Donnerstag, 21. Januar 2016

Geschichten aus Putins Reich

Russland ist für uns Deutsche ein schwieriges Thema. Mal sehen wir das Land als aufsteigenden Wirtschaftspartner, der erfolgreich die kommunistische Zwangsjacke abgeschüttelt hat, mal als Land, das es schwer hat, sich westliche Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten zu eigen zu machen. Der Name Putin, insbesondere aber der Begriff Putinismus, deuten in die zweite Richtung.

Wir im Westen können Russland nicht verstehen, außer wir sprechen russisch perfekt und haben mehrere Jahre sowohl im Moskau, wie auch in der Provinz gelebt. Also ist es klüger, nicht über Russland zu schreiben!

So schrieb Otto Buchegger in einem Kommentar zu meinem Beitrag über den Putinismus Ende Februar 2014, also vor fast zwei Jahren. Ich hielt mich fortan zurück, und zwar mit dem Ergebnis, dass Russland in diesem Blog nicht mehr vorkam. Dieser Tage las ich den Bericht eines Engländers russischer Abstammung, der neun Jahre in Putins Reich gearbeitet hat. Das Buch heißt Nichts ist wahr und alles ist möglich  ̶  Abenteuer in Putins Russland und ist von Peter Pomerantsev. Es erschien im Jahre 2015 und hat 234 Seiten.

Wanderer zwischen den Welten

Pomerantsev kam wie eine Vielzahl westlicher Experten im Jahre 2000 als Fernseh-Journalist nach Moskau und arbeitete für verschiedene russische Sender und Medienunternehmen. Er erlebte den Putinismus tagtäglich und beruflich. Als perfekt zweisprachiger Fachmann war er begehrt und nützlich. Obwohl innerrussische Programme ihn am meisten anzogen, war ‚Russia Today‘ sehr an ihm interessiert. Das ist der staatliche Sender, der ganztägig ein englisch-sprachiges Programm ausstrahlt, mit dem die ‚russische Sicht‘ der Dinge vermittelt wird. Er lehnte die Zusammenarbeit ab.

Der Sender TNT, für den er vorwiegend arbeitete, ließ ihm weitgehend freie Hand, sowohl was die Stoffauswahl als auch die Gestaltung und die Aussagen betraf. Gewisse Empfehlungen jedoch konnte er nicht ignorieren, die auch im Westen üblich sind, etwa dass der Stoff oder die Botschaft der Sendung so nicht bei den Zuhörern ankämen. Im Jahre 2010 ging Pomerantsev nach England zurück, mit dem Gefühl eigentlich neun Jahre verloren zu haben. Er musste in England wieder ganz von vorne anfangen. Zumindest verarbeitete er seine Erfahrungen in Form dieses Buches. Seine Geschichten sind es, die einen aufrütteln, da sie unmittelbar erlebt sind. Sie untermauern die teilweise bekannten Berichte über die Umstände, unter denen die Menschen heute in Russland leben.

Gesellschaft ohne Halt

Viele Russen sanken nach dem Untergang der Sowjetunion ins Bodenlose. An die Stelle einer politischen Doktrin trat vielfach eine geistige und emotionale Leere. Nur relativ wenige Menschen fanden Halt im Religiösen. Das steht im Gegensatz zur Zahl der wiederaufgebauten Kirchen und Klöster mit ihren vergoldeten Kuppeln. Diese dienen vor allem dem Staat zur Demonstration seines Willens zur Wiedergutmachung nach 70-jähriger Unterdrückung der orthodoxen Kirche. Wie bekannt, schuf die Privatisierung von früherem Staatsbesitz eine neue Schicht von Reichen, die so genannten Oligarchen. Es sind dies fast ausschließlich Männer im mittleren Alter. Wo diese als Forbes-Männer bezeichneten neuen Helden auftreten, hängen sich junge Mädchen an sie dran. Diese als Goldgräber (engl. gold diggers) bezeichneten Frauen strömen aus den Provinzen in die Großstädte. Mangels beruflicher Qualifikation enden viele in der Prostitution.

Das in Russland schon zur Zarenzeit bestandene Potential für esoterische Heilprediger sprudelte wie nie zuvor. Eine Unmenge ausländische Sekten und Gurus verbreiteten ihre Lehren und ihr Geld. Eine Beispiel war eine Organisation mit dem Namen  ‚Weltrose‘. Sie stammte aus den USA, wo ihr Wirken von Gerichten unterbunden wurde. Um sie rankt sich die folgende Geschichte. Es ist die Geschichte des Models Ruslana. Ruslana wurde in Almaty, der Hauptstadt Kasachstans, als Tochter eines Offiziers der Roten Armee geboren. Als die Sowjetunion zerfiel, ergriff der Vater dort einen Zivilberuf. Die Tochter wurde wegen ihres kindliches Gesichts, ihrer blauen Augen und der schulterlangen Haare von einem örtlichen Fotografien für eine lokale Zeitung zum ersten Mal fotografiert. Das Bild fiel einer russischen Agentin auf, die weltweit mit der Modelsuche beschäftigt war. Sie suchte die Familie auf und vereinbarte, dass das Mädchen zuerst ihre lokale Schule abschließen und sich danach durch professionelles ‚Shooting‘ etwas Geld verdienen dürfte, ehe sie zum Studium nach Moskau ginge. Ihre Fotos, vor allem die für die Parfümmarke Nina Ricci machten sie derart bekannt, dass sich plötzlich alle Werbeagenturen der Welt um sie rissen. Sie pendelte nur noch zwischen Moskau, London, Paris und New York.

Während eines Aufenthaltes in Moskau besuchte sie, zusammen mit einer befreundeten Kollegin, die Kurse der Firma Weltrose. Ein sich als Psychologe ausgebender Kursleiter versprach den Teilnehmern, ihnen bei der Persönlichkeitsentwicklung zu helfen. Durch öffentliches Bekennen aller Ängste (und Zahlung der Kursgebühr von über 1000 Dollar) würde er aus ihnen völlig autonome und erfolgssichere Persönlichkeiten machen. Wer es im ersten Kurs nicht schaffe, könnte weitere Kurse besuchen. Ruslana war anschließend zu einem Fototermin in New York und sollte nach Paris weiterreisen. In der Nacht vor dem Weiterflug stürzte sie sich vom neunten Stock ihres Hotels auf die Straße. Bei der polizeilichen Untersuchung wurden weder Spuren von Alkohol oder Drogen, noch Hinweise auf Fremdeinfluss festgestellt. Auffallend war nur, dass sie fast zehn Meter vom Gebäude entfernt aufschlug.

Obwohl Pomerantsev monatelang an den verschiedensten Orten der Welt recherchiert hatte, war kein russischer Sender bereit, seine Story zu bringen. Es fehle die positive Botschaft, wurde ihm mitgeteilt.

Staat als Syndikat

Michael Gorbatschows Versuch, in Russland die Demokratie einzuführen, wird heute vor allem in Russland als Fehlschlag angesehen. Wie es in amtlichen Aussagen heißt, wurde die Demokratie nicht abgeschafft. Es gibt weiterhin Wahlen und Parteien. Wladimir Putin (*1952) kam beide Male durch Wahlen an die Macht. Da wo die Demokratie versagte, greife man auf andere politische Ideen zurück. Man nähme aus einem größeren Repertoire an Möglichkeiten das, was passt oder hilft. Wer diese Argumentation am besten beherrscht, ist Putins Berater Wladislaw Surkow (*1964). Ehe er in die Politik wechselte, war er als Banker tätig und half unter anderem Michail Chodorkowski (*1963) zur Aktienmehrheit bei der Ölgesellschaft Jukos. Ihm wird die Gründung der russischen Regierungspartei Einiges Russland (2001) sowie der Jugendorganisation Naschi (2005) zugeschrieben.

Surkow war zuletzt Vize-Ministerpräsident, musste aber 2013 zurücktreten, weil er angeblich einige Dekrete Putins nicht angemessen umgesetzt hätte. Er gilt heute als Drahtzieher Putins im Hintergrund und der stärkste Verfechter des Putinismus. Er soll Putin dabei beraten, wie er seine Politik inszeniert. So soll Putin beim Anschluss der Krim weitgehend Surkows ‚Regieanweisungen‘ gefolgt sein. Surkow wurde 2014 auf die Sanktionsliste gesetzt, die ihm die Einreise in die USA und die EU verbietet.

Die Meinung vieler russischer Bürger über ihren Staat sei katastrophal, meint Pomerantsev. Sie hielten alles nur für Propaganda-Gehabe. Bei ausländischen Politikern würden grundsätzlich negative Einstellungen zu Russland unterstellt. Es ginge denen einzig darum, Russland klein zu halten. Dem muss die russische Regierung gegensteuern. Das tut Putin als früherer Geheimdienstler vorwiegend mit Hilfe früherer Kollegen. Bestechung und Erpressung seien bewährte Methoden. Dass Gerhard Schröder für eine Tätigkeit im Aufsichtsrat einer halbstaatlichen Firma 250.000 Euro pro Jahr bekommt, ließe sich nur so erklären.

Manche Russen hätten auch ein messianisches Bewusstsein. Sie sähen Moskau wieder als drittes Rom, das gegen eine Degeneration christlicher Werte kämpfen muss, z.B. Blasphemie und Schwulenehe,

Risiken des Wirtschaftens

In der Wirtschaft bestehen Betätigungsmöglichkeiten außer für die Oligarchen selbst vor allem in deren Schatten oder an ihrem Rande. Erfolg hat  ̶  nach gängiger Meinung  ̶  nicht der selbständige Aufsteiger, sondern der sich anpassende Apparatschik. Anstatt weitere generelle Aussagen wiederzugeben soll das Beispiel der Unternehmerin Jana die Situation beleuchten.

Jana (der Nachname ist hier unwichtig) betrieb einen Chemikalienhandel. Eines Tages wurde sie beim Verlassen ihres Fitnessstudios von Beamten des Rauschgiftdezernats verhaftet. Ihr wurde vorgeworfen Diethylether vertrieben zu haben. Diethylether wird als Stärkungs- bzw. Lösemittel sowohl in der Medizin wie in der Chemie häufig verwandt. Durch ein neues Gesetz wurde es als Betäubungs- und Rauschmittel eingestuft. Jana wurde Drogenhandel unterstellt und in ein Frauengefängnis eingeliefert. Dort verblieb sie sieben Monate lang.

Zwischendurch versuchten ihre Eltern einen Anwalt für sie zu finden. Die beiden ersten, die sie kontaktieren, empfahlen, dass Jana sich schuldig bekenne und dass die Eltern ihr Eigenheim verkauften, um das nötige Schmiergeld aufzutreiben, um die ermittelnden Beamten zu bestechen. Erst der dritte Anwalt, mit dem sie sprachen, war bereit auf Freispruch zu plädieren. Er schaffte es sogar, dass der Fall in die Medien kam und dass Demonstranten auf die Straße gingen. Jana wurde schließlich auf Kaution freigelassen. In der Hauptverhandlung erreichte die Verteidigung, dass Experten zugelassen wurden. Als Ergebnis ihrer Aussage wurde das Gesetz, für dessen Verletzung Jana angeklagt worden war, abgeschafft.

Pomerantsev wurde erlaubt, über den Fall im Fersehen zu berichten, und zwar mit zwei Auflagen: Er musste auf alle Andeutungen bezüglich des politischen Hintergrunds verzichten und er musste gleichzeitig über den Fall einer zweiten ‚tapferen‘ Frau berichten, die 50.000 Dollar aufgetrieben hatte, damit ihr Kind einer teuren medizinischen Behandlung unterzogen werden konnte. Die Sendung erhielt – wie erwartet  ̶  eine hohe Einschaltquote.

Im Buch erläutert Pomerantsev, dass ‚staatliche Beutezüge‘ (engl. state raids) gegen Unternehmen immer wieder vorkamen, wenn Beamte die Firma ausraubten oder verkauften, während der Eigentümer wegen eines angeblichen Brandschutz- oder Steuerdelikts im Gefängnis saß. Nur der Fall von Jukos und Chodorkowski sei im Westen bekannt geworden. Im Übrigen sei Janas Fall für die Angeklagte so glimpflich verlaufen, weil die Rauschgiftbehörde (FSKN) unter Viktor Tscherkessow (*1950) und der Geheimdienst (FSB) unter Nikolai Patruschew (*1951) sich gerade heftig bekämpften. Beide Behördenleiter waren Freunde Putins aus seiner St. Petersburger KGB-Zeit. Putin löste den Streit in bester Mafia-Manier, indem er beide absetzte.

Fluchtpunkt London

In der Stadt Moskau gab es um 2010 einige deprimierende Eindrücke. Tag und Nacht waren Abrissbirnen im Einsatz, denen alte Gebäude zum Opfer fielen, die man aus Gründen des Denkmalschutzes hätte retten müssen. An ihrer Stelle entstanden wilde Neubauten, so wie es sie in jeder Stadt der Welt zu sehen gibt. Großflächige Wald- und Torfbrände umzingelten im Sommer die Stadt und überzogen sie mit Rauch und Gestank.

Wer es konnte, der verschaffte sich einen Zweitwohnsitz woanders. Für Künstler und Oligarchen war dies sehr oft London. Hier war man in Sicherheit, sollte Putin einen nicht mehr gewähren lassen. Als Pomerantsev wieder dorthin kam, wunderte er sich, wie viele Russen inzwischen dort lebten und wie sie das Stadtbild bestimmten. Viele Hotels und Grundstücke in besten Londoner Lagen haben inzwischen russische Besitzer, ebenso der Fußballclub FC Chelsea. Dieser gehört auch heute noch Roman Abramowitsch (*1966). In London konnte der Autor erleben, wie Abramowitsch und sein früherer Geschäftspartner Boris Beresowski (1946-2013) sich vor einem englischen Gericht wegen der Übernahme der Ölgesellschaft Sibneft stritten. Als die Richterin zu Gunsten von Abramowitsch entschied, nahm sich Beresowski wenige Tage später in Ascot das Leben. Als ob es in England nicht schon genug Probleme gäbe – stöhnt Pomerantsev.

4 Kommentare:

  1. Richter Robert Owen legte dieser Tage einen Untersuchungsbericht vor, wonach der Giftmord an dem Kreml-Kritiker Litwinenko im Jahre 2006 wahrscheinlich vom russischen Geheimdienst FSB in Auftrag gegeben wurde. Präsident Putin muss ihn genehmigt haben.

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    1. Besucher hatten in einem Londoner Hotel seinem Tee Polonium-200 hinzugefügt.

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  2. Robert Ottohall aus Tübingen schrieb:

    Man kann sich die eigene Meinung über Russland aus der Geschichte, über Zeitzeugen und eben solche Bücher bilden. Auch wenn man selbst die Sprache nicht spricht und nicht in Russland wohnt. Dar russische Staat und das Volk kennt keine Demokratie, es wurde immer von autoritären Herrschern regiert. Heute, regieren dort Leute, die den Umgang mit der Macht im Kommunismus gelernt haben und sich die notwendigen Beziehungen innerhalb der Oligarchie aufgebaut haben und ihren Trog verteidigen. Selbst Putin (KGB-Schüler), als starker Herrscher, ist bei vielen im Volk beliebt und gefürchtet. Unter Stalin war es ähnlich, und einige Zaren wurden geliebt, gehasst und mit Bomben bekämpft.

    Vielleicht sind solche großen Vielvölker-Staaten einfacher durch Diktatoren regierbar. Und unsere Form der Demokratie funktioniert dort nicht. Die Information über die politische Lage dort ist ein unscharfes Bild aus offiziellen Kommunikationen, Dissidentenberichten und eben solchen Büchern wie in ihren Blog besprochen.

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  3. Die angebliche Entführung eines 13-jährigen Mädchens im Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf veranlasste den russischen Außenminister Lawrow die deutschen Ermittlungsbehörden zu kritisieren. Das Mädchen sei von gewalttätigen Flüchtlingen geschändet worden. Gegen sie zu ermitteln verböte in Deutschland die ‚Political Correctness‘. Diese Form der Reaktion sei Teil einer Propaganda-Strategie, meinen deutsche Stellen. Russland ginge es darum, westliche Gesellschaften durch Desinformation zu destabilisieren. Es würden dabei die alten Methoden des KGB zum Vorschein kommen, sagte Hans-Georg Maaßen, der Präsident des Verfassungsschutzes.

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