Donnerstag, 28. Januar 2016

Deutsche Außenpolitik aus wissenschaftlicher Sicht

Stephan Bierling (*1962) ist Professor für internationale Politik in Regensburg. Sein aktuelles Buch heißt: Vormacht wider Willen. Die deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart, München 2014, 304 Seiten. Ich las zuerst nur das Schlusskapitel. Es ging mir nämlich bei diesem Autor nicht darum, noch eine Meinung zu Kohl, Schröder und Merkel kennen zu lernen. Das ist uninteressant. Vielmehr wollte ich erfahren, was Bierling und seine Fachkollegen unter ‚wissenschaftlicher‘ Politik-Analyse verstehen. Dieses Mal war es Peter Hiemann, der mich dazu motivierte, das Buch nicht nur zu überfliegen. Er schrieb nämlich:

Einer Rezension des Buches entnehme ich, dass Bierling versucht, wesentliche Einflüsse von Kohl, Schröder und Merkel auf historische Ereignisse zu analysieren bzw. darzustellen. Vermutlich beruhen Bierlings Einschätzungen deutscher Regierungschefs auf deren Charaktereigenschaften und deren 'staatstragenden' Zielsetzungen wie Sicherheit, Wohlfahrt, nationalen Interessen (primär ökonomische Interessen), internationale Einbindung (zurückhaltend und selbstbewusst), multilaterale Einbindungen und Normalisierung kritischer Beziehungen (vor allem zu Russland).

Bierling hält vermutlich persönliche Vorstellungen, Motivationen und Zielsetzungen von Regierungschefs für entscheidend, wie sich Staatswesen international darstellen, positionieren und orientieren. Meines Erachtens kommt es vor allem auf Fähigkeiten einer Gesamtregierung an, internationale dynamisch sich ändernde Situationen ohne Vorbehalte wahrzunehmen, Situationen und langfristige Konsequenzen realistisch einzuschätzen und politische Aktionen entsprechend vielfältigen internationalen Interessenlagen (politischen  Umgebungen) 'anzupassen'. 'Anpassen'  bedeutet in diesem Sinn nicht, opportunistisch sondern den Verhältnissen angemessen zu reagieren bzw. zu agieren. Die Durchsetzung staatstragender Interessen hängt vor allem von der ökonomischen 'Mächtigkeit' eines Staatswesens ab.


Außenpolitische Ereignisse und Verträge

Die internationale 'Mächtigkeit' von Kohl, Schröder und Merkel kann meines Erachtens am ehesten eingeschätzt werden, wenn deren Rolle bei international epochalen historischen Ereignissen und internationalen Vertragsvereinbarungen analysiert und offengelegt wird. Die in der Tabelle gelisteten  Ereignisse bzw. Vertragsvereinbarungen nach dem zweiten Weltkrieg waren und sind grundlegend für das heutige demokratisch orientierte Deutschland. Die meisten Regierungsentscheidungen kamen und kommen weniger auf Grund  'staatstragender' Zielsetzungen sondern auf Grund pragmatischer Notwendigkeiten zustande. Internationale Handlungsoptionen von Regierungen sind durch existierende internationale Vertragsvereinbarungen eingeschränkt. Deutsche Regierungen haben nach dem zweiten Weltkrieg erst 1990 staatliche Souveränität zurückgewonnen.

Meine Perspektive auf Regierungshandeln dürfte im 21. Jahrhundert für demokratisch orientierte Staaten zutreffen, weniger für autokratisch regierte Staaten. Anfang des 20. Jahrhunderts waren noch vorwiegend persönliche Vorstellungen, Motivationen und Zielsetzungen von Regierungschefs für das Schicksal ganzer Nationen ausschlaggebend. Bierling bezweifelt, „ob Deutschland als „risikoscheuer, post-militärischer Handelsstaat“ den sicherheitspolitischen Gefahren, die sich aus Staatenzerfall und islamischen Terrorismus ergeben, zu begegnen im Stande sei“. Sollte sich jedoch durch Ihr Studium herausstellen, dass Bierling sehr wohl wesentliche Einflüsse von Kohl, Schröder und Merkel auf internationale Vereinbarungen darstellt, werde ich das Buch lesen. Stephan Bierlings Vorstellungen haben vielleicht das Potential, eine Basis für weitere Konversationen mit wechselnden Perspektiven zu sein.

Fachdisziplin Internationale Politik

Was mich nach Vorwort und Schlusskapitel – und Hiemanns Empfehlung – bewog, doch das ganze Buch zu lesen, war der folgende Satz aus dem Vorwort: ‚Für Advokaten der strukturalistischen Politik-Analyse ist es erstaunlich, wie sehr einzelne Kanzler der Europapolitik, dem zentralen Bereich der deutschen Außenpolitik, ... ihren persönlichen Stempel aufdrückten.‘

Des Weiteren benutzt Bierling Fachausdrücke, die mir nicht geläufig waren. Neben den ‚Strukturalisten‘ gäbe es Neorealisten. Bei denen könne sich Deutschland der Machtpolitik nicht entziehen (da musste ich an Henry Kissinger denken). Die Konstruktivisten leiten das heutige Handeln ganz aus der Vorgeschichte ab. Im Falle Deutschlands ist dies die Jahrhundertkatastrophe Nationalsozialismus (Stichwort Auschwitz). Liberale sähen den Staat als Transmissionsriemen an, um persönliche Ziele durchzusetzen. Schließlich gäbe es noch die Institutionalisten. Diese sähen die Einbindung in EU, NATO, UNO, usw. als bestimmend für die Außenpolitik an. Da haben wir sie wieder, die wissenschaftliche Fachsprache und die unterschiedlichen Schulen. Mit Enttäuschung stellte ich beim Lesen des Buches fest, dass auf diese Einteilung nach Sichtweisen im weiteren Buch kein Bezug genommen wird.

Die Politikwissenschaft ist Teil der modernen Sozialwissenschaften und beschäftigt sich (laut Wikipedia) mit dem Lehren und Erforschen politischer Prozesse, Strukturen und Inhalte. Absolventen dieses Studiums finden Verwendung im Lehramt, in der Publizistik, in Parteien und Parlamenten, in Verbänden sowie in der öffentlichen Verwaltung und in internationalen Organisationen. Die Politikwissenschaft ist wie alle Geisteswissenschaften eine Verbalwissenschaft (im Sinne des Biologen Ulrich Kutschera) und keine Realwissenschaft. Bei ihr steht das sprachliche Erfassen und Gliedern von Meinungen und Sachverhalten im Mittelpunkt des Interesses.

Drei Kanzler, drei Stile

Bierling bemüht sich, die Grundsätze deutscher Außenpolitik am Wirken von drei Kanzlern herauszuarbeiten. Während Kohl und Merkel über mehr als zehn Jahre an der Spitze zur Verfügung standen, beschränkte sich Schröders Zeit auf sieben Jahre. Außer vom Kanzler selbst wird Außenpolitik vor allem vom Außen- und Verteidigungsminister gestaltet. Vor allem in der Europapolitik spielen auch andere Resorts eine Rolle, so z. B. der Finanz- und der Wirtschaftsminister. Auch der Landwirtschafts-, Verkehrs- und Umweltminister verbringen viel Zeit in Brüssel.


Deutsche Außenpolitiker seit 1982

Über die sehr unterschiedlichen Stile von Kohl, Schröder und Merkel sei hier nur kurz berichtet. Helmut Kohl war überzeugter Europäer, von Bierling als Integrationist bezeichnet. Er war auch emotional sehr empfänglich. Eine Kohl-Biografie des Historikers Hans-Peter Schwarz wurde im November 2012 in diesem Blog besprochen. Deshalb soll hier auf die beiden Nachfolger Kohls etwas stärker eingegangen werden.

Gerhard Schröder dachte stärker national als alle Kanzler vor und nach ihm. Er war sehr um die Souveränität Deutschlands besorgt, war also ein Souveränist. Dass er sich dabei manchmal wie ein Polterer aufführte, bekamen vor allem die USA zu spüren. Zu Russlands Putin entwickelte er eine fast groteske Männerfreundschaft. Putin honorierte diese, indem er Schröder ein stattliches Alterseinkommen im Aufsichtsrat der Firma Nord Stream verschaffte. Der zwischen Putin und Schröder vereinbarte Bau dieser Öl-Pipeline erfolgte ganz ohne Polen und das Baltikum zu beteiligen. Da es diese wirtschaftlich schwächte, hat es diese mit Recht verärgert.

Angela Merkel liegt in der Europapolitik sehr stark auf Kohls Linie, wiegt ab und verhandelt mit großer Ausdauer. Zu Frankreichs Nicolas Sarkozy hatte sie einen guten Draht, was seinen Nachfolger François Hollande dazu verleitete, zunächst auf Abstand zu gehen. Merkel verstand es trotzdem, Hollande dafür zu gewinnen, ihre Politik etwa Russland gegenüber zu unterstützen. Auch die USA unter Barack Obama machten es Merkel nicht immer leicht (Stichwort Abhörskandal). Dennoch blieb die Kommunikation immer offen.

Schwerpunkt Europa und Finanzen

Das Glanzstück deutscher Außenpolitik ist die Europapolitik. Nach der deutschen Wiedervereinigung entstand in England und Frankreich Angst vor einer deutschen wirtschaftlichen Dominanz. Um dem entgegenzusteuern, vereinbarten Mitterand und Kohl die Einführung der gemeinsamen Währung. Im Vertrag von Maastricht wurden 1991 auf deutschen Wunsch Defizit- und Schuldengrenzen festgelegt, sowie die Eigenverantwortlichkeit der Partner für ihre Haushalte (No-bail-out-Klausel). Als Kanzler Schröder es verhinderte, dass Deutschland einen Blauen Brief wegen der eigenen Defizitüberschreitung erhielt, brüskierte dies vor allem die kleineren Länder.

Während Joschka Fischer in allem sehr pro-europäisch agierte, versuchte Gerhard Schröder deutsche Zahlungen für die EU zu reduzieren, was ihm aber nicht gelang. In seiner Regierungszeit sank die Zustimmung zur EU von 70 auf 50%. Weitere vier Jahre hätten Schröder vermutlich ausgereicht, um eine Mehrheit der deutschen Wähler für einen EU-Austritt zu gewinnen. ‚Deutschland ist eine erwachsene Nation, die ihre Entscheidungen in Berlin trifft und nirgendwo anders‘, pflegte er zu sagen. Durch den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarn zur EU (und NATO) rückte Deutschland ins Herz Europas. Später kamen noch Slowenien, Estland und Zypern hinzu.

Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 2007 kam es zur größten Bewährungsprobe des Euro-Raumes. Mangels fehlender politischer Mechanismen erwies sich die Europäische Zentralbank (EZB) als Retter in der Not. Auf deutsches Drängen hin wurde eine Vergemeinschaftung von Schulden (Euro-Bonds, Transferunion) verhindert und langfristige Währungsstützen (ESF, ESM) eingeführt. Die Krise verlangte eine deutsche Führung, die auch wahrgenommen wurde. ‚Scheitert der Euro, scheitert Europa.‘ Mit dieser überspitzten Formulierung begründete Merkel ihre Politik. Sie gewann damit sowohl die Unterstützung des Parlaments wie der Bevölkerung. Frankreich und England, aber auch Polen und Italien akzeptierten die deutsche Führungsrolle. Sollte der Euro ursprünglich die deutsche wirtschaftliche Vormachtstellung brechen, so verstärkte er sie in Wirklichkeit ganz erheblich.

Schwerpunkt Weltklima und Welthandel

Deutschland spielt bei diesen Themen zwar eine starke Rolle, ist aber nicht dominierend oder immer konsequent. Da die deutsche Wirtschaft in Schwellenländern wie China, Brasilien und Indien gut aufgestellt ist, bemüht sich auch die Politik ihrerseits um gute Beziehungen. Kanzler Schröder war in sieben Regierungsjahren sechsmal in Peking. Angela Merkel hat einige Schwierigkeiten, weil sie nicht bereit ist, ethisch-moralische Fragen völlig auszuklammern (Beispiel Empfang des Dalai Lamas).

In der Klimapolitik kommt es darauf an, Worte und Taten in Übereinstimmung zu bringen. Nach der frühen Unterzeichnung des Kyoto-Abkommen im Jahre 1997 wurde Klaus Töpfer der erste Leiter des Umweltprogramms der UNO. Das Scheitern der Politiker in Kopenhagen wird durch den Erfolg von 2015 in Paris teilweise wieder wettgemacht. Woran jedoch große Zweifel bestehen, ist der tatsächliche Effekt der beschlossenen Maßnahmen. Der entschlossene Atomausstieg Deutschlands wird zwar bewundert. Klimapolitisch erschwert er das Erreichen der vereinbarten Ziele. Die deutsche Autoindustrie gilt allgemein als Augapfel der deutschen Politik. Ihr zuliebe wurden immer wieder Ausnahmen ausgehandelt. Wurde Schröder als Autokanzler beschimpft, so war ihm das vermutlich nicht unangenehm. Er war nämlich vor seiner Kanzlerzeit Ministerpräsident des Bundeslandes Niedersachsen, das Großaktionär bei VW ist.

NB.: Dass Skandale wie die Abgasmanipulation bei VW-Dieselautos gerade jetzt auffallen, zerstört nachträglich viel von dem Vertrauen, das der deutschen Klimapolitik über Jahrzehnte hinweg entgegengebracht wurde.

Schwachpunkt Sicherheitspolitik, insbesondere Terrorbekämpfung

Die Sicherheitspolitik hatte einst zwei Aspekte, Sicherheit für Deutschland und Sicherheit vor Deutschland. Gerade Frankreich und England waren daher nicht sofort nach Gründung der Bundesrepublik bereit, gewisse Rechte aufzugeben. Daher war und ist die gute Zusammenarbeit mit den USA in allen Sicherheitsfragen umso wichtiger. Während Deutschland sich lange vor militärischen Einsätzen drücken konnte, kam es 1995 nach dem Massaker der Serben in Srebrenica zur Wende. Im späteren Kosovo-Krieg flog Deutschland 1999 bereits Lufteinsätze, obwohl es dafür kein UN-Mandat gab. Obwohl Teile der SPD gegen eine deutsche Beteiligung votierten, stand Gerhard Schröder fest auf der Seite der Bündnispartner. Joschka Fischer benutzte das moralische Argument ‚Nie wieder Auschwitz‘, um seine Parteifreude zu überzeugen. Er wurde auf einer Veranstaltung seiner Partei sogar tätlich angegriffen.

Im September 2001 (nach 9/11) versprach Schröder die ‚uneingeschränkte Solidarität' mit den angegriffenen USA. Da der Überfall in Deutschland vorbereitet wurde, waren unsere Sicherheitsorgane blamiert. Bei der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn sagte daher Deutschland seine Beteiligung an der Isaf-Truppe zu. Daraus wurde ein fast 15-jähriger Einsatz. Als George Bush im Jahre 2002 im Irak einmarschieren wollte, kam es zum Bruch zwischen Bush und Schröder. Jeder sah sich vom andern als getäuscht an. Für den US-Verteidigungs­minister Rumsfeld wurden Deutschland und Frankreich zum ‚alten Europa‘. Um die USA zu provozieren, traf sich Schröder mit Chirac und Putin in Sotchi.  Putin durfte vor dem Bundestag sprechen. Zwischen Deutschland und den USA herrschte dagegen Funkstille.

In Afghanistan wandelte sich der Einsatz im Laufe der Jahre von einer Stabilisierungsmission zur Aufstandsbekämpfung. Statt Schulen und Krankenhäuser zu bauen, mussten Soldaten jetzt ihre Behausungen gegen angreifende Taliban verteidigen. Erst nachdem es Tote gegeben hatte, durften Worte wie Kampf und Krieg verwendet werden. Da ein ‚robuster Einsatz‘ jedoch vom Parlament nicht erlaubt war, verschlechterte sich der Ruf deutscher Soldaten rasant. Als im Falle einer geplanten Sanktion gegen Libyen Deutschland 2011 im Weltsicherheitsrat gegen die USA, England und Frankreich Position bezog, war ein Tiefpunkt erreicht. Deutschland war zum Abwiegler und Bedenkenträger der internationalen Gemeinschaft geworden.

Selbstdiagnose und Ermutigung

Bierling sieht Deutschland  ̶  wie schon von Hiemann erwähnt  ̶  als risikoscheuen, post-militärischen Handelsstaat, der Führungsaufgaben ablehnt. Es müsste sich nach seiner Meinung als Verantwortungsnation verstehen, die sich um die Probleme der Welt kümmert. Sie darf nicht vor ihnen fliehen. Obwohl es deutschen Politikern widerstrebt Macht auszuüben, muss Deutschland sie nutzen, um die Welt weiterzuentwickeln. Das Ziel muss es sein, internationale Krisensituationen zu stabilisieren und anderen Nationen die Möglichkeit zu verschaffen, ihre politische und ökonomische Zukunft autonom und auf friedliche Weise zu gestalten.

Das Aufbauen stabiler politischer Strukturen (engl. nation building) durch Außenstehende ist etwas, was die USA immer wieder vergebens versuchten. Afghanistan und Irak sind abschreckende Beispiele. Dennoch bleiben noch genug andere Aufgaben für militärische Interventionen durch die Weltgemeinschaft, z.B. Streit um Wasser und bebaubares Land, Terror und Flüchtlinge. Dafür werden keine Bodentruppen benötigt. Jedoch sind Luft- und Seeeinsätze sinnvoll etwa gegen verbrecherische Organisationen und Regime wie im Kosovo, Mali und Libyen. (Syrien kommt im Buch noch nicht vor.) Timothy Garton Ash wird zitiert mit der Bemerkung, Deutschland sei unverzichtbar geworden bei (allen) wirtschaftlichen Problemen. Es müsste bereit sein, überproportionale Lasten zu tragen.

Das deutsche Grundgesetz legt im gewissen Sinne die Dominanz der Innenpolitik gegenüber der Außenpolitik fest. Der Bundestag kann der Regierung Fesseln anlegen, die in anderen Demokratien undenkbar sind. Das Bundesverfassungsgericht (BVG) wiederum kann das Parlament auf den Boden der Legalität zurückrufen.

Zusätzliche Bemerkungen

Nach Fertigstellung des Bierling-Buches ging das Leben weiter, auch die Außenpolitik. In ihren Reden auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 argumentierten Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Joachim Gauck ähnlich wie Bierling. Die Bundesrepublik solle sich in außenpolitischen Problemen ‚früher und substantieller einbringen`, sagte Gauck. Das Umdenken scheint also begonnen zu haben. Im Ukraine-Konflikt verfolgte Merkel eine multilaterale, ausgewogene, deeskalierende Politik. Bei den Verhandlungen für das Minsker Abkommen von 2014 moderierte sie nicht nur. Frankreichs Hollande ließ ihre Führung zu. Ob die Flüchtlingskrise unseren Staat an die Grenzen seiner Leistungs- und Anpassungsfähigkeit führen wird, wird sich zeigen. Einige Beobachter sehen diese Grenze schon als überschritten an.

Übrigens wird im Buch von Bierling das Wort ‚Verantwortungspolitik‘ anders benutzt als zurzeit von Markus Söder und Horst Seehofer. Für sie ist es das Gegenteil von ‚Gesinnungspolitik‘. So nennen AfD und CSU nämlich die Politik, wegen der sie Angela Merkel und die SPD in der Flüchtlingsfrage so heftig kritisieren. 

Donnerstag, 21. Januar 2016

Geschichten aus Putins Reich

Russland ist für uns Deutsche ein schwieriges Thema. Mal sehen wir das Land als aufsteigenden Wirtschaftspartner, der erfolgreich die kommunistische Zwangsjacke abgeschüttelt hat, mal als Land, das es schwer hat, sich westliche Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten zu eigen zu machen. Der Name Putin, insbesondere aber der Begriff Putinismus, deuten in die zweite Richtung.

Wir im Westen können Russland nicht verstehen, außer wir sprechen russisch perfekt und haben mehrere Jahre sowohl im Moskau, wie auch in der Provinz gelebt. Also ist es klüger, nicht über Russland zu schreiben!

So schrieb Otto Buchegger in einem Kommentar zu meinem Beitrag über den Putinismus Ende Februar 2014, also vor fast zwei Jahren. Ich hielt mich fortan zurück, und zwar mit dem Ergebnis, dass Russland in diesem Blog nicht mehr vorkam. Dieser Tage las ich den Bericht eines Engländers russischer Abstammung, der neun Jahre in Putins Reich gearbeitet hat. Das Buch heißt Nichts ist wahr und alles ist möglich  ̶  Abenteuer in Putins Russland und ist von Peter Pomerantsev. Es erschien im Jahre 2015 und hat 234 Seiten.

Wanderer zwischen den Welten

Pomerantsev kam wie eine Vielzahl westlicher Experten im Jahre 2000 als Fernseh-Journalist nach Moskau und arbeitete für verschiedene russische Sender und Medienunternehmen. Er erlebte den Putinismus tagtäglich und beruflich. Als perfekt zweisprachiger Fachmann war er begehrt und nützlich. Obwohl innerrussische Programme ihn am meisten anzogen, war ‚Russia Today‘ sehr an ihm interessiert. Das ist der staatliche Sender, der ganztägig ein englisch-sprachiges Programm ausstrahlt, mit dem die ‚russische Sicht‘ der Dinge vermittelt wird. Er lehnte die Zusammenarbeit ab.

Der Sender TNT, für den er vorwiegend arbeitete, ließ ihm weitgehend freie Hand, sowohl was die Stoffauswahl als auch die Gestaltung und die Aussagen betraf. Gewisse Empfehlungen jedoch konnte er nicht ignorieren, die auch im Westen üblich sind, etwa dass der Stoff oder die Botschaft der Sendung so nicht bei den Zuhörern ankämen. Im Jahre 2010 ging Pomerantsev nach England zurück, mit dem Gefühl eigentlich neun Jahre verloren zu haben. Er musste in England wieder ganz von vorne anfangen. Zumindest verarbeitete er seine Erfahrungen in Form dieses Buches. Seine Geschichten sind es, die einen aufrütteln, da sie unmittelbar erlebt sind. Sie untermauern die teilweise bekannten Berichte über die Umstände, unter denen die Menschen heute in Russland leben.

Gesellschaft ohne Halt

Viele Russen sanken nach dem Untergang der Sowjetunion ins Bodenlose. An die Stelle einer politischen Doktrin trat vielfach eine geistige und emotionale Leere. Nur relativ wenige Menschen fanden Halt im Religiösen. Das steht im Gegensatz zur Zahl der wiederaufgebauten Kirchen und Klöster mit ihren vergoldeten Kuppeln. Diese dienen vor allem dem Staat zur Demonstration seines Willens zur Wiedergutmachung nach 70-jähriger Unterdrückung der orthodoxen Kirche. Wie bekannt, schuf die Privatisierung von früherem Staatsbesitz eine neue Schicht von Reichen, die so genannten Oligarchen. Es sind dies fast ausschließlich Männer im mittleren Alter. Wo diese als Forbes-Männer bezeichneten neuen Helden auftreten, hängen sich junge Mädchen an sie dran. Diese als Goldgräber (engl. gold diggers) bezeichneten Frauen strömen aus den Provinzen in die Großstädte. Mangels beruflicher Qualifikation enden viele in der Prostitution.

Das in Russland schon zur Zarenzeit bestandene Potential für esoterische Heilprediger sprudelte wie nie zuvor. Eine Unmenge ausländische Sekten und Gurus verbreiteten ihre Lehren und ihr Geld. Eine Beispiel war eine Organisation mit dem Namen  ‚Weltrose‘. Sie stammte aus den USA, wo ihr Wirken von Gerichten unterbunden wurde. Um sie rankt sich die folgende Geschichte. Es ist die Geschichte des Models Ruslana. Ruslana wurde in Almaty, der Hauptstadt Kasachstans, als Tochter eines Offiziers der Roten Armee geboren. Als die Sowjetunion zerfiel, ergriff der Vater dort einen Zivilberuf. Die Tochter wurde wegen ihres kindliches Gesichts, ihrer blauen Augen und der schulterlangen Haare von einem örtlichen Fotografien für eine lokale Zeitung zum ersten Mal fotografiert. Das Bild fiel einer russischen Agentin auf, die weltweit mit der Modelsuche beschäftigt war. Sie suchte die Familie auf und vereinbarte, dass das Mädchen zuerst ihre lokale Schule abschließen und sich danach durch professionelles ‚Shooting‘ etwas Geld verdienen dürfte, ehe sie zum Studium nach Moskau ginge. Ihre Fotos, vor allem die für die Parfümmarke Nina Ricci machten sie derart bekannt, dass sich plötzlich alle Werbeagenturen der Welt um sie rissen. Sie pendelte nur noch zwischen Moskau, London, Paris und New York.

Während eines Aufenthaltes in Moskau besuchte sie, zusammen mit einer befreundeten Kollegin, die Kurse der Firma Weltrose. Ein sich als Psychologe ausgebender Kursleiter versprach den Teilnehmern, ihnen bei der Persönlichkeitsentwicklung zu helfen. Durch öffentliches Bekennen aller Ängste (und Zahlung der Kursgebühr von über 1000 Dollar) würde er aus ihnen völlig autonome und erfolgssichere Persönlichkeiten machen. Wer es im ersten Kurs nicht schaffe, könnte weitere Kurse besuchen. Ruslana war anschließend zu einem Fototermin in New York und sollte nach Paris weiterreisen. In der Nacht vor dem Weiterflug stürzte sie sich vom neunten Stock ihres Hotels auf die Straße. Bei der polizeilichen Untersuchung wurden weder Spuren von Alkohol oder Drogen, noch Hinweise auf Fremdeinfluss festgestellt. Auffallend war nur, dass sie fast zehn Meter vom Gebäude entfernt aufschlug.

Obwohl Pomerantsev monatelang an den verschiedensten Orten der Welt recherchiert hatte, war kein russischer Sender bereit, seine Story zu bringen. Es fehle die positive Botschaft, wurde ihm mitgeteilt.

Staat als Syndikat

Michael Gorbatschows Versuch, in Russland die Demokratie einzuführen, wird heute vor allem in Russland als Fehlschlag angesehen. Wie es in amtlichen Aussagen heißt, wurde die Demokratie nicht abgeschafft. Es gibt weiterhin Wahlen und Parteien. Wladimir Putin (*1952) kam beide Male durch Wahlen an die Macht. Da wo die Demokratie versagte, greife man auf andere politische Ideen zurück. Man nähme aus einem größeren Repertoire an Möglichkeiten das, was passt oder hilft. Wer diese Argumentation am besten beherrscht, ist Putins Berater Wladislaw Surkow (*1964). Ehe er in die Politik wechselte, war er als Banker tätig und half unter anderem Michail Chodorkowski (*1963) zur Aktienmehrheit bei der Ölgesellschaft Jukos. Ihm wird die Gründung der russischen Regierungspartei Einiges Russland (2001) sowie der Jugendorganisation Naschi (2005) zugeschrieben.

Surkow war zuletzt Vize-Ministerpräsident, musste aber 2013 zurücktreten, weil er angeblich einige Dekrete Putins nicht angemessen umgesetzt hätte. Er gilt heute als Drahtzieher Putins im Hintergrund und der stärkste Verfechter des Putinismus. Er soll Putin dabei beraten, wie er seine Politik inszeniert. So soll Putin beim Anschluss der Krim weitgehend Surkows ‚Regieanweisungen‘ gefolgt sein. Surkow wurde 2014 auf die Sanktionsliste gesetzt, die ihm die Einreise in die USA und die EU verbietet.

Die Meinung vieler russischer Bürger über ihren Staat sei katastrophal, meint Pomerantsev. Sie hielten alles nur für Propaganda-Gehabe. Bei ausländischen Politikern würden grundsätzlich negative Einstellungen zu Russland unterstellt. Es ginge denen einzig darum, Russland klein zu halten. Dem muss die russische Regierung gegensteuern. Das tut Putin als früherer Geheimdienstler vorwiegend mit Hilfe früherer Kollegen. Bestechung und Erpressung seien bewährte Methoden. Dass Gerhard Schröder für eine Tätigkeit im Aufsichtsrat einer halbstaatlichen Firma 250.000 Euro pro Jahr bekommt, ließe sich nur so erklären.

Manche Russen hätten auch ein messianisches Bewusstsein. Sie sähen Moskau wieder als drittes Rom, das gegen eine Degeneration christlicher Werte kämpfen muss, z.B. Blasphemie und Schwulenehe,

Risiken des Wirtschaftens

In der Wirtschaft bestehen Betätigungsmöglichkeiten außer für die Oligarchen selbst vor allem in deren Schatten oder an ihrem Rande. Erfolg hat  ̶  nach gängiger Meinung  ̶  nicht der selbständige Aufsteiger, sondern der sich anpassende Apparatschik. Anstatt weitere generelle Aussagen wiederzugeben soll das Beispiel der Unternehmerin Jana die Situation beleuchten.

Jana (der Nachname ist hier unwichtig) betrieb einen Chemikalienhandel. Eines Tages wurde sie beim Verlassen ihres Fitnessstudios von Beamten des Rauschgiftdezernats verhaftet. Ihr wurde vorgeworfen Diethylether vertrieben zu haben. Diethylether wird als Stärkungs- bzw. Lösemittel sowohl in der Medizin wie in der Chemie häufig verwandt. Durch ein neues Gesetz wurde es als Betäubungs- und Rauschmittel eingestuft. Jana wurde Drogenhandel unterstellt und in ein Frauengefängnis eingeliefert. Dort verblieb sie sieben Monate lang.

Zwischendurch versuchten ihre Eltern einen Anwalt für sie zu finden. Die beiden ersten, die sie kontaktieren, empfahlen, dass Jana sich schuldig bekenne und dass die Eltern ihr Eigenheim verkauften, um das nötige Schmiergeld aufzutreiben, um die ermittelnden Beamten zu bestechen. Erst der dritte Anwalt, mit dem sie sprachen, war bereit auf Freispruch zu plädieren. Er schaffte es sogar, dass der Fall in die Medien kam und dass Demonstranten auf die Straße gingen. Jana wurde schließlich auf Kaution freigelassen. In der Hauptverhandlung erreichte die Verteidigung, dass Experten zugelassen wurden. Als Ergebnis ihrer Aussage wurde das Gesetz, für dessen Verletzung Jana angeklagt worden war, abgeschafft.

Pomerantsev wurde erlaubt, über den Fall im Fersehen zu berichten, und zwar mit zwei Auflagen: Er musste auf alle Andeutungen bezüglich des politischen Hintergrunds verzichten und er musste gleichzeitig über den Fall einer zweiten ‚tapferen‘ Frau berichten, die 50.000 Dollar aufgetrieben hatte, damit ihr Kind einer teuren medizinischen Behandlung unterzogen werden konnte. Die Sendung erhielt – wie erwartet  ̶  eine hohe Einschaltquote.

Im Buch erläutert Pomerantsev, dass ‚staatliche Beutezüge‘ (engl. state raids) gegen Unternehmen immer wieder vorkamen, wenn Beamte die Firma ausraubten oder verkauften, während der Eigentümer wegen eines angeblichen Brandschutz- oder Steuerdelikts im Gefängnis saß. Nur der Fall von Jukos und Chodorkowski sei im Westen bekannt geworden. Im Übrigen sei Janas Fall für die Angeklagte so glimpflich verlaufen, weil die Rauschgiftbehörde (FSKN) unter Viktor Tscherkessow (*1950) und der Geheimdienst (FSB) unter Nikolai Patruschew (*1951) sich gerade heftig bekämpften. Beide Behördenleiter waren Freunde Putins aus seiner St. Petersburger KGB-Zeit. Putin löste den Streit in bester Mafia-Manier, indem er beide absetzte.

Fluchtpunkt London

In der Stadt Moskau gab es um 2010 einige deprimierende Eindrücke. Tag und Nacht waren Abrissbirnen im Einsatz, denen alte Gebäude zum Opfer fielen, die man aus Gründen des Denkmalschutzes hätte retten müssen. An ihrer Stelle entstanden wilde Neubauten, so wie es sie in jeder Stadt der Welt zu sehen gibt. Großflächige Wald- und Torfbrände umzingelten im Sommer die Stadt und überzogen sie mit Rauch und Gestank.

Wer es konnte, der verschaffte sich einen Zweitwohnsitz woanders. Für Künstler und Oligarchen war dies sehr oft London. Hier war man in Sicherheit, sollte Putin einen nicht mehr gewähren lassen. Als Pomerantsev wieder dorthin kam, wunderte er sich, wie viele Russen inzwischen dort lebten und wie sie das Stadtbild bestimmten. Viele Hotels und Grundstücke in besten Londoner Lagen haben inzwischen russische Besitzer, ebenso der Fußballclub FC Chelsea. Dieser gehört auch heute noch Roman Abramowitsch (*1966). In London konnte der Autor erleben, wie Abramowitsch und sein früherer Geschäftspartner Boris Beresowski (1946-2013) sich vor einem englischen Gericht wegen der Übernahme der Ölgesellschaft Sibneft stritten. Als die Richterin zu Gunsten von Abramowitsch entschied, nahm sich Beresowski wenige Tage später in Ascot das Leben. Als ob es in England nicht schon genug Probleme gäbe – stöhnt Pomerantsev.

Samstag, 16. Januar 2016

Verhinderung von Selbstmordattentaten sowie eventuelle Schutzmaßnahmen

Zurzeit vergeht kaum eine Woche, ohne dass von Selbstmordattentaten berichtet wird. Wie allgemein bekannt kann man einen Selbstmordattentäter nicht durch Strafandrohung von seinem Vorhaben abbringen. Eine Verschärfung von Gesetzen, ja selbst die Androhung der Todesstrafe sind wirkungslos. Die polizeiliche Observierung von Plätzen, Märkten, Bussen und anderen Menschenansammlungen ist nur bedingt möglich und wenig erfolgversprechend. Trotzdem oder gerade deshalb muss man über mögliche Abwehrmaßnahmen nachdenken. Sie  müssen vor der Tat wirksam werden, spätestens in letzter Minute. Obwohl ich weder Kriminologe noch Geheimdienstexperte bin, stelle ich im Folgenden zusammen, was mir an Möglichkeiten einfällt.

Täterprofile und -motive

Bei männlichen Tätern muslimischer Herkunft wird oft damit argumentiert, dass ihnen die versprochene Belohnung im Jenseits als Motiv der Tat dienen könnte. Nach muslimischer Lehre wird ein Glaubensmärtyrer im Paradies von einer Schar himmlischer Jungfrauen erwartet, die sich um ihn kümmern würden. Für die allerdings wesentlich geringere Zahl weiblicher Täter wird dieses Bild nicht bemüht, auch nicht ein Bild mit umgekehrten Geschlechtern. Ich würde solche mystischen Vorstellungen nicht als Motiv ernsthaft in Erwägung ziehen.

Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die Täter fast immer als Opfer für eine gute Sache ansehen. Diese Opferrolle fällt ihnen umso leichter, je mehr sich der Einzelne als Teil einer Gruppe oder einer Ethnie ansieht, die derzeit in Bedrängnis ist. Die Gruppe kann im eigenen Land von anderen Gruppen oder externen Mächten bedroht sein. Täter mit muslimischem Hintergrund können aber auch im Ausland leben, etwa in Frankreich, und sich dort gesellschaftlich benachteiligt fühlen. Entscheidend ist nicht die wirkliche Situation, sondern das individuelle Gefühl. Dieses kann von wenigen Propagandisten angeheizt worden sein. Eine besondere Rolle spielen in dieser Hinsicht die so genannten Hassprediger. Sie beeinflussen oft mehrere potentielle Täter. Als direkte Auftraggeber sind sie aber meist nicht greifbar.

Zwischen dem Entschluss zur Tat und der Durchführung liegen oft nur wenige Tage oder Wochen. Es kann aber auch 2-3 Jahre dauern wie im Falle der Täter des 11. September 2001 in New York und Washington, DC (kurz 9/11 genannt). Diese mussten noch zuerst einen Pilotenkurs in den USA absolvieren. Es handelt sich also um eine überlegte Entscheidung und nicht um eine Laune des Augenblicks. Wenn der Schritt mit einer Gruppe Gleichgesinnter abgesprochen wurde, findet nicht selten eine formelle Verabschiedung statt. Der Täter wird als Held gefeiert und ein Abschiedsvideo für die Hinterbliebenen erstellt.

Typische Täter haben keine besondere Veranlagung zum Suizid. Es handelt sich aber oft um labile Charaktere, die selbst nicht über einen starken Antrieb verfügen oder großes Selbstvertrauen besitzen. Sie lassen sich leicht von einer Gruppe beeinflussen und in die Opferrolle hineindrängen. Die meisten Täter sind 20-30 Jahre alt. Es erscheint uns etwas befremdlich, wenn der so genannte Islamische Staat (IS) behauptet, ganze Heerscharen von europäischen Jugendlichen angeworben zu haben, die nach Syrien reisten, um sich für Selbstmordattentate zur Verfügung zu stellen.

Vermutete Ziele eines Attentats

Über die Ziele, die durch ein Selbstmordattentat erreicht werden sollen, kann man meistens nur spekulieren. Der Attentäter selbst kann ja nicht befragt werden, es sei denn das Attentat misslingt aufgrund technischer Fehler. Sollte der Täter im Auftrag gehandelt haben, gibt es Hintermänner. An sie heranzukommen, ist meistens nicht leicht.

Die Wirkung kommt zunächst von dem Willensakt und der Entschlossenheit, die durch die Tat zum Ausdruck gebracht werden. Sehr oft sollen außer dem Täter selbst auch möglichst viele andere Menschen zu Tode kommen. Je größer die Zahl der Opfer, je bekannter der Ort, umso größer ist die mediale und psychologische Wirkung. Oft kann aus den Umstanden der Tat auf den gedachten Gegner geschlossen werden. Es kann sich um einzelne Politiker oder Prominente handeln, die man treffen will, oder eine bestimmte Regierung, deren Sicherheitskräfte, eine Unternehmensbranche oder das ganze Land. Die 9/11-Attentate sollten die gesamten USA treffen.

Dem Gegner soll durch die Art der Ausführung der Attentate seine Machtlosigkeit vor Augen geführt werden. Wird dieses Ziel der Terrororganisation Al Qaida mit Recht unterstellt, so geht die Nachfolgeorganisation IS darüber hinaus. Sie beabsichtigt offensichtlich eine Verunsicherung der gesamten westlichen Gesellschaft. Angeblich sieht man diese dem sicheren Abstieg oder gar der Auflösung verfallen und will dem nachhelfen. Aus dem erwarteten Chaos soll dann ein neues Kalifenreich als Sieger hervorgehen, das große Teile der Welt umfasst. Es sei dies der Idealzustand für alle Islam-Gläubigen auf Erden. Als Kalif bezeichnet sich derzeit der Iraker Abu Bakr al Baghdadi. Diese Ziele des IS haben zum Beispiel die Gesprächspartner von Jürgen Todenhöfer bei dessen Besuch in Mossul klar formuliert. Mögen sie uns noch so spinnert erscheinen, das ändert nichts für die Betroffenen.

Deutschland betreffend scheint das Ziel darin zu bestehen, das Misstrauen zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Flüchtlingen aus islamischen Ländern zu vergrößern. Es soll die viel gerühmte Willkommenskultur in das Gegenteil verkehrt werden. Das jüngste Attentat in Istanbul am 12. Januar 2016, das neun deutsche Todesopfer zur Folge hatte, soll Rache für das deutsche Engagement im Syrienkonflikt als Motiv gehabt haben. Noch haben sich keine Hintermänner geäußert. Wir haben daher nur Vermutungen. Das nur zwei Tage später in Jakarta verübte Attentat richtete sich gegen ein Einkaufszentrum. Was der IS damit bezweckt, in der größten muslimischen Nation der Welt Unheil anzurichten, entgeht den bekannten Erklärungsversuchen.

Erschwerung und Verhinderung

Will man derartige Opferattentate erschweren oder verhindern, muss man die verschiedenen Formen der Ausführung unterscheiden. Ich konzentriere mich zunächst auf die sehr häufig benutzte Form, dass sich der Täter in unmittelbare Nähe der zusätzlich anvisierten Opfer begibt, um dort einen mit  Sprengstoff bestückten Gürtel zu entzünden. Das mit Sprengstoff voll geladene Auto kommt dem am nächsten, egal ob Personen- oder Lastauto.

Sprengstoffe können heute dank des Spürsinns speziell trainierter Hunde entdeckt werden. Könnte man genug Hunde trainieren, würde man keine Massenveranstaltung oder Reisegruppe ohne eine ausreichende Anzahl von Spürhunden zulassen. Die entscheidende Frage ist, ob sich diese spezielle Spürfähigkeit technisch nachbauen lässt. Gäbe es einen chemisch oder elektronisch nachgebauten Spürhund, wäre das ein tolle Zusatzfunktion für jedes Smartphone. Eine Alternative ist die Erkennung von versteckten massereichen Objekten auf optischem Wege oder mittels Röntgenstrahlen. Auch auf dieser Basis ließen sich für ein Smartphone geeignete Sensoren vorstellen. Allein schon die Ankündigung, dass an entsprechenden Geräten gearbeitet wird und demnächst im Testeinsatz verfügbar seien, könnte bereits abschreckende Wirkung haben. Anstatt des Erkennens könnte auch die erzwungene Zündung der Sprengladung sehr hilfreich sein.

Ehe wir dank neuer Technik über neue Detektoren verfügen, die jeder Polizist oder Reiseleiter bei sich führen könnte, müssen wir nach nicht-technischen Lösungen suchen. Nur eine Idee möchte ich vertiefen. Warum ist es nicht möglich, alle Sprengstoffhersteller auf der ganzen Welt festzustellen und zu registrieren? Einerseits könnte die Materialbeschaffung und der Absatz kontrolliert werden. Andererseits könnten alle legalen Hersteller gezwungen werden, ihre Sprengstoffe durch einen chemischen Zusatz zu kennzeichnen. Dieser Zusatzstoff könnte das Produkt für elektronisches oder chemisches ‚Schnüffeln‘ geeigneter machen. Bekanntlich findet zwischen Verbrechern und Sicherheitsorganen ein nicht endender Wettlauf statt, der sowohl die technischen wie die nicht-technische Verbesserungen betrifft. Jede Lösung wirkt daher nur einige Jahre lang. Das ist jedoch kein Grund, nicht nach ihnen zu suchen.

Neben Sprengstoff basierten Attentaten kennen wir leider noch viele andere Formen. Für Angriffe mit Waffengewalt steht das gesamte Arsenal zur Verfügung, über das auch reguläre Streitkräfte verfügen. Waffenbesitz zu kontrollieren oder zu verbieten ist ein sehr umfassendes und schwieriges Thema, auf das ich nicht näher eingehen will. Für das Entdecken mitgeführter Waffen gelten einige der Aussagen, die weiter oben für Sprengstoff gemacht wurden. Eine besonders schwer zu bekämpfende Form terroristischer Angriffe ist das Besetzen und das anschließende Umfunktionieren von Verkehrsmitteln (wie Flugzeuge, Züge, Schiffe und Busse) oder von Verkehrseinrichtungen und Veranstaltungsorten (wie Stadien, Flughäfen, Bahnhöfen und Tunnels). Zum Glück blieb uns bisher der Einsatz atomarer oder chemischer Waffen durch Einzeltäter erspart. Nur staatliche Streitkräfte sind verantwortungsloser.

Schutzmaßnahmen

Dass Polizisten auch bei uns ihren Außendienst mit kugelsicheren Westen bekleidet versehen, gehört fast zum Straßenbild. Was sich bei Soldaten und Polizisten bewährt hat, könnte auch Touristen schützen, wenn sie in Gruppen durch unsichere Städte wandern. An die Vorstellung, dass Helme und Schutzwesten bei Gruppenreisen und beim Besuch von Open-Air-Konzerten unverzichtbar sind, müssen wir uns noch gewöhnen. Ein Reiseführer könnte seine Kunden schützen, indem er das Umfeld mit verbesserten Körper-Scannern durchleuchtet, die auf Waffen oder Sprengstoff aus fünf Metern Entfernung ansprechen.

Ein in den USA oft verwandtes Argument lautet, dass man sich gegen Gewalt am besten schützt, indem man sich selbst bewaffnet. Auch in Israel ist diese Mentalität verbreitet. So erinnere ich mich an einen dortigen Reiseleiter, der uns im April 1983 im Kleinbus durch das ganze Land fuhr. Unter seinem Fahrersitz lag seine Uzi. In andern Teilen der Welt erfüllt die Marke Kalaschnikow diese Funktion. Zum Glück wurde sie während unserer Reise nicht benötigt. Um ein Paket, das mitten auf der Uferstraße am See Genezareth lag, machten alle Autos einen großen Bogen. Israel lebt mit terroristischer Bedrohung seit über 30 Jahren und hat sie verinnerlicht.

Fast wie eine Pandemie

Leider ist das Selbstmordattentat ein äußerst heimtückisches Verbrechen, bei dem viele der klassischen Schutzmaßnahmen versagen. Genau das wissen die Täter und nutzen es aus. Der Preis ist auf der Täterseite sehr hoch  ̶  nämlich das eigene Leben. Aber seine Wirkung ist auch enorm. Es bedient meines Erachtens einen skurrilen Allmachtsdünkel. Dabei geht es ums Zerstören statt ums Aufbauen, ums Töten statt ums Heilen oder Beleben. So wie jeder Amoklauf generell die Frage nach Schwächen der menschlichen Psyche aufwirft, so tut dies auch jedes Selbstmordattentat. Es ist zu hoffen, dass die Motivation für diese Opferform auch mal wieder nachlässt. Noch grassiert sie wie eine Seuche.

Dienstag, 12. Januar 2016

Integration als Aufgabe und Prozess

In seinem Blog-Beitrag überschrieben ‚Unser Problem und das der Flüchtlinge‘ weist Hartmut Wedekind darauf hin, dass man das Flüchtlingsproblem von zwei Seiten sehen muss. Beide Seiten hätten ein Problem, aber auch eine Chance. Wir Deutsche müssten die Integration zulassen und ermöglichen. Der Flüchtling müsste sie wollen, ja anstreben. Auf die Interessenlage der Flüchtlinge hätten wir Deutsche allerdings kaum Einfluss. Als Beispiel, was er tun würde, müsste er in Syrien Asyl suchen, sagt Wedekind, dass er auf den Plätzen von Damaskus Grimms Märchen auf Arabisch erzählen würde. Im Folgenden werde ich versuchen für das Problem der Einwanderung einige Lösungsmöglichkeiten zu beschreiben, und zwar aus Sicht der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft.

Integrationsaufgabe

Nach meinem Eindruck ist der Begriff Integration reichlich überstrapaziert. Er ist zu einer Art von Zauberwort geworden, mit dem man eines der größten Probleme unserer Tage lösen zu können glaubt. Integration drückt sowohl eine Aufgabe wie einen Prozess aus. Die Aufgabe besteht darin aus den hilfesuchenden Fremden sich selbst versorgende Einheimische zu machen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den (echten) Asylsuchenden, die sofort nach Hause wollen, sobald sich ihre persönliche Bedrohung aufgelöst hat, und anderen Personengruppen. Die Integrationsaufgabe besteht nur für den Teil der Flüchtlinge, der hier bleiben will. Je nachdem, wen man fragt, seien dies 15 bis 25%. Hinzu rechnen muss man jedoch alle Armutsmigranten. Sie sind nicht durch Krieg und Verfolgung bedroht, erhalten also keinen Asylantenstatus. Ihre Zahl ist vermutlich wesentlich höher als die Zahl der Asylanten, die integriert werden wollen oder müssen.

Ohne Zweifel ist die Integration der aktuellen Zuwandererströme eine Herkules-Aufgabe. Sie erfordert Planung und Anstrengungen, weit über das übliche Maß hinaus. Unangenehm und für jede geordnete Planung abträglich ist es, dass die Wünsche und Träume der Flüchtlinge nicht immer von der Realität erfüllt werden. Wer glaubte, maximal ein halbes Jahr im Asyl bleiben zu müssen, bei dem kann es auch sechs Jahre dauern, bis sich die Verhältnisse ändern. Gerade im Nahen Osten gibt es Flüchtlingsprovisorien, die schon 30 Jahre bestehen. Im Gegensatz zu Asylanten besteht bei Armutsflüchtlingen diese Unsicherheit nicht. Sie haben den Entschluss gefasst, nach einem langfristigen neuen Lebensmittelpunkt zu suchen. Sie sind bereit, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und den Neuanfang zu wagen. Bei vielen Zuwanderern können falsche Erwartungen bezüglich des Gastlandes bestehen, die das Einleben erschweren oder behindern. Aus der Ferne sieht manches anders und meist prächtiger aus als aus der Nähe. Auch die Medien können dafür verantwortlich sein, dass ein verzerrtes Bild vermittelt wurde. Vor allem aber erzeugen die früheren Migranten fast immer ein positiv überzeichnetes Bild, auch wenn die eigenen Erwartungen nicht ganz erfüllt wurden.

Die wahren Zahlenverhältnissen berücksichtigend werde ich im Folgenden statt von Asylbewerbern vorwiegend von Migranten sprechen. Der Begriff Flüchtlinge ist ein Synonym für Asylbewerber. Flüchtlinge haben gewisse Rechte, die Migranten im Allgemeinen nicht genießen, zum Beispiel das Recht auf Asyl. Nur sie unterliegen der Genfer Flüchtlingskonvention.

Integrationsprozess

Das Wort Integration suggeriert eigentlich ein 'Zusammenmischen' von gleichstarken Elementen, also einen Prozess, bei dem ein Mischprodukt entsteht. Aus Weiß und Rot wird Rosa. Das will aber kaum jemand, zumindest auf Seiten der heutigen deutschen Bevölkerung. Wir denken eher an Assimilierung (oder Assimilation), den Prozess, den Erdogan im Falle seiner türkischen Auswanderer als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnete. Man sagt A, meint aber B. Das ist im Leben oft so. Man nennt das auch Euphemismus. Das ist ein so genanntes Hehlwort, das der Verbrämung und Beschönigung eines unangenehmen Sachverhalts dient. Nur zum Vergleich: In der Biologie ist die geschlechtliche Fortpflanzung immer eine Form der Kombination von Genen. Soweit Gene eine Rolle für das Individuum (den Genotyp) spielen, findet eine Mischung statt, wenn auch keine planbare oder systematische.

Weder in der Wirtschaft noch im Sozialen will man derzeit diese Form von Integration. Man hofft, dass der Migrant oder die Migrantin sich voll der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung anpassen. Das geht aber nur, falls diese bereit sind, gewisse Eigenheiten aufzugeben. Multikulti war einmal ein Traum bei einer Gruppe von Politikern, die heute sehr ruhig geworden ist. Bei der Assimilation geht es üblicherweise um die Verschmelzung einer Minderheit mit der Mehrheit des Volkes. Sie umfasst fast immer die Sprache, das Schulsystem und den Arbeitsmarkt. Bräuche und Trachten können beibehalten werden, rücken aber an den Rand. Sie werden zur Folklore. Sehr schwierig sind immer die gesellschaftlichen Kontakte zu Mitgliedern anderer Gruppen. Bei den Polen im Ruhrgebiet blieben nur Name und Konfession übrig. Bei einigen 'integrierten' Türken und Arabern ist dies ähnlich, e.g. Özdemir und Al-Wazir.

Diese Form der Anpassung klappt nur solange, wie die Zahl der Migranten gering ist. Je größer die Zahlen, umso eher gibt es Gruppenbildung und Absonderung. Heiratet man untereinander, entstehen Parallelgesellschaften. Massen von jungen Männern ergeben fast immer Ärger, gleich ob als Asylbewerber oder Migranten. Es sei denn, sie bleiben nur für eine beschränkte Zeit, zum Beispiel als Studierende oder als Saisonarbeiter. Die Ereignisse in der Neujahrsnacht in Köln bewiesen sehr schmerzhaft, welche Gefahren bereits heute aus dieser Personengruppe erwachsen können.

Die Integration von Ausländern hat große Ähnlichkeiten mit der Erziehung von Kindern. Auch sie müssen für das gesellschaftliche Leben und den Arbeitsmarkt fit gemacht werden  ̶  obwohl manche Pädagogen aufschreien, wenn man dies als Hauptziel ihrer Bemühungen fordert. Integration ist in weiten Teilen ein Bildungsprozess. Sofern nicht der Eigenantrieb reicht, kann er eine gezielte Erziehung (auch schon mal Edukation genannt) erfordern. Der Verlauf des Integrationsprozesses kann sehr unterschiedlich sein, je nach dem Lebensalter, wann er einsetzt, oder der beruflichen Ausrichtung, die angestrebt wird. Nur einige Hinweise sollen dazu gegeben werden.

Unterschiede nach Altersstufen

Hier lassen sich fünf große Stufen unterscheiden. Gemeint ist das Alter einzelner Familienmitglieder zum Zeitpunkt der Einwanderung.
  • Vorschul- und Grundschulkinder (unter 10 Jahren): Hier sind die Voraussetzungen am günstigsten. Die Lernfähigkeit ist enorm.
  • Sekundarstufe (bis 18 Jahre): Oft reichen Zusatzkurse, um Anschluss an Sprach- und Lernniveau zu erreichen.
  • Lehr- ober Studienzeit (bis 25 Jahre): Nach Spracherwerb gute Einstiegsmöglichkeit in Lehre oder Studium.
  • Frühe Berufs- und Ehejahre (bis etwa 40 Jahre): Nur bei wenigen Berufen Anpassung möglich. Oft signifikanter Aufwand.
  • Spätere Berufsjahre (über etwa 40 Jahren): Große Anpassungsschwierigkeiten.

Unterschiede nach Berufsgruppen

Vier Gruppen lassen sich bilden, die sich wesentlich voneinander unterscheiden.
  • Ungelernte Tätigkeiten: Schnelle Einsatzfähigkeit ohne Zeitverlust.
  • Haushalts- und Pflegeberufe: Einfache Sprachkenntnisse ausreichend; Leichte Übertragbarkeit des nötigen Wissens.
  • Handwerkliche Tätigkeiten/Facharbeiter: Beschränkter Sprachschatz ausreichend; Lehr- und Lernphase im Bereich von 1-2 Jahren.
  • Akademische Berufe: Keine oder nur aufwendige Umqualifizierung möglich. Erhebliches Sprachvermögen unabdingbar. Bei Naturwissenschaften und Technik leichter als bei Geisteswissenschaften und Medizin.

Spezifische Maßnahmen und Techniken

Es gibt eine Reihe von Maßnahmen, die entweder der Migrant oder die aufnehmende Seite ergreifen können, um den Integrationsprozess zu beschleunigen. Einige Beispiele folgen.
  • Patenschaften durch Bürger, individuelle Integrationshelfer, Stipendien.
  • Soziales und politisches Engagement des Migranten bzw. der Migrantin, z. B. Politische Parteien, Lokalpolitik, Kirchen, Bürgerinitiativen (NGOs), Schulsport, Elternbeirat.
  • Gesellschaftliche Kontaktpflege. z. B. Schützen-, Musik-, Gesang-, Kegelverein; Wandern, Feuerwehr, Modelleisenbahn, Modellflieger, Erwachsenensport (Fußball, Tennis, Radeln, Rudern). 
  • Vorlegen von Prüfungsnachweisen und Leumundszeugnissen. 
  • Früher Familiennachzug; Verkürzung des Aufenthalts in Massenquartieren.
Als nicht förderlich anzusehen ist das sehr starke Engagement in Landsmannschaft- oder Heimatvereinen. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass sich Wirtschaft und Gesellschaft im Voraus ändern können, um Migranten entgegen zu kommen. Dass schließt nicht aus, dass durch Migranten verursachte Änderungen im Nachhinein zutage treten. Vorhandene englische Sprachkenntnisse sollten als europäische Lingua Franca besondere Anerkennung finden.

Da war doch noch etwas

Integration im beschriebenen Umfang ist ein komplexer Prozess. Unser Fachgebiet, die Informatik, nimmt für sich in Anspruch, dass sie Methoden und Werkzeuge bereitstellt, um Aufgaben und Prozesse jeder Art zu beschreiben. Einige Kolleginnen und Kollegen sprechen dabei lieber vom Spezifizieren. Das umfasst die notwendige Unterscheidung von Soll- und Istprozessen. Ich bin mir nicht im Klaren, ob aus diesem Wissen Nutzen gezogen werden kann für diese Diskussion. Das passende Schlagwort hätte ich schon: Big Processes. Vielleicht können mir Leser auf die Sprünge helfen.

Freitag, 8. Januar 2016

Fünf Jahre dieses Blogs ̶ statistisch gesehen

Seit Bestehen dieses Blogs ist das meiste an ihm ein alter Hut geworden. Mein Interesse, seine Entwicklung im Detail zu verfolgen, lässt nach. Beim letzten Mal begann ich damit nur volle Jahre als Vergleichsdaten zu verwenden. Die heutigen Daten basieren auf dem Stand von 7.1.2016. 

Besucherzahlen und Herkunft 

Die Zahl der Besucher (Seitenaufrufe) des Blogs wuchs in 2015 zum ersten Mal nicht mehr an. Sie hat sich sogar insgesamt um 10,8% reduziert. Die Zahlen sind aus der folgender Ländertabelle zu entnehmen.


Besucher und deren Herkunft (für die letzten zwei Jahre)

Im Jahre 2015 gab es einige enorme Verschiebungen. Es zeigten nur Russland und Frankreich ein signifikantes Wachstum, ebenso die Gruppe der nicht im Einzelnen ausgewiesenen Länder. Die Ukraine fiel völlig zurück, aber auch die USA und UK. Ich möchte nicht darüber spekulieren, welche Gründe hier eine Rolle spielten. Möchte jemand Kommentare dazu machen, ist dies ein Beweis, dass meine Statistiken zum Nachdenken anregen.

Themen und ihre Beliebtheit 

Ich habe dieses Jahr nur die Spitzenreiter über die Gesamtzeit untersucht. Wer die Liste sehen will, kann sie anklicken. Es sind nur die 50 Beiträge, die in der gesamten Lebenszeit dieses Blogs mehr als 500 Besuche hatten. Die Details interessieren vermutlich nur diejenigen Leser, die diesen Blog von Anfang an verfolgt haben oder die im Blog selbst aktiv geworden sind. Eine gleitende Statistik wie für das Jahr 2014 habe ich mir erspart.

Nur zwei Aussagen will ich vertiefen bzw. wiederholen. Sie sind von allgemeiner Bedeutung für Blogs generell und die Einordnung dieses Blogs in die Blogosphäre, d.h. in die Welt des Bloggens. Die erste Aussage betrifft das Alter der zuletzt gelesenen Beiträge. Viele Leser kommen per Suchmaschine und stoßen daher nicht nur auf neues Material wie bei einer Tageszeitung oder Fachzeitschrift. Auch alte Schätze erhalten immer wieder Besucher. So wie guter Wein steigen einige der ältesten Beiträge von Jahr zu Jahr in der Beliebtheit. 


Verteilung der Spitzenreiter nach Erscheinungsjahr

Gezählt sind  ̶  wie gesagt  ̶  alle Beiträge mit über 500 Besuchern, die so genannten Spitzenreiter. In der Statistik des Vorjahres (12/14) gab es 26 solche Beiträge, jetzt (12/15) sind es 50, eine glatte Verdopplung. Diese Zahlen sind wirklich beachtenswert. Ähnliches gilt für die folgende Zusammenfassung. Sie erklärt nochmals, was Leser in diesem Blog suchen oder was sie per Mundpropaganda weiterempfehlen.


Verteilung der Spitzenreiter nach Themengebieten

Dass Fachthemen an der Spitze liegen, war schon immer bekannt. Alles, was die deutsche Informatik-Szene (Hochschule und Wirtschaft) beleuchtet, wird geschätzt. Dafür ist diese Quelle besonders ergiebig und weitgehend konkurrenzlos. Meine vom Lokalkolorit etwas buntgefärbten Geschichten historischer Art sprechen vermutlich meine Verwandten und Eifler Landsleute an. Dass Bertals Blog als Brunnen für philosophische und wissenschaftliche Einsichten und Neuentdeckungen sprudelt, hält man eher für unwahrscheinlich. Hier liegt ja ein hohes Maß an Vergnügen primär auf Seiten der Autoren, etwas was man bei den von Verlagen betreuten Fachzeitschriften ja nicht vermutet   ̶   trotz zunehmender Verbreitung von Geschäftsmodellen, bei denen der Autor und nicht der Leser alles bezahlt. [Was die industrielle Werbung schon immer tat, ist jetzt zur neuesten Strategie der staatlich finanzierten Forschung erklärt worden]

Mit rund 60 Beiträgen pro Jahr (insgesamt 427 in fünf Jahren) und 55.000 Lesern (insgesamt 200.000) ist dieser Blog zu einem kräftigen Baum angewachsen, der längst das Unterholz überragt. Daher deuten sich auch immer neue Möglichkeiten der statistischen Auswertung an. Da die kommerzielle Seite bei diesem Projekt ja keine Rolle spielt, sind Datenverarbeitung und Statistik nur reines Privatvergnügen.

Sonstige Aktivitäten des Blogverwalters

Die vorliegende Statistik betrifft nur Bertals Blog. Das ist der älteste einer Gruppe von vier Blogs, die zusammengehören. Drei von ihnen ähneln den Sprösslingen eines Baumes, also Seitentrieben, die aus Bertals Blog hervorgingen. Sie blieben Hecken im Unterholz und wurden nicht zu Bäumen, die über die Waldkrone hinausragen. Zwei dieser Blogs haben den Namen von papiernen Büchern, an denen ich als Autor beteiligt bin. Sie liefern Zusatzinformation zu den Büchern, Fehlerkorrekturen und dgl. Der dritte Blog (Al‘s Postbag) enthält englisch-sprachige Beiträge, die nicht in Bertals Blog passten, oder aber Übersetzungen von dort erschienenen Beiträgen. Hier ihre Daten:

Begleitende Blogs

Zum Schluss noch eine Bemerkung zum Umfeld. Vor Jahren glaubte ich, dass es eine ganze Reihe von Blogs gäbe, die ich regelmäßig lesen würde. Das ist nicht der Fall. Es gibt nur zwei fremde Blogs, für die ich quasi ein Abonnement besitze. Auf beide habe ich schon von Beiträgen aus verwiesen. Es sind dies der Blog von Irving Wladawski-Berger, eines früheren US-Kollegen, und der recht neue Blog von Hartmut Wedekind aus Darmstadt. Alle andern blieben auf der Strecke, teils weil sie eingingen, teils weil ich das Interesse verlor. Auch mein Twitter-Konto habe ich gekündigt. Der Nutzen und der Verkehr waren sehr gering. Anders ist es bei Facebook. Hier gibt es eine Reihe von ‚Freunden‘, aber auch Lokalzeitungen, deren Beiträge ich genieße. Andererseits erreiche ich über Facebook einige traditionelle Freunde und vor allem eine Vielzahl jüngerer Leute aus der Verwandtschaft.

Montag, 4. Januar 2016

Digitalisierung aus wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und privater Sicht

Im Dezember letzten Jahres hatte ich das Megathema Digitalisierung und seine spezielle Ausprägungsform als Big Data unter die Lupe genommen. Unter der Überschrift eScience richtete sich dabei der Blick auf die verschiedenen Wissenschaftsgebiete. Von den Ingenieurwissenschaften und der Mathematik ausgehend strahlt die Informatik inzwischen in alle Naturwissenschaften aus, so in Astronomie, Biologie, Chemie, Physik bis zur Zoologie. Auch die Human- oder Geisteswissenschaften profitieren von ihr, so Geschichte, Kunst, Medizin, Philologie und Soziologie. Wie schon öfters im Laufe der knapp 70-jähigen Geschichte der Informatik haben immer wieder Fachbegriffe den Charakter von Schlagworten erhalten. Heute ist dies ohne Zweifel der Begriff der Digitalisierung.

Begriffsbildung und Verbreitung

Der Begriff Digitalisierung bezeichnet technisch die Überführung analoger Größen in digitale Darstellungen (Bits, Bytes), zu dem Zweck, sie elektronisch zu speichern oder zu verarbeiten. Bei Texten oder Bildern, die auch auf Papier vorliegen, wird das Ergebnis der Digitalisierung oft als Digitalisat bezeichnet. Es hat dann die Form einer Datei, die auf einer CD, einer Magnetplatte oder aber im Netz gespeichert ist. Im Falle von Archiven und Bibliotheken setzte die systematische Digitalisierung vor etwa 20 Jahren ein. Die normale betriebliche Datenerfassung und Datenverarbeitung begann vor rund 100 Jahren in digitaler Form, wobei Lochkarten, Lochstreifen und Magnetbänder die damals vorherrschenden Trägermedien waren. Es wird geschätzt, dass im Jahre 1993 etwa 3 % aller Daten digital erfasst wurden. Heute sind es nahezu 95 %. Gleichzeitig wachsen die absoluten Mengen der überhaupt maschinell erfassten Daten. 

Das exponentielle Anwachsen der Datenmengen, die pro Tag und Jahr weltweit anfallen, also entstehen und erfasst werden, ist die bestimmende Eigenschaft des aktuellen Trends. Diese ‚Datenexplosion‘ wird erst durch die Digitalisierung ermöglicht. Aufgrund der potentiellen Vernetzung aller Datenquellen entsteht der Eindruck eines epochalen Durchbruchs. Im Zeitungs- und Verlagswesen ersetzt die Digitalisierung nicht schlagartig alle heutigen Formen des Publizierens. Sie ergänzt diese. Dass sie als Erstes alle neuen und wichtigen Wissens- und Wirtschaftsgebiete erfasste, liegt auf der Hand. Digitale Bibliotheken [1] entstanden daher zuerst in technischen Unternehmen und in wirtschaftlichen Organisationen.

Digitalisierung in Wirtschaft und Verwaltung

Kollege Peter Mertens von der Universität Erlangen-Nürnberg kritisiert in einem Institutsbericht [2] die inflationäre Benutzung des Begriffs Digitalisierung. Er hat über 300 Wortschöpfungen registriert, die den Begriff Digital enthalten. Meist sind es Komposita (z. Bsp. Digitalangst, Digitalrausch) oder eine Attribut-Substantiv-Konstruktion (z. Bsp. digitale Euphorie, digitaler Imperativ). Eine ähnliche Inflation hat das Attribut 4.0 erfahren, wobei Industrie 4.0 ohne Digitalisierung nicht auskommt.

Schlagworte wie Digitalisierung und Industrie 4.0 würden einerseits für Werbemaßnahmen missbraucht, andererseits dienten sie als Dekorationen von Anträgen für öffentliche Fördermittel. Was inhaltlich dahintersteckt sei eher sekundär, wenn nicht sogar Stand der Technik von vor 30 Jahren. Im Falle von Industrie 4.0 nennt Mertens einige Beispiele für die ‚Subsumption von Vorhandenem‘. Er weist auch darauf hin, dass die Digitalisierung keine Einbahnstraße ist. Die fortschreitende Technik lässt auch neue Formen der analogen Kommunikation und Interaktion zu (z. Bsp. haptische und optische Zeichenübertragung). Bekanntlich gab es auch in Deutschland in der Vergangenheit eine Reihe von Informatik-Großprojekten  ̶  vor allem im öffentlichen Bereich  ̶  die Schwierigkeiten hatten ihre Versprechungen zu erfüllen. Beispiele sind die Gesundheitskarte und die LKW-Maut. Wären die Projekterfahrungen für eine technisch-wissenschaftliche Analyse zugänglich, könnte dies der ganzen Branche helfen. Abenteuerlust und Selbstvertrauen allein reichen nicht aus, um neue anspruchsvolle Vorhaben mit Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen.

Digitalisierung und die demokratische Gesellschaft

Die Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft (Heft 1/2016) enthält ein so genanntes Digital-Manifest. Der Appell ist überschrieben: 'Digitale Demokratie statt Datendiktatur'. Es handelt sich um zwei Artikel, hauptsächlich von schweizerischen Wissenschaftlern verfasst. Deutsche Autoren, die mit unterzeichneten, sind Gerd Gigerenzer aus Berlin und Roberto Zicari aus Frankfurt. Sie warnen vor der Aushöhlung der Bürgerrechte und der Demokratie durch die ‚digitale Technikrevolution‘. Sie befürchten die ‚Automatisierung der Gesellschaft und die Fernsteuerung ihrer Bürger durch Algorithmen‘.

Big Data könnte zum Big Nudging (wörtlich: großes Anstupsen) führen. Gemeint ist, dass mächtige Drahtzieher nicht nur die öffentliche Meinung beeinflussen könnten, sondern direkt einzelne Mitglieder der Gesellschaft steuern könnten. Attentate wie die in Paris ließen sich dank der Kontrolle über den Netzverkehr und die Informationsinhalte gezielt herbeiführen, ohne dass die Beteiligten vorher in speziellen Camps ausgebildet werden müssten. Sie verweisen auf den Stadtstaat Singapur und die Volksrepublik China, da dort Ansätze dieser Entwicklung zu erkennen seien. Als Gegenmaßnahmen wird ein Zehnpunkteplan vorgeschlagen. Ich erspare es mir, alle zehn Punkte wiederzugeben. Erinnert wird an das Recht der Informationellen Selbstbestimmung, so wie es in Deutschland 1983 als Folge des Volkszählungsurteils vom deutschen Verfassungsgericht etabliert wurde. Außerdem solle weltweit die ‚kollektive Intelligenz‘ gefördert werden. Schließlich plädiert man für nichts weniger als eine `Digitale Aufklärung‘. [Immanuel Kant wird endlich aufs Altenteil verschoben. Das Wort ‚digital‘ gehörte nämlich noch nicht zu seinem Repertoire].

Peter Hiemann aus Grasse, der den Lesern aufgrund seiner Beiträge zu diesem Blog bekannt sein dürfte, schrieb dazu:

Mir ist aufgefallen, dass der Verhaltensbegriff 'Nudging' (Richard Thaler: "Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“) seit seiner Einführung 2008 bei der akademischen Welt anscheinend großen Anklang gefunden hat. Ich fand Jaron Laniers Begriff 'Sirenserver' wesentlich treffender, um auf gefährliche Tendenzen der IT-Technologie hinzuweisen. Frank Schirrmacher hat in seinem Buch „EGO – Das Spiel des Lebens“ einen hervorragenden Abriss der geistigen Entwicklung des „homo oeconomicus“ geliefert. Er kommt zu dem Schluss: „Und so bizarr es manchen heute noch vorkommen wird, eine der Grundfragen unserer Zukunft wird sein, wozu wir die Maschinen erziehen, ehe sie nicht nur in automatisierten Finanzmärkten, sondern auf allen Gebieten so erwachsen geworden sind, dass sie selbst uns erziehen.“ Die Ansichten beider Autoren wurden im Blogbeitrag über Lanier (am 12. Oktober 2014) ausführlich gewürdigt.

Ich bin ziemlich sicher, dass der akademische Appell 'Digitale Demokratie statt Datendiktatur' nichts an den Zielsetzungen und Plänen von Google & Co ändern wird. Das Spiegel-Gespräch mit Larry Page (Spiegel 43/2015) macht das sehr deutlich. Bei der Auseinandersetzung mit den Gefahren einer Datendiktatur geht es um das Thema 'Autonomie'. Die Auseinandersetzung zwischen Eliten der akademischen Welt und den Eliten der IT-Unternehmen wird nichts beitragen, um grössere Bevölkerungsgruppen zu mehr autonomen Denk- und Verhaltensweisen zu veranlassen. Das Thema 'Autonomie' erfordert vor allem erhöhte Aufmerksamkeit von politischen Eliten und deren Entscheidungsträgern. Auch akademischen Eliten wird nichts Anderes übrig bleiben, als sich mit leichtfertigen Ansichten politischer Eliten 'anzulegen'.

Digitalisierung im Privatbereich.

Außer diesen im öffentlichen Bereich wirkenden Aktionen und Maßnahmen hat die Digitalisierung auch enorme private Folgen. Längst hat das digitale Fernsehen (abgekürzt HD für High Definition) überall Einzug gehalten. Dadurch hat sich Senderauswahl und Bildqualität erheblich verbessert. Das digitale Fernsprechnetz (zuerst ISDN, dann DSL, UMTS und LTE) erlaubt Datenraten im Bereich von mehreren 100 Mbits/sec. In Verbindung mit einem lokalen Hausnetz (WLAN) kommen Geräte wie Smartphones und Tablets voll zur Geltung. Sie ermöglichen die Bearbeitung von E-Mails und das Konsumieren von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern an jedem Ort und in jeder Position, inklusive zusätzlicher Bilder und Videos. Fernseh-Sendungen und Kinofilme laufen ab, ohne dass man sich vorher auf ein einheitliches Abendprogramm einigen musste, bei dem alle Anwesenden denselben Flimmerkasten anstarren müssen. Die moderne Technik erfordert allerdings einen Flatrate-Vertrag. Dadurch wird der Datenumfang irrelevant. Ob Megabytes oder Gigabytes pro Sitzung übertragen werden, interessiert nicht mehr.

Noch zwei Details aus persönlicher Erfahrung  Ich habe es zum ersten Mal fertig gebracht, völlig ohne das Versenden von papierner Weihnachtspost auszukommen. Von dem etwa ein Dutzend empfangener papierner Grußkarten kamen je die Hälfte von Privatpersonen und von Unternehmen. Ich benutze weiterhin analoge Telefone von fast jedem Zimmer unseres Hauses aus. Die Telekom hatte den Plan auch meine Installation über das Internetprotokoll (Voice over IP) an ihr derzeit bevorzugtes Ortsnetz anzuschließen. Sie musste ihren Plan aufgeben. Ich besitze nämlich einige ‚exotische‘ Geräte und Funktionen, für die eine Migration zum IP-Netz nicht vorgesehen ist. Es wird daher ein letztes analoges Reservat im Hause bestehen bleiben.

Vom wehleidigen Jammern zur konstruktiven Kritik

Jede Generation hat den Wunsch und auch das Recht, ihre Ziele und ihre Probleme selbst zu definieren. Natürlich lässt sich die Vorgeschichte nicht ganz zur Seite schieben. Ich selbst habe mich immer lieber an der Definition von Zielen und Aufgaben beteiligt als an der reinen Kritik des Ist-Zustands. Das Zielesetzen zwingt einen automatisch dazu auch die Probleme, die es heute gibt, zu berücksichtigen.

Technische Ziele für unsere Branche hat sich auch die Gesellschaft für Informatik (GI) abgerungen. Unter der Federführung ihrer damaligen Vizepräsidenten Simone Rehm wurden fünf große Herausforderungen (engl. grand challenges) formuliert. Sie sind eine Stufe konkreter als die beiden oben beschriebenen ‚Revolutionen‘. Bei Revolutionen gibt es oft wenige Agitatoren, die antreiben, und viele, die getrieben werden. Genau das kann in der Politik passieren, aber auch anderswo. Im Wirtschaftsleben ist es aber nicht das, was man sich wünschen sollte. Lässt man das R am Anfang weg, kommt man zu Evolutionen. [Nicht zu verwechseln mit der Evolution]. Da fehlt das planerische Element vollkommen. Für das, was zwischen Evolution und Revolution liegt, haben wir kein gutes (Fremd-) Wort. Gemeint ist ein sich selbst verbesserndes Wachsen oder Reifen, ein von Erfahrung gesteuertes Lernen.

Was mir bei den genannten großen Herausforderungen zu fehlen scheint, ist die Ernsthaftigkeit des Bemühens und eine Art von Verantwortungsgefühl. Würde man die Probleme ernst nehmen, würde man nicht sofort wieder zur Tagesordnung übergehen. Diejenigen, die die Herausforderungen definiert haben, tun so als ob sie damit ihre Schuldigkeit getan hätten. Greift niemand diese Ziele auf und entwickelt einen Aktionsplan, der zum Erreichen führt, dann sind dafür ‚die Anderen‘ schuld. Man selbst ist sich dafür zu schade oder aber  ̶  was wohl eher zutrifft  ̶  dazu nicht in der Lage. Ich lasse mich gerne korrigieren, sollte ich zu skeptisch sein.

Der Weimarer politischen Erfahrung verdanken wir es, dass im Grundgesetz ein Konstruktives Misstrauensvotum verankert ist. Verallgemeinert heißt dies: Kritisieren ist derart leicht, dass es sinnvoll, ja nötig ist, es an Lösungsvorschläge zu koppeln. Oder wer nicht sagen kann, wie man eine Sache besser machen kann, möchte bitte den Mund halten. Zu einem ähnlichen Ergebnis führt die Alltagspsychologie. Gut ist es, wenn man Kritik vermeiden oder verpacken kann. Die manchmal notwendige Kritik an Mitarbeitern versteckte ich früher am liebsten in ein Zielgespräch. Wenn ich sehr häufig Zielgespräche führte, oder wenn ich Ziele wiederholte, konnten die Mitarbeiter daraus schließen, dass es eigentlich hätte besser laufen können. Richtig schlimm wurde es erst dann für einen Mitarbeiter, wenn ich keine Lust mehr hatte, Ziele zu vereinbaren. Dort waren Hopfen und Malz verloren. So umschreibt dies der Volksmund.

Referenzen
  1. Endres, A., Fellner, D.W.: Digitale Bibliotheken  ̶  Informatik-Lösungen für globale Wissensmärkte. Heidelberg 2000
  2. Mertens, P., Barbian, D.: Digitalisierung und Industrie 4.0  ̶  Moden, modische Überhöhung oder Trend? Arbeitsbericht Nr. 1/2015; Wirtschaftsinformatik I, Universität Erlangen-Nürnberg
Nachtrag im Januar 2017

Ein weiterer Beitrag, der das Thema D behandelt, erscheint im Januar 2017 in diesem Blog. Dabei steht die Sicht von Autoren und Lesern im Vordergrund.