Am 26.5.2011 schrieb ich meinen beiden an Philosophie und Physik interessierten Freunden Hans Diel in Sindelfingen und Peter Hiemann in Grasse:
habe gerade im Juni-Heft des ‚Spektrums der Wissenschaft‘ drei anregende Artikel über das ‚Wesen der Natur‘ gelesen. Hier die Kernaussagen:
(1) Michael Esfeld: In der Quantenphysik passieren Dinge, weil sie eine Propensität (= Neigung) dazu besitzen.
(2) Marcel Weber: In der Biologie wird der Phänotyp nicht allein durch Gene bestimmt; er erbt noch eine ganze Maschinerie gleich mit. Außerdem hat die Umwelt bestimmenden Einfluss.
(3) Gerhard Börner: Die String-Theorie postuliert 10 hoch 500 Welten, kann aber kein Experiment angeben, das klärt in welcher Welt wir gelandet sind. Die USA geben pro Jahr 100 Mrd. Dollar für biologische Forschung aus; heraus kommen 79.000 Seiten Papier. Biologen starren auf Petabytes an Daten, haben aber keine Theorie, um sie zu bewerten. Vielleicht haben wir die Grenze des Erkennbaren erreicht und kommen nur dann weiter, wenn sich die Natur als freundlich erweist.
Wirklich schön. Was sagen Sie dazu?
Am 27.5.2011 antwortete Hans Diel:
Die Artikelserie "Wesen der Natur" habe ich auch gelesen. Ich fand den ersten Teil, wo es um einen kurzen Überblick über die Quantenphysik geht, noch einigermaßen gelungen (auch wenn nicht alles so ganz korrekt war; z.B. die Rolle Einsteins bei der Entdeckung der Verschränkung). Auf der letzten Seite, auf der Esfeld dann den Übergang zur Philosophie versucht, wird es teilweise albern (siehe den von Ihnen zitierten Satz). Hier wird mein altes Vorurteil untermauert, dass die Philosophen oft nur Banalitäten wissenschaftlich verpacken, und dass sie, wenn es um Nicht-Triviales geht, oft höchst Zweifelhaftes formulieren.
Die Artikelserie "Wesen der Natur" habe ich auch gelesen. Ich fand den ersten Teil, wo es um einen kurzen Überblick über die Quantenphysik geht, noch einigermaßen gelungen (auch wenn nicht alles so ganz korrekt war; z.B. die Rolle Einsteins bei der Entdeckung der Verschränkung). Auf der letzten Seite, auf der Esfeld dann den Übergang zur Philosophie versucht, wird es teilweise albern (siehe den von Ihnen zitierten Satz). Hier wird mein altes Vorurteil untermauert, dass die Philosophen oft nur Banalitäten wissenschaftlich verpacken, und dass sie, wenn es um Nicht-Triviales geht, oft höchst Zweifelhaftes formulieren.
Auch der Artikel von Weber scheint in diese Richtung zu passen, zumindest wenn man das von Ihnen Zitierte betrachtet. Ich habe den Artikel noch nicht ganz gelesen, sondern nur überflogen. Dabei hatte ich den Eindruck, dass der Philosoph Weber aus der Tatsache, dass man gewisse Zusammenhänge (noch) nicht gut genug versteht, eine philosophische Diskussion zum Thema "Kausale Zusammenhänge" startet und dabei entdeckt, dass es nicht nur monokausale Zusammenhänge (= bijektive) gibt, sondern auch surjektive Beziehungen. Aber vielleicht würde ich nach genauerem Lesen meine Kritik abmildern.
Beim 3. Artikel (von Börner, einem Physiker) werden die von anderen Autoren verbreiteten Zweifel an der String-Theorie wiederholt. Bei Smolin (von Börner zitiert) und bei Unzicker (das Buch kann immer noch von mir ausgeliehen werden) sind diese Zweifel und die Kritik noch wesentlich schärfer und fundierter zu lesen. Bei Unzicker werden auch massive Zweifel am "Weltmodell" der Kosmologen begründet, welches Börner als durch Beobachtung abgesichert und als abgeschlossen betrachtet. Sowohl Smolin als auch Unzicker tendieren zu einem "Ja" bei der Frage (= Überschrift des Artikels) "Naturwissenschaft in der Sackgasse?", zumindest soweit es die Physik betrifft.
Da Peter Hiemann dieses Wochenende aus Tunesien nach Grasse zurückkehrt, wird er sich vielleicht noch melden.
Am 1.6.2011 schickte mir Peter Hiemann den folgenden Text, den ich hiermit als Nachtrag veröffentliche:
Am 1.6.2011 schickte mir Peter Hiemann den folgenden Text, den ich hiermit als Nachtrag veröffentliche:
Spektrum der Wissenschaft hat im Juni 2011 versucht, mit Artikeln zur Philosophie der Physik und Biologie zur Klärung des Wesens der Natur beizutragen.
Der Professor für Wissenschaftsphilosophie Michael Esfeld widmet sich einer Hypothese, dass es sich bei quantenphysikalischen Superpositionen und Zustandsverschränkungen um Dispositionen der Natur handelt. Er glaubt, dass Karl Poppers Vermutung zutreffend sein könnte: Quantenmechanische Wahrscheinlichkeiten können als Maß für die Neigung (Propensität) interpretiert werden, dass Objekte der Natur zu bestimmten Wirkungen tendieren. Esfeld bezieht sich speziell auf den spontanen Zerfall radioaktiver Atome, deren Wirkungen keiner äußeren Ursache bedürfen.
Der Artikel beginnt vielversprechend, dass der Autor dem Ziel verpflichtet scheint, „die natürliche Welt als Ganzes zu ergründen“. In dem Artikel habe ich nichts über spezifische physikalischen Dispositionen erfahren, die sich durch spezifische Quanteneffekte manifestieren, wie etwa das Verhalten von Photonen in dem Spaltexperiment. Ich war sogar gespannt, ob Esfeld eine Sicht der Quantenwelt hat, die Bohrs und Heisenbergs Kopenhagener Deutung dieser Welt ersetzt. Bohr und Heisenberg erkannten den nicht-deterministischen Charakters von quantenphysikalischen Naturvorgängen. Wer wie Esfeld die natürliche Welt als Ganzes ergründen möchte, wird auch nicht umhin kommen, Dispositionen für hoch energetische physikalische Prozesse im Kosmos in seinen Hypothesen zu berücksichtigen. Verglichen mit Erwin Schrödingers Betrachtungen eines Physikers zum Phänomen Leben zeigt Esfelds Beitrag zum Thema „Wesen der Natur“ lediglich dessen Neigung zu tendenziellen Spekulationen über „naturphilosophischen Holismus“.
Der Professor für Philosophie Marcel Weber glaubt, dass seine Forschungsergebnisse über „Kausalitäten in der Zellbiologie“ einen wesentlichen Erkenntnisgewinn zur Molekularbiologie einer Zelle darstellen. Weber geht davon aus, dass die heutigen Biologen und Neurobiologen „Gene und DNA als einzige Informationsträger in einem Lebewesen ansehen“. Diese Behauptung trifft nicht zu. Viel mehr konzentrieren sich seit langem Biologen auf die Interaktionen zwischen Molekülen innerhalb der Zellen und zwischen Zellen verschiedener Organe. Insbesondere befassen sich Biologen mit den komplexen Phänomenen der Plastizität des menschlichen Immunsystems und des Gehirns. Bereits Darwins Evolutionshypothese postuliert die Interaktionen eines Lebewesens mit seiner Umwelt ohne von der Existenz der DNA ausgehen zu können. Weber vertritt eine mir unbekannte „Developmental Systems Theorie“. Nach Wikipedia:
Development systems theory argues that not only inheritance but evolution as a whole can be understood only by taking into account a far wider range of ‘reproducers’ or ‘inheritance systems’ – genetic, epigenetic, behavioural and symbolic – than neo-Darwinism’s ‘atomic’ genes and gene-like ‘replicators’.
Diese weitreichende Sicht von Evolution ist durchaus angebracht. Auch ich vertrete die Auffassung, verschiedene menschliche Evolutionsprozesse zu berücksichtigen: biologische, geistige und gesellschaftliche. Da sich diese verschiedenen Evolutionsprozesse gegenseitig beeinflussen, ist es verlockend hinter den Abhängigkeiten ein „System“ zu vermuten und mutig, ein solches System zu postulieren. Das scheint Weber zu versuchen und spricht von „kausaler Demokratie“ in einer lebenden Zelle oder in einem lebenden Organismus. An anderer Stelle spekuliert er gar über die Existenz einer „Entwicklungsmatrix“, die „die Gesamtheit aller Faktoren umfasst, die es braucht, um neues Leben in Gang zu setzen“.
Die Development Systems Theorie wurde 1985 von der New Yorker Psychologin und Wissenschaftsphilosophin Susan Oyama begründet. Obwohl der Ansatz vielversprechend ist, scheint er sich nicht als Methode bei den wissenschaftlichen Akteuren bewährt zu haben. Ich lasse mich aber gern eines Besseren belehren. Mir scheint, dass sich die Natur nicht in ein System zwängen lässt. Evolution ist nicht berechenbar.
Übrigens bin ich in einem anderen Zusammenhang gelegentlich auf Roman Jakobson, einen der prägendsten Strukturalisten des 20. Jahrhunderts, aufmerksam geworden. Er arbeitete strukturalistische Zeichen-, Sprach- und Kommunikationstheorien aus. Nach Jakobson bedeutet Strukturalismus, Phänomene als ein strukturiertes Ganzes zu betrachten und die statischen oder dynamischen Gesetze des jeweiligen Systems freizulegen. Nach diesem Prinzip verfahren auch Physiker und Biologen. Bei Philosophen, von Ausnahmen wie Thomas Menzinger abgesehen, bin ich mir nicht so sicher. Jakobson war sich in zwei Dingen sicher:
- Die Überwindung der Statik, die Vertreibung des Absoluten, das ist das wesentliche Pathos der neuen Zeit.
- Die Gegenüberstellung von Synchronie und Diachronie war eine Gegenüberstellung von Systembegriff und Evolutionsbegriff. Sie verliert ihr prinzipielles Gewicht, sofern wir anerkennen, daß jedes System notwendig als Evolution vorliegt und andererseits die Evolution zwangsläufig Systemcharakter besitzt.
Erläuterung: Diachronie und Synchronie werden in den Fachwissenschaften als separate, sich methodisch ausschließende Ansätze betrachtet. Dem möchte ich hinzufügen: Evolution bedeutet, dass sich auch Charaktereigenschaften eines Systems zwangsläufig verändern.
Gerhard Börners Essay zur Frage „Naturwissenschaft in der Sackgasse“ gibt es nichts Kritisches hinzuzufügen. Er begreift den Menschen mit seinen Einschränkungen als Produkt der biologischen Evolution. Der Mensch erkennt heute, dass „die Lebenswissenschaften derzeit vor der Aufgabe stehen, der Komplexität ihres Gegenstandes und ihren Ansprüchen, Unmessbares und Unwägbares zu quantifizieren, gerecht zu werden.“ Die Physiker immerhin können mit ziemlicher Gewissheit die Phasen der „materiellen Evolution“ nachzeichnen: strukturloser Urzustand – verschiedene Elementarteilchen – leichte Atomkerne – Wasserstoffatome – Galaxien mit Sternen, Planeten. Danach entstand Leben auf der Erde einschließlich uns selbst. Börner denkt, dass „Fragen, die sich mit physikalischen Methoden allein nicht untersuchen lassen, unweigerlich in metaphysische Bereiche führen.“ Immerhin ist er aber offen und optimistisch für Forschungen der Biologie (Genetik) und Neurowissenschaften. Man weiß heute, dass „die Dinge eben komplexer sind als zunächst vermutet. „Leben“ ist nicht einfach auf wenige Grundeigenschaften zu reduzieren wie die Materie.“
Börner ist sich bewusst, dass der heutige Forschungsbetrieb ziemlich industrialisiert ist und die meisten staatlichen Fördergelder „auffrisst“, ohne dass entsprechende neue Erkenntnisse, außer im technisch wissenschaftlichen Bereich, entstehen. Er hofft, dass auch Forschungsvorhaben, die gegen den eingefahrenen Betrieb schwimmen, von staatlicher Förderung nicht ausgeschlossen werden. Seine Hoffnung in Ehren, es klingt aber eher nach einem frommen Wunsch. Wie dem auch sei, die Natur und mit ihr die Wissenschaft war und ist immer für Überraschungen gut.
Hans Diel schickte mir heute (am 4.6.2011)den folgenden Kommentar:
AntwortenLöschenIch bin beeindruckt von Peter Hiemanns Sachkunde und von der Sachlichkeit, mit der er die Artikel kommentiert. Das ist doch besser als die Oberflächlichkeit und Polemik, die sich zum Teil bei meinen Kommentaren zeigte. Anscheinend sieht er jedoch die Entwicklung der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten auch weniger kritisch als ich (und Herr Endres?) dies tun. Ich möchte meine Kritik noch einmal zusammenfassen. Dabei gehe ich von Hiemanns Bemerkung aus, die für mich den Kern des Problems erfasst: "Man weiß heute, dass die Dinge eben komplexer sind als zunächst vermutet".
Ich habe den Eindruck, dass man dies tatsächlich weitgehend erkannt hat, aber unterschiedlich darauf reagiert. Neben den Wissenschaftlern, die (wie z.B. Einstein, Heisenberg) hartnäckig weiter nach der großen und eleganten Lösung suchten , oder anderen (wie z.B. Feynman), die auch unser begrenztes Verständnis diagnostiziert haben, aber sich damit begnügt haben Fortschritte in wichtigen Teilgebieten zu erarbeiten, gibt es anscheinend einen stärker werdenden Trend zu fragwürdigen Reaktionen und Entwicklungen. Ich versuche mal eine (überspitzte ) Klassifizierung.
1. Da gibt es Kosmologen und Physiker, die für alles Unverstandene (z.B. Dynamik der Expansion des Universums) schnell eine Theorie liefern, die es aber anscheinend nicht stört (sondern eher freut?), dass ihre Theorie nicht falsifizierbar ist.
2. Dann gibt es die (mathematischen) Physiker, die die Komplexität ihrer Theorien nicht stört, sondern die Gefallen finden an der Komplexität, solange diese Komplexität mit interessanter Mathematik formuliert werden kann.
3. Die Philosophen versuchen den Anschluss zu halten und meinen man könnte die Komplexität verständlicher machen (oder verschleiern?), indem man elegante gedankliche und sprachliche Konstruktionen erfindet. Beispiel: Aus der Entdeckung, dass Entwicklungen unterschiedliche Wahrscheinlichkeit haben, macht man ein "Maß für die Neigung (Propensität)".
4. Es gibt auch die scheinbar ganz raffinierte Lösung, die darin besteht, unser stagnierendes mangelhafte Verständnis plus einige wilde Spekulationen schon als die "Erklärung für Alles" zu betrachten und das Aussortieren aus der Vielfalt von offenen Möglichkeiten einem wohlklingenden Prinzip (z.B. Antropischen Prinzip) zu überlassen.
Meine Beschreibung ist vermutlich überspitzt und vermutlich impliziert Wissenschaft und Forschung notwendigerweise ein wenig von all dem oben beschriebenen. Aber nicht nur ich scheine den Eindruck zu haben, dass die Entwicklung zunehmend bedenklicher wird. Was mich persönlich am meisten stört, ist die Arroganz, mit der diese "Modeschöpfer" (ein Begriff von Unzicker) ihre Theorien vertreten. Aus der Erkenntnis "Man weiß heute, dass die Dinge eben komplexer sind als zunächst vermutet", sollte meiner Meinung nach mehr Bescheidenheit folgen