Freitag, 6. Mai 2011

Drei Buchtipps für philosophisch Interessierte

Mein Ex-Kollege und Freund Peter Hiemann in Grasse sandte mir gestern drei Buchbesprechungen, die vielleicht auch meine Leserinnen und Leser interessieren. Mit seiner freundlichen Einwilligung gebe ich seinen Text im Folgenden wieder. Peter Hiemann würde sich über Kommentare freuen. Sie können diese an diesem Blog-Eintrag anbringen. Im Falle, dass Sie in direkten Kontakt treten möchten, gebe ich Ihnen auch seine E-Mail-Adresse.


Das erste Buch ist von Norman Doidge: „Neustart im Kopf – Wie sich unser Gehirn selbst repariert“. Doidge befasst sich ausführlich mit dem Phänomen der Plastizität der Gehirnstrukturen. Ich war schon länger überzeugt, dass das Gehirn das wohl flexibelste Organ des Menschen ist. Zumindest ließ sich das auf Grund der Flexibilität menschlichen Verhaltens vermuten. Die Gehirnanatomie ist allerdings davon ausgegangen, dass lokale Bereiche fest definierten Gehirnprozessen zugeordnet werden können. Die Neurologen sprechen von „Lokalisationstheorie“. In gewissem Rahmen trifft das auch zu, zum Beispiel für Sehen, Hören, Sprechen, Sensormotorik und vieles mehr. Was aber auch zutrifft ist, dass das Gehirn äußerst plastisch ist, um unter gewissen Umständen existierende Gehirnbereiche „umzufunktionieren“. Diese Eigenschaft der Gehirnstrukturen ist ein Phänomen, das in der Evolution der Natur ziemlich spät aufgetreten sein muss. Allerdings weit früher als das von Metzinger postulierte Phänomenale Selbstmodell. Für mich sind die von Doidge dokumentierten Erkenntnisse auch eine gute Erklärung für den außerordentlichen Lebenslauf der Person Helen Keller, die mit 18 Monaten Gehör- und Sehsinn verlor. Trotz Verlust so wesentlicher Sinnesorgane vermochte ihr Gehirn  geistige Leistungen einer hochgebildeten Person zu vollbringen. Das Beispiel Helen Keller referiere ich zur Zeit in einem Essay über das Thema „Triumph des Bewusstseins“. Die Erkenntnisse über Plastizität der Gehirnstrukturen lassen sich meines Erachtens auch auf plastische Eigenschaften anderer biologischer, geistiger und gesellschaftlicher „Systeme“ übertragen.

Das zweite Buch, das meinen Überlegungen dienlich war und ist, stammt von Wolf Schneider: „Wörter machen Leute – Magie und Macht der Sprache“. Wolf Schneider ist  bekannt als ehemaliger Chefredakteur der WELT und Leiter einer renommierten Journalistenschule. Schneider fragt nicht nur, was wir mit der Sprache anstellen (das  ist sein Beruf), sondern auch, was die Sprache mit uns anstellt. Die menschliche Sprache ist ein kulturelles Phänomen, das sich formalen Analysen entzieht, weil es ein dynamischen Phänomen und Resultat geistiger Evolution ist. Und vor allem spielt Sprache auch eine entscheidende Rolle für Überlegungen hinsichtlich evolutionärer Phänomene einer Gesellschaft. Übrigens war meine ursprüngliche Motivation für Schneiders Buch, meinen Schreibstil zu verbessern. Umso angenehmer war ich überrascht, in Schneider einen profunden Kenner von Autoren kennenzulernen, die sich mit gesellschaftskritischen Themen auseinandergesetzt haben und heute auseinandersetzen. Er widmet auch ein kritisches Kapitel Kunstsprachen und struktureller Linguistik. Die Plastizität von Sprache und deren evolutionäre Geschichte bietet viel Stoff, „lebende Systeme“ mit mehr als rationalen Kriterien zu beurteilen.   


Das dritte Buch hat Karl-Heinz Brodbeck geschrieben. Es heißt: „Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie – eine philosophische Kritik der modernen Wirtschafts­wissenschaften“. Brodbeck war mir in einer Scobel-Sendung aufgefallen und ich versprach mir von ihm eine kompetente Sicht der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, die man unter der Überschrift „Ökonomie“ zusammenzufassen pflegt. Umso mehr war ich überrascht, in Brodbeck einen Autor zu finden, der meine evolutionären Ansichten erweitern hilft.  Brodbeck vermittelt eine historische Sicht, wie sich namhafte Autoren um einen wissenschaftlichen Ansatz für die Behandlung ökonomischer Situationen bemüht haben. Und Brodbeck ist sich sicher: Ökonomie handelt von der „sozialen Wirklichkeit, was Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit der Natur und untereinander bewirken.“ Brodbeck kritisiert, dass die Wirtschaftswissenschaft von der Annahme ausgeht, dass  ökonomische Gesetze existieren, die vergleichbare Gültigkeit wie physikalische Gesetze haben. Auch statistische Verfahren wie in der Thermodynamik angewandt haben deshalb keinen Platz in der Wirtschaftswissenschaft. Ebenso wenig gelten in der Ökonomie Erhaltungssätze und Betrachtungen zum Erreichen von Gleichgewichtszuständen.  Es hat sich längst erwiesen, dass ökonomische Vorhersagen, die  mit „wirtschafts­wissen­schaftlichen“ Methoden „berechnet“ wurden, zu keiner Zeit realen  gesellschaftlichen Verhältnissen  entsprochen haben. Wirtschaftswissenschaft gehört zu der Kategorie „Sozialwissenschaften“. Die Behandlung ökonomischer Tatbestände kann nicht auf soziale Strukturen verzichten, die gemeinhin nur Menschen zugeschrieben werden: Recht, Sprache, Wirtschaft, Technik usw.  

Übrigens hat mich Brodbeck darauf hingewiesen, dass der Begriff Evolution in vielfältiger Weise verwendet wird. Erich Jantsch ist der Meinung: „Gott ist nicht absolut, sondern er evolviert selbst – er ist Evolution“. Ich halte es eher mit Karl-Heinz Brodbeck: „Es ist gerade die Instabilität, die eine Evolution überhaupt erst ermöglicht. Ferner führen Fehler der Reproduktion zu Mutationen (eine qualitative Form der Instabilität), die mit dem Gleichgewichtsbegriff nicht zu erfassen sind. Der Mensch selbst ist insofern eine Störung des natürlichen Gleichgewichtes; seine Weise zu produzieren ist jene Störung des „ökologischen Gleichgewichts“, das er gleichwohl bewahrt wissen möchte.“ 

Die Studien der aufgeführten Bücher haben bei mir bewirkt, die modernen Versuche der Systemtheorie in einem anderen Licht zu sehen. Statt nach geheimnisvollen Prinzipien der Selbstorganisation zu suchen (zum Beispiel auch nach der unsichtbaren Hand des Marktes), genügt es vermutlich, Phänomenen der Plastizität aller Couleur unter die Lupe zu nehmen.

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