Russland ist
für uns Deutsche ein schwieriges Thema. Mal sehen wir das Land als
aufsteigenden Wirtschaftspartner, der erfolgreich die kommunistische
Zwangsjacke abgeschüttelt hat, mal als Land, das es schwer hat, sich westliche
Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten zu eigen zu machen. Der Name
Putin, insbesondere aber der Begriff Putinismus, deuten in die zweite Richtung.
Wir im Westen
können Russland nicht verstehen, außer wir sprechen russisch perfekt und haben
mehrere Jahre sowohl im Moskau, wie auch in der Provinz gelebt. Also ist es
klüger, nicht über Russland zu schreiben!
So schrieb
Otto Buchegger in einem Kommentar zu meinem Beitrag über den Putinismus Ende Februar 2014, also vor fast zwei Jahren. Ich hielt mich fortan zurück, und zwar mit dem
Ergebnis, dass Russland in diesem Blog nicht mehr vorkam. Dieser Tage las ich
den Bericht eines Engländers russischer Abstammung, der neun Jahre in Putins
Reich gearbeitet hat. Das Buch heißt Nichts
ist wahr und alles ist möglich ̶ Abenteuer
in Putins Russland und ist von Peter Pomerantsev. Es erschien im Jahre 2015 und
hat 234 Seiten.
Wanderer
zwischen den Welten
Pomerantsev
kam wie eine Vielzahl westlicher Experten im Jahre 2000 als Fernseh-Journalist
nach Moskau und arbeitete für verschiedene russische Sender und
Medienunternehmen. Er erlebte den Putinismus tagtäglich und beruflich. Als
perfekt zweisprachiger Fachmann war er begehrt und nützlich. Obwohl
innerrussische Programme ihn am meisten anzogen, war ‚Russia Today‘ sehr an ihm
interessiert. Das ist der staatliche Sender, der ganztägig ein
englisch-sprachiges Programm ausstrahlt, mit dem die ‚russische Sicht‘ der
Dinge vermittelt wird. Er lehnte die Zusammenarbeit ab.
Der Sender
TNT, für den er vorwiegend arbeitete, ließ ihm weitgehend freie Hand, sowohl
was die Stoffauswahl als auch die Gestaltung und die Aussagen betraf. Gewisse
Empfehlungen jedoch konnte er nicht ignorieren, die auch im Westen üblich sind,
etwa dass der Stoff oder die Botschaft der Sendung so nicht bei den Zuhörern
ankämen. Im Jahre 2010 ging Pomerantsev nach England zurück, mit dem Gefühl
eigentlich neun Jahre verloren zu haben. Er musste in England wieder ganz von
vorne anfangen. Zumindest verarbeitete er seine Erfahrungen in Form dieses
Buches. Seine Geschichten sind es, die einen aufrütteln, da sie unmittelbar
erlebt sind. Sie untermauern die teilweise bekannten Berichte über die
Umstände, unter denen die Menschen heute in Russland leben.
Gesellschaft
ohne Halt
Viele Russen
sanken nach dem Untergang der Sowjetunion ins Bodenlose. An die Stelle einer
politischen Doktrin trat vielfach eine geistige und emotionale Leere. Nur relativ
wenige Menschen fanden Halt im Religiösen. Das steht im Gegensatz zur Zahl der
wiederaufgebauten Kirchen und Klöster mit ihren vergoldeten Kuppeln. Diese
dienen vor allem dem Staat zur Demonstration seines Willens zur Wiedergutmachung
nach 70-jähriger Unterdrückung der orthodoxen Kirche. Wie bekannt, schuf die
Privatisierung von früherem Staatsbesitz eine neue Schicht von Reichen, die so
genannten Oligarchen. Es sind dies fast ausschließlich Männer im mittleren
Alter. Wo diese als Forbes-Männer bezeichneten neuen Helden auftreten, hängen
sich junge Mädchen an sie dran. Diese als Goldgräber (engl. gold diggers)
bezeichneten Frauen strömen aus den Provinzen in die Großstädte. Mangels
beruflicher Qualifikation enden viele in der Prostitution.
Das in
Russland schon zur Zarenzeit bestandene Potential für esoterische Heilprediger
sprudelte wie nie zuvor. Eine Unmenge ausländische Sekten und Gurus verbreiteten
ihre Lehren und ihr Geld. Eine Beispiel war eine Organisation mit dem Namen ‚Weltrose‘. Sie stammte aus den USA, wo ihr Wirken
von Gerichten unterbunden wurde. Um sie rankt sich die folgende Geschichte. Es
ist die Geschichte des Models Ruslana. Ruslana wurde in Almaty, der Hauptstadt
Kasachstans, als Tochter eines Offiziers der Roten Armee geboren. Als die
Sowjetunion zerfiel, ergriff der Vater dort einen Zivilberuf. Die Tochter wurde
wegen ihres kindliches Gesichts, ihrer blauen Augen und der schulterlangen
Haare von einem örtlichen Fotografien für eine lokale Zeitung zum ersten Mal
fotografiert. Das Bild fiel einer russischen Agentin auf, die weltweit mit der Modelsuche
beschäftigt war. Sie suchte die Familie auf und vereinbarte, dass das Mädchen
zuerst ihre lokale Schule abschließen und sich danach durch professionelles
‚Shooting‘ etwas Geld verdienen dürfte, ehe sie zum Studium nach Moskau ginge.
Ihre Fotos, vor allem die für die Parfümmarke Nina Ricci machten sie derart
bekannt, dass sich plötzlich alle Werbeagenturen der Welt um sie rissen. Sie
pendelte nur noch zwischen Moskau, London, Paris und New York.
Während eines
Aufenthaltes in Moskau besuchte sie, zusammen mit einer befreundeten Kollegin,
die Kurse der Firma Weltrose. Ein sich als Psychologe ausgebender Kursleiter
versprach den Teilnehmern, ihnen bei der Persönlichkeitsentwicklung zu helfen.
Durch öffentliches Bekennen aller Ängste (und Zahlung der Kursgebühr von über
1000 Dollar) würde er aus ihnen völlig autonome und erfolgssichere
Persönlichkeiten machen. Wer es im ersten Kurs nicht schaffe, könnte weitere
Kurse besuchen. Ruslana war anschließend zu einem Fototermin in New York und
sollte nach Paris weiterreisen. In der Nacht vor dem Weiterflug stürzte sie
sich vom neunten Stock ihres Hotels auf die Straße. Bei der polizeilichen
Untersuchung wurden weder Spuren von Alkohol oder Drogen, noch Hinweise auf
Fremdeinfluss festgestellt. Auffallend war nur, dass sie fast zehn Meter vom
Gebäude entfernt aufschlug.
Obwohl Pomerantsev
monatelang an den verschiedensten Orten der Welt recherchiert hatte, war kein
russischer Sender bereit, seine Story zu bringen. Es fehle die positive Botschaft,
wurde ihm mitgeteilt.
Staat als
Syndikat
Michael
Gorbatschows Versuch, in Russland die Demokratie einzuführen, wird heute vor
allem in Russland als Fehlschlag angesehen. Wie es in amtlichen Aussagen heißt,
wurde die Demokratie nicht abgeschafft. Es gibt weiterhin Wahlen und Parteien. Wladimir
Putin (*1952) kam beide Male durch Wahlen an die Macht. Da wo die Demokratie versagte,
greife man auf andere politische Ideen zurück. Man nähme aus einem größeren Repertoire
an Möglichkeiten das, was passt oder hilft. Wer diese Argumentation am besten
beherrscht, ist Putins Berater Wladislaw Surkow (*1964). Ehe er in
die Politik wechselte, war er als Banker tätig und half unter anderem Michail Chodorkowski (*1963) zur
Aktienmehrheit bei der Ölgesellschaft Jukos. Ihm wird die Gründung der
russischen Regierungspartei Einiges Russland (2001) sowie der
Jugendorganisation Naschi (2005) zugeschrieben.
Surkow war
zuletzt Vize-Ministerpräsident, musste aber 2013 zurücktreten, weil er
angeblich einige Dekrete Putins nicht angemessen umgesetzt hätte. Er gilt heute
als Drahtzieher Putins im Hintergrund und der stärkste Verfechter des
Putinismus. Er soll Putin dabei beraten, wie er seine Politik inszeniert. So
soll Putin beim Anschluss der Krim weitgehend Surkows ‚Regieanweisungen‘ gefolgt
sein. Surkow wurde 2014 auf die Sanktionsliste
gesetzt, die ihm die Einreise in die USA und die EU verbietet.
Die Meinung
vieler russischer Bürger über ihren Staat sei katastrophal, meint Pomerantsev.
Sie hielten alles nur für Propaganda-Gehabe. Bei ausländischen Politikern
würden grundsätzlich negative Einstellungen zu Russland unterstellt. Es ginge denen
einzig darum, Russland klein zu halten. Dem muss die russische Regierung
gegensteuern. Das tut Putin als früherer Geheimdienstler vorwiegend mit Hilfe
früherer Kollegen. Bestechung und Erpressung seien bewährte Methoden. Dass
Gerhard Schröder für eine Tätigkeit im Aufsichtsrat einer halbstaatlichen Firma
250.000 Euro pro Jahr bekommt, ließe sich nur so erklären.
Manche Russen
hätten auch ein messianisches Bewusstsein. Sie sähen Moskau wieder als drittes Rom,
das gegen eine Degeneration christlicher Werte kämpfen muss, z.B. Blasphemie
und Schwulenehe,
Risiken des Wirtschaftens
In der
Wirtschaft bestehen Betätigungsmöglichkeiten außer für die Oligarchen selbst
vor allem in deren Schatten oder an ihrem Rande. Erfolg hat ̶ nach
gängiger Meinung ̶ nicht der selbständige Aufsteiger, sondern
der sich anpassende Apparatschik. Anstatt weitere generelle Aussagen
wiederzugeben soll das Beispiel der Unternehmerin Jana die Situation
beleuchten.
Jana (der
Nachname ist hier unwichtig) betrieb einen Chemikalienhandel. Eines Tages wurde
sie beim Verlassen ihres Fitnessstudios von Beamten des Rauschgiftdezernats
verhaftet. Ihr wurde vorgeworfen Diethylether vertrieben zu haben. Diethylether wird
als Stärkungs- bzw. Lösemittel sowohl in der Medizin wie in der Chemie häufig
verwandt. Durch ein neues Gesetz wurde es als Betäubungs- und Rauschmittel
eingestuft. Jana wurde Drogenhandel unterstellt und in ein Frauengefängnis
eingeliefert. Dort verblieb sie sieben Monate lang.
Zwischendurch
versuchten ihre Eltern einen Anwalt für sie zu finden. Die beiden ersten, die
sie kontaktieren, empfahlen, dass Jana sich schuldig bekenne und dass die
Eltern ihr Eigenheim verkauften, um das nötige Schmiergeld aufzutreiben, um die
ermittelnden Beamten zu bestechen. Erst der dritte Anwalt, mit dem sie
sprachen, war bereit auf Freispruch zu plädieren. Er schaffte es sogar, dass
der Fall in die Medien kam und dass Demonstranten auf die Straße gingen. Jana
wurde schließlich auf Kaution freigelassen. In der Hauptverhandlung erreichte
die Verteidigung,
dass Experten zugelassen wurden. Als Ergebnis ihrer Aussage wurde das Gesetz,
für dessen Verletzung Jana angeklagt worden war, abgeschafft.
Pomerantsev
wurde erlaubt, über den Fall im Fersehen zu berichten, und zwar mit zwei
Auflagen: Er musste auf alle Andeutungen bezüglich des politischen Hintergrunds
verzichten und er musste gleichzeitig über den Fall einer zweiten ‚tapferen‘
Frau berichten, die 50.000 Dollar aufgetrieben hatte, damit ihr Kind einer
teuren medizinischen Behandlung unterzogen werden konnte. Die Sendung erhielt –
wie erwartet ̶ eine hohe Einschaltquote.
Im Buch
erläutert Pomerantsev, dass ‚staatliche Beutezüge‘ (engl. state raids) gegen
Unternehmen immer wieder vorkamen, wenn Beamte die Firma ausraubten oder
verkauften, während der Eigentümer wegen eines angeblichen Brandschutz- oder Steuerdelikts
im Gefängnis saß. Nur der Fall von Jukos und Chodorkowski sei im Westen bekannt
geworden. Im Übrigen sei Janas Fall für die Angeklagte so glimpflich verlaufen,
weil die Rauschgiftbehörde (FSKN) unter Viktor Tscherkessow (*1950) und der Geheimdienst (FSB) unter
Nikolai Patruschew (*1951) sich gerade
heftig bekämpften. Beide Behördenleiter waren Freunde Putins aus seiner St. Petersburger
KGB-Zeit. Putin löste den Streit in bester Mafia-Manier, indem er beide
absetzte.
Fluchtpunkt
London
In der Stadt
Moskau gab es um 2010 einige deprimierende Eindrücke. Tag und Nacht waren Abrissbirnen
im Einsatz, denen alte Gebäude zum Opfer fielen, die man aus Gründen des Denkmalschutzes
hätte retten müssen. An ihrer Stelle entstanden wilde Neubauten, so wie es sie
in jeder Stadt der Welt zu sehen gibt. Großflächige Wald- und Torfbrände umzingelten im Sommer die Stadt und überzogen
sie mit Rauch und Gestank.
Wer es konnte,
der verschaffte sich einen Zweitwohnsitz woanders. Für Künstler und Oligarchen
war dies sehr oft London. Hier war man in Sicherheit, sollte Putin einen nicht
mehr gewähren lassen. Als Pomerantsev wieder dorthin kam, wunderte er sich, wie
viele Russen inzwischen dort lebten und wie sie das Stadtbild bestimmten. Viele
Hotels und Grundstücke in besten Londoner Lagen haben inzwischen russische
Besitzer, ebenso der Fußballclub FC Chelsea. Dieser gehört auch heute noch Roman Abramowitsch (*1966). In London
konnte der Autor erleben, wie Abramowitsch und sein früherer Geschäftspartner Boris Beresowski (1946-2013) sich vor
einem englischen Gericht wegen der Übernahme der Ölgesellschaft Sibneft
stritten. Als die Richterin zu Gunsten von Abramowitsch entschied, nahm sich Beresowski
wenige Tage später in Ascot das Leben. Als ob es in England nicht schon genug
Probleme gäbe – stöhnt Pomerantsev.
Richter Robert Owen legte dieser Tage einen Untersuchungsbericht vor, wonach der Giftmord an dem Kreml-Kritiker Litwinenko im Jahre 2006 wahrscheinlich vom russischen Geheimdienst FSB in Auftrag gegeben wurde. Präsident Putin muss ihn genehmigt haben.
AntwortenLöschenBesucher hatten in einem Londoner Hotel seinem Tee Polonium-200 hinzugefügt.
LöschenRobert Ottohall aus Tübingen schrieb:
AntwortenLöschenMan kann sich die eigene Meinung über Russland aus der Geschichte, über Zeitzeugen und eben solche Bücher bilden. Auch wenn man selbst die Sprache nicht spricht und nicht in Russland wohnt. Dar russische Staat und das Volk kennt keine Demokratie, es wurde immer von autoritären Herrschern regiert. Heute, regieren dort Leute, die den Umgang mit der Macht im Kommunismus gelernt haben und sich die notwendigen Beziehungen innerhalb der Oligarchie aufgebaut haben und ihren Trog verteidigen. Selbst Putin (KGB-Schüler), als starker Herrscher, ist bei vielen im Volk beliebt und gefürchtet. Unter Stalin war es ähnlich, und einige Zaren wurden geliebt, gehasst und mit Bomben bekämpft.
Vielleicht sind solche großen Vielvölker-Staaten einfacher durch Diktatoren regierbar. Und unsere Form der Demokratie funktioniert dort nicht. Die Information über die politische Lage dort ist ein unscharfes Bild aus offiziellen Kommunikationen, Dissidentenberichten und eben solchen Büchern wie in ihren Blog besprochen.
Die angebliche Entführung eines 13-jährigen Mädchens im Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf veranlasste den russischen Außenminister Lawrow die deutschen Ermittlungsbehörden zu kritisieren. Das Mädchen sei von gewalttätigen Flüchtlingen geschändet worden. Gegen sie zu ermitteln verböte in Deutschland die ‚Political Correctness‘. Diese Form der Reaktion sei Teil einer Propaganda-Strategie, meinen deutsche Stellen. Russland ginge es darum, westliche Gesellschaften durch Desinformation zu destabilisieren. Es würden dabei die alten Methoden des KGB zum Vorschein kommen, sagte Hans-Georg Maaßen, der Präsident des Verfassungsschutzes.
AntwortenLöschen