körper-Problem bezeichnet. Anlass war dieses Mal das neue Buch ‚Selbst ist der Mensch‘ von Antonio Damasio, auf das mich mein Freund Peter Hiemann aus Grasse aufmerksam machte. 

Damasio ist ein in Lissabon geborener und aufgewachsener Neurologe, der jetzt in San Diego, Kalifornien, lebt und arbeitet. Zusammen mit seiner Ehefrau Hanna ist er als Gehirnforscher tätig. Sein Zugang zu dem Geist-Körper-Thema basiert auf der Auswertung von Unfalldaten und Krankheitsgeschichten einerseits, sowie modernen bildgebenden Verfahren andererseits, insbesondere der funktionellen Magnet­resonanz­tomographie (fMRT). 

Peter Hiemann und ich haben das Buch etwa gleichzeitig gelesen. Beide empfanden wir es als ziemlich anstrengend, haben uns aber durchgekämpft. Rück­blickend räumen wir gerne ein, eine Menge gelernt zu haben, nachdem wir uns erst an eine neue Terminologie gewöhnt hatten. Ich beginne im Folgenden mit den wichtigsten Beispielen seiner Terminologie, verbunden mit meiner Interpretation seiner Begriffe. 

Geist: Dies ist offensichtlich die Übersetzung des englischen Worts ‚mind‘. Ich hätte es eher mit ‚Verstand‘ oder ‚Intellekt‘ übersetzt. Definiert wird ‚Geist‘ als ein Ensemble oder Strom von Bildern. Der Geist verliert nie den Kontakt mit dem Gehirn. Da der Geist nur auf das Körperinnere wirkt, scheint er körperlos zu sein. Das Wort ‚Geist‘ suggeriert einen Dualismus à la Descartes, gegen den Damasio sich wehrt. Sein Freund sei nicht Descartes, sondern Spinoza.

Bewusstsein: Prozesse, die im Wachzustand eines mit Geist ausgestatteten Körpers ablaufen. Sie erkennen die eigene Existenz und die Umgebung. Sie unterscheiden sich in ihrer Intensität (zwischen dösen und hell wach sein) und in ihrer Reichweite (zwischen eigenem Körper und dem Universum). Übrigens sieht Damasio in Träumen eine alternative Form des Bewusstseins.

Selbst: Prozess, der den eigenen Körper und Geist als Bezugs- und Mittelpunkt von Beobachtungen erkennt. Es entsteht ein Protagonist, der sich als Besitzer unseres Körpers fühlt und der das Erlebte als Geschichten erzählen kann. Das Selbst hat drei Stufen, Protoselbst, Kernselbst und autobiografisches Selbst. Das Protoselbst ist angeboren, das Kernselbst basiert auf einfachen Gefühlen. Nur dank unseres großen Gedächtnisses baut sich im Laufe eines Lebens das autobiografische Selbst auf.

Dispositionen: Auch an dieses Wort muss man sich erst gewöhnen. Gemeint sind Prozesse, die auf prozeduralem oder Handlungswissen basieren, also Wenn-dann-Regeln, die vorschreiben, was in bestimmten Situationen zu geschehen hat. Sie nehmen z.B. einen äußeren Reiz wahr und veranlassen eine Reaktion des Körpers. 

Emotionen. Sie stellen eine Sonderklasse von Dispositionen dar. Sie sind evolutionsmäßig uralt und laufen vollkommen automatisch ab, d.h. ohne dass das Bewusstsein daran teilnimmt. Sie laufen meist (als Reflexe) viel schneller ab als es das Bewusstsein überhaupt erfassen kann. Sie waren und sind überlebenskritisch.

Karten: Sie sind neuronale Repräsentationen von Objekten, Ereignissen, Gefühlen und vielem mehr. Sie versehen unser Gehirn mit Faktenwissen. Zusätzlich zu den von den Sinnesorganen übermittelten Daten verfügen wir über Hinweise, durch welche Form der Interaktion sie erfasst wurden und mit welchen Emotionen sie verbunden waren. Der Ausdruck Karte kommt daher, dass das Selbstbild des eigenen Körpers in der Form einer (stark verzerrten) Nachbildung des Körpers im Gehirn eingespeichert ist. Karten sind Einprägungen von multimedialen Eindrücken, multimedial deshalb, weil visuelle, akustische, haptische und propriozeptive (den eigenen Körper betreffende) Eindrücke in Beziehung gebracht werden. Das menschliche Gehirn besteht u.a. aus Regionen, die primär Dispositionen ermöglichen. Dazwischen eingebettet sind Regionen, die der Kartierung dienen.

Bilder: Bilder betreffen alle Objekte und Handlungen, die im Gehirn verarbeitet werden, gegenwärtige ebenso wie erinnerte, konkrete wie auch abstrakte.  Es ist das, was der Geist produziert und manipuliert, wenn er aktiv ist, d.h. Gedanken hat. Sie beziehen ihren Inhalt (ihre Pixels, Voxels, Akkorde und dgl.) aus Karten. Wie dies geschieht, ergibt sich aus den dazu gespeicherten Dispositionen. Damasio benutzt die Metapher eines Puppentheaters. Die Bilder seien das, was auf der Bühne passiert; die Dispositionen bewegten die Schnüre, an denen die Marionetten hängen. Auch der Begriff ‚Bilder‘ ist sehr vereinfachend. In Wirklichkeit sind es innere Rekonstruktionen für das, was wir gesehen, gehört oder gefühlt haben. Vielleicht wäre Szenario oder Film ein besseres Wort.

Gefühle: Geisteszustände, die sich aus Bildern oder Emotionen ergeben. Sie verschaffen dem Geistprozess Informationen über den Zustand des Körpers. Durch sie erhalten viele Objekte eine spezifische Markierung.

Erinnern: Ist immer eine Rekonstruieren von Bildern aufgrund von Karten, gesteuert von Dispositionen. Erinnerungen sind umso stärker, je mehr sie mit Gefühlen behaftet sind.

Folgende Aspekte aus Damasios Sicht der Dinge sind bemerkenswert:

Das zentrale Nervensystem dient bei allen Lebewesen hauptsächlich der homöotischen Regelung des Organismus. Auch alle höheren, also geistigen Funktionen des Nervensystems dienen primär diesem Zweck. Sie gestatten nicht nur eine subtilere Steuerung, sondern vor allem eine langfristige Planung. Die Homöostase ist das sensible Gleichgewicht, das eingehalten werden muss, damit Leben möglich ist. Durch sie wird das biologische Wertesystem definiert. 

Selbst Neuronen müssen als Einheiten mit geregelten „Innenleben“ interpretiert werden, da schon Einzeller wie Amöben auf Reize reagieren. 

Einfache Organismen verfügen lediglich über Dispositionen, die einen äußeren Reiz wahrnehmen, eine Körperreaktion veranlassen und ggf. eine Körperbewegung ausführen. Weiter höher in der Evolution angesiedelte Organismen sind zusätzlich in der Lage, Wahrnehmungen, Körperreaktionen und Körperaktionen im Gedächtnis aufzuzeichnen, um sie für einen späteren Abruf verwenden zu können. Diese komplexen Dispositionen könnte man als Programme bezeichnen, ein Ausdruck, den Damasio allerdings nicht verwendet. Programme sind zur Rekonstruktion von Strukturen und Abläufen besser geeignet als das reine Kopieren einer Erinnerung. 

Der Anteil der Gehirnaktivitäten, die für bewusstes Nachdenken, Entscheiden und Handeln zum Tragen kommen, ist gegenüber den neuronalen Aktivitäten für unbewusste geistige und körperliche Reaktionen ziemlich gering. So wie Sigmund Freund es auch sah, sei der größte Teil des Geists in unserem Unterbewusstsein zu vermuten, vergleichbar einem Eisberg. Durch das schmale Fenster des Bewusst­seins sähen wir nur die Spitze des Eisbergs. Unbewusste Prozesse sind sehr nützlich, nicht nur weil sie schneller ablaufen, sondern weil sie dem Bewusstsein mehr Kapazität übriglassen, um eine gründliche Analyse und eine sorgfältige Planung zu betreiben.

Erst der seiner Selbst bewusste Geist schuf sich die menschliche Sprache. Dadurch wurde die Kommunikation mit andern Menschen erheblich verbessert und die soziale Entwicklung beschleunigt. Die später stattgefundene Erfindung der Schrift befreite die gesprochene Sprache von ihrer räumlichen und zeitlichen Beschränkung.

Da Damasio die Anatomie des menschlichen Gehirns aus der Sicht der Evolution erklärt, gelangt er zu sehr überzeugenden Begründungen seiner Struktur. Hier ein markantes Beispiel. Da Reptilien, die zwar ein Stammhirn aber keine Hirnrinde (Cortex) besitzen, schon sehr ausgefeilte homöostatische Steuerfunktionen vollführen, ist anzunehmen, dass beim Menschen der ‚Geist‘ nicht nur in der Hirnrinde zuhause ist, sondern auch ‚ältere‘ Teile des Gehirns (wie Thalamus und Stammhirn) mitbenutzt. Hat die Evolution nämlich einmal eine Lösung zu einem Problem gefunden, die funktioniert, so wird sie möglichst überall verwandt. Um eine Verbesserung der Lebenssteuerung, etwa unter Zuhilfenahme eines großen Gedächtnisses, zu erreichen, wird die vorhandene Lösung nicht weggeworfen. Die neue Funktionalität baut auf der alten auf. Das neue Problem wird durch die Kooperation zwischen verschiedenen Organismen gelöst.

Das Hauptproblem, das Damasio zu verstehen versucht, ist die emergente Erscheinung des Bewusstseins in der Evolution der biologischen Organismen. Er ist überzeugt, dass das Wissen über die „Umstände, wie bewusster Geist in der Geschichte des Lebendigen entstanden ist, Auswirkungen auf unser Alltagsleben hat“. Die kulturelle Evolution habe (aus Sicht der Evolution) gerade erst begonnen. Wenn in diesem Zusammenhang von einer sozio-kulturellen Homöostase gesprochen wird, scheint dies jedoch etwas weit hergeholt zu sein.

Was die eher philosophischen Fragen anbetrifft, zeigt Damasio eine erfreuliche Zurückhaltung. Manche der von ihm angebotenen Erklärungen bezeichnet er als nützliche Arbeitshypothesen. Das gilt insbesondere für die Beziehung zwischen Geist und Gehirn. Nimmt man nicht an, dass geistige Zustände auch Zustände des Gehirns sind, könne man die gegenseitige Beeinflussung noch viel schlechter verstehen, als es bis heute der Fall ist. Noch seien wir weit davon entfernt, das Gehirn als Körper­organ zu verstehen. Das gilt erst Recht für Geist und Bewusstsein als schwer fassbarer Ausfluss seiner Funktion. Hier sei noch viel Forschungsarbeit zu leisten, meint er.

1 Kommentar:

  1. Noch am 23. 10. 2011 schickte Peter Hiemann, zurzeit in Tunesien, folgenden Nachtrag:

    Bei meinen Bemühungen, die neuronalen Prozesse zu verstehen, ergeben sich ein paar Assoziationen, die mit Computern und Programmen zu tun haben.

    Es ist offensichtlich, dass Neuronen viel mehr können als ein elektronischer Schalter.
    Neuronen können sich zwar nicht erneuern, wie die meisten anderen Körperzellen, weil ansonsten erworbene "geistige" Inhalten verloren gehen würden. Neue Neuronen können aber entstehen und Neuronen können neue Verknüpfungen mit anderen Neuronen eingehen. Ein komplexes Kapitel für sich ist die Versorgung der Neuronen mit Energie, die Entsorgung der Neuronen von molekularem Abfall, und die Wirkung der Neuronen auf den hormonellen Haushalt seines Körpers.

    Informatiker haben begonnen, sich mit den Fähigkeiten neuronaler Netzwerke zu befassen. Aber ihr Material, mit denen sie Robotik-Netzwerke konstruieren können ist nach wie vor nicht organischer Natur. Das wirkt sich natürlich auch auf die Software ihrer Modelle aus.

    Ich würde gerne mehr wissen, ob Informatiker sich auch mit Strukturen "organischer"
    Software befassen. Damasios Forschungen sind eine gute Quelle, solche Strukturen zu studieren. Beim Studium seines Buches ist mir deshalb aufgefallen:

    1. Geist ist kein Phänomen der Anhäufung von Informationsinhalten einschliesslich
    festgelegter Relationen zwischen verschiedenen Informationsinhalten. Geist ist ein dynamischer Prozess von Wahrnehmung, Bewertung, Auswahl, Integration und der Bildung zum Teil vollständig neuer Relationen zwischen Informationsinhalten.

    2. Der Geistprozess erfordert eine spezielle Kopplung und gegenseitige rückbezügliche
    Beeinflussung zwischen Körper und Informationsinhalten (innere Körperzustände plus externe Informationen der Umwelt)

    3. Geist wird von einem Individuum am intensivsten erlebt, wenn es zu einem
    sogenannten "Flow"-Erlebnis kommt; wenn neue Information sich hervorrgend zu bereits existierender zu etwas Neuen zusammenfügt. Dieses Erlebnis ist nur möglich, wenn zusätzlich zum Geistprozess ein Selbstprozess existiert. Dieses Erlebnis könnte auch als Resultat eines kreativen Denkprozesses interpretiert werden.

    4. Damasios Definition der Dispositions-Prozesse lassen vermuten, dass Gehirnprozesse weniger mit "Wenn-Dann Entscheidungen" zu tun haben, sondern dass das neuronale Netzwerk zu einer außerordentlichen Vielfalt parallel ablaufender Prozesse fähig ist. Die unglaubliche Komplexität dieser Parallelität kann man nur erahnen. Sie scheint sich aber dadurch zu manifestieren, dass neuronale Schaltkreise relativ langsam gegenüber heutigen Computerschaltkreisen sind. Das Mooresche Gesetz hat keine Rolle in der Evolution des Gehirns gespielt.

    5. Damasios Aussagen haben vermuten lassen, dass es sich beim Gehirn um eine unglaubliche Ansammlung von spezialisierten Systemen ("H/W plus S/W") handelt. Den Aufruf dieser Systeme darf vermutlich nicht als eine einfache Verzweigung auf ein Subsystem interpretiert werden. Diese Aufrufe könnten vielleicht mit
    Initialisierungs-Prozeduren (Bootstrap-Prozeduren?) verglichen werden, weil jedes
    Subsystem über ein spezialisiertes "Betriebssystem" verfügen könnte.

    Hinweise dieser Art könnten zusätzliches Interesse für Damasios Arbeiten bei
    Informatik-Experten wecken.

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